Einsame Spitze

Eine junge Frau mit Rock, Bluse und soliden Stiefeln an den Füßen läuft mit einem Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht zielstrebig auf den linken Bildrand zu. Ihre Hände halten die Träger eines Rucksacks fest, doch überraschenderweise gehören sie zu den Engelsflügeln auf ihrem Rücken. Es wirkt, als müsse sie die Flügel festhalten, damit diese ihr nicht vom Zurückbleibenden, dem sie zu entspringen versucht, abgerissen werden. Durch ihre energische Laufbewegung konnte sie sich im oberen Teil bereits davon lösen, aber an ihrem linken Flügel und ihrer linken Schuhsohle klebt es hartnäckig fest.

Der Titel mag sich auf die Frau beziehen, die im Kampf gegen die ihr anhaftenden Strukturen „einsame Spitze“ ist. Er kann sich aber auch auf das Spitzendeckchen beziehen, das ohne die Frau eine einsame Spitze sein wird.

Die sich in die Länge ziehenden Fäden des Garngeflechts suggerieren, dass sie bisher fest mit dem Spitzendeckchen verbunden gewesen war. Die Verstrickungen der Vergangenheit – dem Deckchen nach waren sie mal kleiner gewesen – sind übergroß zu einer Bedrohung und einem Gefängnis geworden. Die ursprünglich perfekten, aber starren Strukturen haben sie offenbar wie eine Fliege in einem Spinnennetz festgehalten. Damit sie gemäß ihrer Engelsnatur leben und handeln kann, ist es not-wendig, panikartig zu fliehen, alles Altbekannte entschieden abzustreifen und den Sprung ins Haltlose und unbekannte Dunkle zu wagen.

Die Kreisstrukturen der Spitzendecke lassen vermuten, dass ihr Leben immer wieder im Kreis verlaufen ist. Hat sie vielleicht den Ausbruch gebraucht, um sich weiterentwickeln zu können? Spitzenmäßig gebunden konnte sie ihre Flügel nicht gebrauchen. Doch nun scheint sie fliehen und sich losreißen zu können, wodurch auch der Abflug in neue Sphären möglich scheint. Die Dunkelheit vermag allerdings keine Antwort zu geben, wohin sie die Flucht bringen und wie die neue Freiheit aussehen wird.

Doch woher hat sie die Kraft für diesen Befreiungsschlag, was beflügelt sie derart, dass sie nichts mehr halten kann? Ist es das Ziel vor Augen, welches sie das schier Unmögliche vollbringen lässt? Der Glaube an das Mögliche, die feste Überzeugung, dass es ein anderes Leben geben muss? Ein Leben, das von der Freiheit geprägt ist, dieses selbst zu gestalten? Vielleicht hat sie ähnlich wie der blinde Bartimäus ihre Bitte nach Freiheit an Jesus herangetragen und von ihm auch die Antwort erhalten: „Geh! Dein Glaube hat dich gerettet.“ (Mk 10,52)

In dem Fall könnte die Flucht vom Althergebrachten – denn die Spitzenarbeit steht nicht nur für das Kunsthandwerk und die Lebensgestaltung unserer Ahnen, sondern auch für deren Strukturen und Traditionen – nicht aus eigener Kraft, sondern wie es die Flügel andeuten, aus der engen Verbundenheit mit Gott gelingen. Die verbleibenden, anhaftenden Fäden lassen allerdings auch durchblicken, dass wir unsere Vergangenheit nie ganz abstreifen können, dass sie wie auch immer ein Teil unseres Lebens bleibt und dieses weiterhin prägt. Der Blick darauf und der Umgang damit werden durch den Glauben an Jesus gewandelt und relativiert. Jesus selbst antwortet auf die Frage des Petrus, wer denn noch gerettet werden könne: „Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen. Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser und Brüder, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben. Viele Erste werden Letzte sein und die Letzten Erste.“ (Mk 10,29-31)

Das ist einsame Spitze.

Schritte in die Weite

Der Blick des Betrachters geht mit zwei Fußspuren durch eine angedeutete Türöffnung in einen schmalen, langen Raum, dessen Rückwand perspektivisch leicht nach rechts aus dem Zentrum verschoben wurde. Die farbigen Flächen wirken plakativ, symbolisch. Der Raum mit dem braunen Boden, den roten Seitenwänden und der gelben Rückwand erscheint ohne Fenster, Türen und ohne Decke wie eine ausweglose Sackgasse.

Diesen imaginären Raum hat ein Mensch barfuß betreten. Die weißen Abdrücke bilden einen seltsamen Kontrast zu den anderen Bildelementen. Der abstrakte Raum erhält durch diese Spuren etwas Menschliches. Eine menschliche Präsenz wird spürbar. Der braune Boden lässt an Erde denken. Der Ort hat etwas Grabähnliches. Doch die roten Wände pulsieren voller Leben und sie können wie symbolische Hände der Liebe gesehen werden, die den Verloren-Geglaubten umfassen und ihm Halt geben, die den Erkalteten und Erstarrten wärmen und in ihm neues Leben zirkulieren lassen.

Auch die sonnengelbe Rückwand mit der Leiter signalisiert, dass dieser Raum kein Ort des Todes ist, sondern der Auferstehung und des Lebens. Es führt über die Leiter ein Weg ins Freie und in die Weite durch den, der von sich sagte: „Ich bin die Tür, ich bin der Weg, ich bin die Auferstehung und das Leben“: JESUS!

ER ist es, der zu den Angehörigen von kürzlich Verstorbenen, wie zu Jairus oder der Schwester des Lazarus, sprach: „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ (Mt 5,36) ER ist es, der zu den Verstorbenen selbst sagt: „Talita cum – Steh auf!“ (Mt 5,41; vgl. Joh 11,1-45) ER lässt die Worte aus Psalm 18 immer wieder Wirklichkeit werden: „Er führt mich hinaus ins Weite.“ (Vers 20) „Du schufst weiten Raum meinen Schritten“ (Vers 37). Jesus ist im Symbol des feinen Türbogens ins Bild gebracht. Durch ihn wird die Wahrnehmung positiv verändert, die Sicht auf das Kreuz wird im Symbol der Leiter wieder auf das Leben geweitet, denn er sagt: ICH sage dir: Steh auf! ICH führe dich ins Weite – in die Weite des Lebens!

 

Die Arbeit von Thomas Lauer war bis zum 18. Oktober 2022 in der Gemeinschaftsausstellung “Talita kum – steh auf!” Theodosius Akademie im Kloster Hegne am Bodensee ausgestellt.

Beflügelndes Miteinander

Leben ist diesem vermutlich intuitiv entstandenen Bild eingeschrieben. Leben ohne Vorgabe, ungebundenes, freies Leben! Lebendigkeit, die sich in der spielerischen Entfaltung von Strichformen und Farbakzenten, in der freien Bewegung und dem geselligen Miteinander äußert.

Das helle und fröhliche Bild kann auf ganz unterschiedliche Weise betrachtet werden. Nachfolgende Zugänge können eröffnende Impulse sein.

Welcher Strich, welches Lebenszeichen, mag wohl der erste auf der Leinwand gewesen sein? Wo fand ein zweiter Strich seinen Platz, als Ausgleich und Partner zum ersten? Welcher Strich ergänzte dieses Paar zu einem Trio bzw. zu einer Familie? Auf welche Weise verdichteten sich die Striche bis nach und nach das komplexe Gefüge einer (Farb- und auch Lebens-) Gemeinschaft entstand? Welche Striche sind bei der Entstehung der Komposition übermalt worden und haben dabei die Farbe gewechselt?

Die vielen Pinselstriche verunmöglichen wie bei einem Schneegestöber einen Blick in die Tiefe. Während vorne die starken Farben wirken, verwirbeln die schwächeren nach hinten. Die unterschiedliche Intensität ermöglicht umgekehrt ein Auftauchen oder Erscheinen der Farben, indem die Pinselstriche mit zunehmender Farbigkeit in den Vordergrund rücken und über den anderen Strichen zu schweben scheinen.

Diese lebensfrohe Komposition durchziehen fast unmerklich Bewegungen, die durch farb- und formbedingte Verdichtungen entstanden sind. Sie äußern sich in vielfältigen Bezügen, Farbintensivierungen, Aneinanderreihungen, Gruppenbildungen. So bilden zwei „Linien“ – ausgehend von den unteren Ecken – über der Bildkante eine in das Bild hineinführende Dreiecksform. Darüber, leicht nach rechts verschoben, eine Ansammlung von gelb-orangen und violetten Strichen, die eine Kreisform ohne feste Mitte bilden. Zudem schwingt ein großer Bogen von der rechten unteren Ecke links um die Kreisform herum zur rechten oberen Ecke hoch. Nicht zuletzt finden sich in der linken oberen Ecke gelb-orange Striche dicht beieinander. Einen Akzent bildet der vielfarbig schräg angelegte blau-weiße Strich in der oberen Mitte. Er wirkt in seiner Umgebung von gelben und weißen Strichen wie ein Ruhepol im Fluss der Farben, wie ein „Aufhänger“ oder Anker bei gedanklicher Unruhe. Ein spiegelbildliches Gegenüber oder „Dialogpartner” findet er in der gelbrot übermalten dunkelblauen Spitze des Dreiecks unten.

Es ist ein Tanz der Farben auf der Leinwand, bei dem jeder Strich voller Kraft und Dynamik für sich selbst stehen könnte und ein eigenes Kunstwerk bildet. In schier endloser Kombination steht jeder farbige Pinselstrich mit den anderen im Dialog und zusammen entwickeln sie eine Dynamik, die im Miteinander über sich selbst hinauswächst: beflügelnd, begeisternd, beseelend, bestärkend, belebend, bewegend. Durchdrungen und getragen von Dem, der das Leben selbst ist und es mit Seiner Liebe erfüllt.

In dem Sinne könnte das Gemälde ein Sinnbild einer Gesellschaft sein, die aus Individuen, wechselnden Gruppen und deren Interaktionen besteht. Einer Gesellschaft, in der durch die Liebe erbauende und einende Kräfte wirken, welche die vielen auseinanderstrebenden Gruppen zu einer Gemeinschaft verbinden. Ganz wie der Apostel Paulus Gläubige in Kolossai ermahnt: „Vor allem bekleidet euch mit der Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist! Und der Friede Christi triumphiere in euren Herzen. Dazu seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes. Seid dankbar!“ (Kol 3,14-15) Wer so lebt, wird – wie jeder Pinselstrich im Bild – Spuren voller Leidenschaft, spontaner Lebenszeichen, tiefgründiger Freude hinterlassen, die das Miteinander beflügeln.

Lebenslinien

Ordnung und Chaos begegnen sich in dieser Zeichnung gleichermaßen. Der helle Grund weist gewebte oder zumindest gleichmäßig verdichtete Strukturen auf, während einzelne Fäden sich nach vorne und nach oben in freier Bewegung davon ablösen.

Die durchaus konkreten Linien wirken andeutend, raumschaffend, durchlässig. Der faserige Strich deutet einen Faden an und lässt ein textiles Gewebe erkennen. Soll damit eine textile Verwicklung oder vielmehr eine sich in Freiheit entwickelnde Bewegung gezeigt werden? Eine sich in die Freiheit hinausbewegende Entwicklung? Aus dem festen Grundgewebe hinaus in haltlosen Freiraum? Eigene Wege suchend, eigene Bewegungen, eigene Farben und Strukturen? – Die Möglichkeit besteht.

Der Ausreißer hinterlässt im Grundgewebe eine Lücke, eine Ausdünnung oder Schwachstelle. Darüber erhebt sich der sich lösende und immer dunkler werdende Strich in freier Bewegung … und hinterlässt eine chaotische, ungeordnete, nicht einzuordnende Spur. So wird der Ausreißer zum Außenseiter, zu einem schwarzen Schaf. Der Ausbruch hat einen Schaden angerichtet, beim einen wie dem anderen.

Aber der Faden scheint nicht getrennt zu sein. Da besteht noch eine Verbundenheit mit dem Ursprung oder der Herkunft. Eine Nabelschnur zur „Mutter“ oder dem „Vater“. Es ist eine aus dem festen Gefüge ausgebrochene Lebenslinie, die eigene Wege sucht, eigene Bereiche erkundet, Welten entdeckt und sich da einbringt.

Entwicklungen und Veränderungen im familiären Sozialgefüge können hier gesehen werden. Eltern geben eine Lebensgrundlage. Doch Kinder brauchen eine fast grenzenlose Ungebundenheit und Freiheit von ihren Eltern, um ihren eigenen Lebensentwurf gestalten zu können. Im Bild kann das so gedeutet werden, dass zum Betrachter hin und am oberen Bildrand Freiräume sind, also „Luft nach oben“ besteht. Ist das Loslassen der Eltern nicht ein Vertrauensbeweis in ihre Kinder und deren Fähigkeiten, der diesen über Raum und Zeit hinweg wieder Verbundenheit und Halt gibt?

Die Arbeit von Karl Schleinkofer mutet wie eine grafische Darstellung des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn an, der mit dem Einverständnis seines Vaters und seinem ganzen Erbe in die Ferne gezogen ist und später, als dieses verbraucht war, als Armer wieder zum Vater zurückkehrte, weil doch eine Verbundenheit geblieben ist.

Ebenso kann durch die Hervorhebung einzelner Fäden in der Zeichnung sehr schön ein Grundprinzip unseres Glaubens meditiert werden: Der Glaube bildet im Leben des Gläubigen eine haltgebende Grundlage, die ihm ermöglicht, individuell seiner Berufung nachzugehen und diese in das Gesamtgefüge der Gesellschaft einzubringen. Die Linienführung macht deutlich, dass es ein Suchprozess und damit kein einfacher Weg ist, der auch dunkle und schmerzvolle Zeiten kennt. Die Interaktion der verschiedenen Linien machen aber auch deutlich, dass gerade dadurch eine Tiefe und Spannung ins Bild kamen, die dem „Lebens-Bild“ wie einem guten Essen eine besondere Würze geben.

Diese und viele unveröffentlichte Arbeiten von Karl Schleinkofer waren im Februar 2020 im Museum Moderner Kunst Wörlen in Passau in der Ausstellung “Arnulf Rainer und Karl Schleinkofer” zu sehen.

Die eigene Lebensmelodie finden

Ein Cello scheint aus einem vage umrissenen Farbraum herauszufliegen oder herauszuspringen. Gleichsam aus einer hintergründigen Gebundenheit in eine vordergründige und damit primäre Freiheit hinausgeworfen zu werden. Im Vergleich der beiden Formen scheint das Instrument zudem eine Transformation durchgemacht zu haben, die der Umsetzung einer Idee oder eines Gedankens in eine konkrete Tat gleicht: die Verwandlung von einer Andeutung hin zur Klarheit eines Cellos.

Der Raum, dem es entspringt, ist rechteckig und genau so klar gefasst wie das Instrument selbst. Doch das Instrument bricht aus diesem flächig geraden Raum aus. Neu bildet es einen eigenen, geschwungenen Raum, einen Klangraum, der durch die betonte Vertikale und die versetzt wiedergegebenen Instrumentenhälften in die Höhe zieht. Formal wird den vielen feinen waagrechten Linien zudem eine starke, leicht diagonal gesetzte Linie entgegengesetzt, ähnlich wie die Saiten beim Bespielen des Instrumentes durch den Bogen gekreuzt werden, um Töne zu erzeugen.

Es geht bei der Darstellung also nicht um den banalen Rausschmiss eines Instrumentes, bei der die Linien links vom Cello wie in einem Comic sichtbar gemachte Bewegung oder Geschwindigkeit andeuten. Die unbeschriebenen Notenlinien laden vielmehr ein, auf dem Cello seine eigenen Töne zu finden und so lange zu spielen, bis sich daraus eine Melodie ergibt und mit der Zeit ein Lied entsteht.

Ob es verwegen ist, nach der Bedeutung des Hintergrunds und der Identität des Instruments zu fragen? Das intensive Blau bringt unergründliche Tiefe ins Spiel, das warme Rot, das es zu beiden Seiten begleitet, vermag unendliche Liebe anzudeuten. Beide Farben werden gleichsam durch die Öffnung im Rechteck gesehen und finden sich im Instrument abgeschwächt wieder. Zusammen mit den „goldenen“ Notenlinien bilden sie einen doppelten Dreiklang, der in den intensiven Farben Gott als ungeschaffene Schöpferkraft thematisiert, im Cello den Menschen als konkrete Schöpfung. Als Abbild des Schöpfers geschaffen, Wesentliches von ihm beinhaltend, und doch ganz anders. Berufen, mit der erhaltenen Gestalt und den mitgegebenen Talenten das Beste zu machen. Alle seine Saiten und Seiten zu bespielen, die göttliche Farbe stark werden zu lassen … durch die eigene Lebensmelodie.

Das aus der Öffnung im Rechteck hervor- und auch seitlich aus dem „Rechteck“ heraustretende Cello deutet Freiheit an. Es kann eigene Wege gehen. Es kann eigene Töne entwickeln und spielen. Doch wie es auf der rechten Kante des „Rechtecks“ gemalt ist, suggeriert es auch, dass die besten Töne oder die schönsten Melodien in Verbindung (religio) mit dem Ursprung oder der Herkunft entstehen.

FREIGEGEBEN

Im Schutzraum Deiner Werkstatt
von Dir in die Hände genommen
angeschaut
gehört immer wieder gehört
zurechtgerückt behutsam gereinigt
gewachsene Fasern erspürt
und in Beziehung gesetzt
den eigenen Ton in jeder Schwingung erkannt
bestätigt
mit Lack versiegelt
die Saiten aufs Neue gespannt
gestimmt
und zum vollen Klingen gebracht

Freigegeben

damit Du mit mir die Noten schreibst:
das Lied meines Lebens
und ich spiele

auf befreitem Grund

(Sr. Christamaria Schröter)

Das Motiv kann als Faltkarte mit Textblatt und Kuvert Nr. 7839 beim Verlag Christusbruderschaft bezogen werden.

1 freier Mensch

Das Bild ist ein Abbild von einer dreidimensionalen Arbeit. Dies wird insbesondere durch die mittige Unterschrift auf der rechten Seite und die breiten seitlichen Ränder (in der Wiedergabe im Internet schlecht sichtbar) deutlich. Als Betrachter blicken wir also durch das im Offsetdruck multiplizierte Abbild auf das Original, das aus einem Blatt Papier, einem Tannenzweig, etwas Farbe und einem gelben Holzrahmen besteht.

Als Papier wurde die Rückseite eines Kalenderblattes verwendet. Unten sind gut die Perforierung und die halbrunde Ausbuchtung für die Aufhängung zu sehen. Damit erhält die Arbeit einen ersten Bezug zur Zeit, auch wenn die konkrete Zeitangabe verborgen bleibt. Damit beweist der Künstler zum ersten Mal seine Freiheit im Umgang mit den verwendeten Materialien. Er verwendet ein abgelaufenes Kalenderblatt, das er mit einer zweifachen Drehung einer neuen Aufgabe zuführt und wie durch eine Zeitenwende hindurch einem unbestimmten, offenen Zeitrahmen zuführt.

Ein Tannenzweig dominiert die Mitte des Blattes. Der feingliedrige Zweig erscheint als Strichmännchen mit gespreizten Beinen, einer gekrümmten Wirbelsäule und erhobenen Armen. Der Kopf ist am wenigsten ausgebildet. Eine Kopfform ergibt sich aber durch die Verdichtung von vier Verästelungen über der zentralen Vertikalen. So kann ein froher und tanzender Mensch darin gesehen werden, ein Mensch, der sich frei bewegt. Im Zusammenhang mit dem grünen Tannenzweig können aber auch weihnachtliche Gedanken aufsteigen, so dass im Tannenzweig mehr ein liegendes Kleinkind wahrgenommen wird. Mit dem Tannenzweig schafft der Künstler einen zweiten Bezug zur Zeit. In ihm wird das Wachsen und Erstarken genauso wie die Vergänglichkeit sichtbar. Zum einen im noch kräftigen Grün, zum anderen in den heruntergefallenen Nadeln, sie sich im Rahmen hinter dem Glas ansammeln. Auch hier schuf er aus dem Tannenzweig etwas völlig anderes.

Über dem Zweig malte der Künstler in dunklem Rot zudem „1 freier“ und darunter „mensch“, zusammen also „1 freier mensch“. Dies kann als Deutung des Tannenzweiges gelesen werden, aber auch im Bezug zum Künstler, der den Materialien in kreativer Freiheit eine neue Sinngebung gab. Seine künstlerische Unabhängigkeit bringt er auch in der Schrift zum Ausdruck. So schreibt er die Eins als Ziffer, schreibt „Mensch“ klein, unterstreicht aber dieses Wort. Durch die Platzierung von „freier“ oben im Bild erhält dieses Wort zudem etwas Geistiges, Ungebundenes, während das unterstrichene Wort „mensch“ unten im Bild geerdeter wirkt. Die Zahl „1“ steht wiederum mit dem singulären Tannenzweig in Beziehung und erhöht im Gegensatz zur Beliebigkeit des Wortes „ein“ die Einzigartigkeit dieses „freien Menschen“.

Allerdings, wer könnte mit einem freien Menschen gemeint sein? Ist es wie bereits angesprochen der Künstler, der losgelöst von allen Konventionen frei gestaltet? Oder bezieht sich die Bezeichnung mehr auf Jesus? Er kann wegen dem Tannenzweig im Zusammenhang mit seiner Geburt gesehen werden, als Gottes Sohn, der den Menschen den Frieden brachte (vgl. Lk 2,14), im Bezug zur Schrift ebenso als einziger wirklich freier Mensch, der unbelastet von jeglicher Schuld handelte (vgl. Hebr 4,15). Diesbezüglich könnte auch der feine Rahmen mit seinem leuchtenden Gelb als unauffälliger Licht- oder Heiligenschein gedeutet werden.

Die Arbeit von Felix Dröse lässt noch einen weiteren Zugang zu. Die plakative Aufmachung kann auch als Spiegelbild und Vision von uns gesehen werden. „ Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, schreibt Paulus an die Gläubigen in Galatien (Gal 5,1). Als auf Christus Getaufte sollen wir als freie Menschen handeln und neue Wege gehen. Martin Luther (zu dessen 500. Jahrestages des Thesenanschlages die Wanderausstellung „Zeitgenössische Kunst zur Bibel“ lanciert wurde und dieses Blatt zur Ausstellung eingereicht wurde) war einer von vielen Persönlichkeiten, die im Hören auf den Heiligen Geist und die innere Stimme es wagten, kontrovers zu denken und zu handeln, und dadurch zur Erneuerung von Kirche und Gesellschaft beizutragen. Heute stehen wir in ihrer Nachfolge.

Das Buch zur Ausstellung: “Zeitgenössische Kunst zur Bibel”, Johannes Beer (Hrsg.), Kerber Verlag Bielefeld 2012, ISBN 978-3-86678-720-9, 22,50 × 22,50 cm, Seiten: 204 Seiten, 122 farbige und 6 s/w Abbildungen, Hardcover gebunden, Euro 29,95