Viele unterschiedliche Elemente verschmelzen in dieser Arbeit zu einem Bild. Neben- und übereinander angeordnet erzählen sie in vierzehn Stationen von Leiderfahrungen unter Chiles Militärdiktatur, welche die Künstlerin in Beziehung zum Leidensweg Jesu setzt. LEMA ist die Referenz an den Aufschrei Jesu am Kreuz: „Eli, eli, lema sabachthani?“ – „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ Das WARUM ließ die chilenische Künstlerin betroffene Frauen vor Ort besuchen und im Gespräch mit ihnen nach Erinnerungen suchen. Die vierzehn Arbeiten verstehen sich denn auch als Beitrag zum Prozess des Erinnerns, als Hilfestellung das Geschehene aufzuarbeiten. Dafür hat die Künstlerin Bilder, Farben, Linien und Materialien zu einer vielschichtigen Symbolik verdichtet.
Für den Bildgrund nähte Moreno Sánchez Bettlaken der chilenischen Frauen mit Krankentüchern aus Deutschland zusammen. Damit verwendete sie Stoffe, die von den Berührungen jener, die sie genutzt haben, geprägt wurden. Photographien des Tanzstückes „Paradise Twice“ bedecken die Bettlaken und verstärken das Geschehene. Sie zeigen Menschen, die loslassen müssen, deren Geliebter entzogen worden ist. Handschriftliche Namen erinnern an das konkrete Leid und den Schmerz vieler Frauen, deren Männer, Söhne und Väter 1973 von den Militärs entführt, gefoltert und getötet wurden und die erst 37 Jahre später erfuhren, was mit ihnen geschehen war. Gleichsam als Gegenpart zum Namen sind oben Teile des Motivs mit Goldfarbe nachgemalt worden: Erinnerung, die heilsam, wertvoll und kostbar werden konnte.
Im rechten Teil werden die Farben der Tanzszene in einer photographischen Reproduktion eines historischen Messgewandes intensiviert wieder aufgenommen. Das Kreuz, auf dem zentral „IHS“ steht, der Kurzform von Jesus, wird so mit den menschlichen Kreuzwegen unserer Zeit in Verbindung gebracht; das Messgewand steht so stellvertretend für die christliche Liturgie, in der für die Leidenden und die Verstorbenen gebetet wird. Der Druck wird von der Röntgenaufnahme eines menschlichen Brustkorbes überlagert. Das weiße, nahezu transparente Knochengerüst mit teils schwarzen Konturen erinnert an die Toten, an Knochen, die man den trauernden Frauen Jahrzehnte danach überreicht hatte. Auch der große braune Fleck – entstanden durch verschüttetes Leinöl – weist auf eine frühere Gegenwart und jetzige Abwesenheit eines Körpers hin. Krankentuch, Kreuz, Messgewand, Knochen und Fleck bilden eine geistige Gegenwart, die wie in einem Gottesdienst durch das geschaffene kollektive Gedenken ein Vergessen verunmöglicht.
Quer über das Bild steht mit unterschiedlichen Buchstabenabständen geschrieben: „T e n g o que s o b r e v i v i r.“ – „Ich muss überleben.“ Ein Wort, das von Lebenswille zeugt und von der chilenischen Schriftstellerin Diamela Eltit den leidtragenden Frauen in den Mund gelegt wurde und die konventionellen Bezeichnungen der Kreuzwegstationen ersetzt. Zwei feine gerade Linien, die auf der einen oder anderen Seite zusammenlaufen und an denen sich die Farben in Abstufungen brechen, verstärken subtil das jeweilige Bildthema. Sie sind nicht zu verwechseln mit dem Schnittmuster, welches jeweils die vorderste Person der Figurengruppe überlagert und eine Art Gegenpol zur Radiographie darstellen. Beide sind unsichtbare und doch essentielle Form- und Gestaltgeber, die Knochen für den menschlichen Leib, das Schnittmuster für das ihn umgebende Kleid.
So leben die vierzehn Arbeiten von der ihnen innewohnende Bedeutungsdichte. Sie sind primär Gedächtnis des in Chile geschehenen Gräuels. Darüber hinaus verweisen sie „auf ein Allgemeines, im traurigsten Sinne. Denn auch für die jüngste Zeitgeschichte und die Gegenwart gilt, dass überall auf der Welt Menschen verschwinden, dass gefoltert und getötet wird [z.B. Syrien]. Den Prozess des Bewusstwerdens, der Trauer und der Heilung will Lilian Moreno Sánchez durch ihre Kunst befördern. Das Eigentümliche dabei ist, dass dies geschieht durch das Wunder schöner Bilder.“ (Petra Giloy-Hirtz in ihrem Beitrag „LEMA. Identität und Gedächtnis“ im Buch LEMA, Kunstverlag Josef Fink, 2014, S. 13)