Kraftort

Das Dargestellte ist nicht einfach einzuordnen. Eigentlich gar nicht. Es durchquert das Bild in der horizontalen Mitte wie ein Wurm. Gleichzeitig „hängt“ das schlauchartige Gebilde irgendwie in der Luft, weil es sich mit seiner pastosen Verdickung nirgendwo in unserem Lebensraum verorten lässt.

Seine Gestalt ist nicht schön, vielleicht sogar unansehnlich. Es befremdet durch seine Andersartigkeit und fasziniert gleichzeitig durch seine glänzenden Farben. Inmitten der grauen Umgebung vermitteln sie etwas Wertvolles, ja Kostbares. Die vielen Äderungen, die von der Mitte ausgehend wie ein Wurzelgeflecht das ganze Bild durchziehen, verstärken den Eindruck, dass diese ungewöhnliche Mitte eine Art Kraftort bildet, von dem Leben ausgeht. Ein Kraftort mit dem Potential des Ungeschaffenen und Ursprünglichen. Organisch und voller Energie durchdringt seine Kraft die Umgebung, bricht sie auf und bereitet sie als Nährboden für das neue Leben. Die feinen Wurzeln und deren Farben lassen die Verwandlung in etwas ganz Neues erahnen. Etwas Neues, das einer Neuschöpfung wie am Anfang der Welt gleichkommt.

Die Künstlerin hat ihre Arbeit nach dem altgriechischen Wort ῥίζωμα rhizoma – „Eingewurzeltes“ benannt. Es bezeichnet in der Botanik eine meist unterirdische horizontale Sprossenachse, die vielen krautigen Pflanzen der vegetativen Vermehrung und Speicherung von Reservestoffen dient. Ihre wurzelähnliche Gestalt ist von Verdickungen – den Nodien – gekennzeichnet, wie z.B. beim Ingwer. Charakteristisch für Rhizome ist zudem, dass sie auch in kürzere Stücke geteilt alle genetischen Informationen beinhalten, damit aus ihren Knospen wieder ganze Pflanzen wachsen können.

Vieles in dieser Arbeit lässt an Jesus denken. An seine Ankündigung durch den Propheten Jesaia:

„Wer hat geglaubt, was wir gehört haben? Der Arm des HERRN – wem wurde er offenbar?
Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm.
Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht.
Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.“ (Jes 53,1-5)

Die Arbeit lässt auch über unsere Abstammung als Christen nachdenken, über unsere Verwurzelung in Jesus selbst. Das Rhizom erinnert an das Licht der Kerze, das beim Weitergeben nicht weniger wird. Das Rhizom trägt auch geteilt alle Informationen in sich, um an einem neuen Ort wieder Wurzel zu fassen und Frucht zu bringen. Das Symbol des Rhizom und die kostbare Ausführung mit Edelsteinpigmenten lassen den einzigartigen Auftrag aller Getauften spüren, aus der unverbrüchlichen Verbindung mit ihm seine Worte und sein Handeln in der Welt sichtbar und erlebbar werden zu lassen. Und so zu einer Ikone von Gottes lebensspendender Gegenwart werden.

Durchblick – Anblick

Schwer zu sagen, wohin der Blick durch diesen schwarzen Rahmen führt. Außen klar abgegrenzt verläuft der breite Strich am inneren Rand und geht verwaschen in das blaue Innenfeld über. Feine Linien in weißer bis golden brauner Farbe erfüllen diesen gewölbten Raum mit Leben, scheinen von unten wie Rauch aufzusteigen, wie geistige Feuerzungen den Raum zu füllen, wie Wasser einer dreifach gefassten Quelle zu entspringen.

Die Dreiviertelkreise in der unteren Hälfte umgeben eine Mitte, die nur von unten zugänglich ist. Dadurch wird die Tiefenwirkung verstärkt, der Blick durch den dicken, festen Tür- oder Fensterrahmen hindurch und weiter die drei Bögen in das Bild hineingezogen. Man kann nur eintauchen in die Tiefe und Weite dieser von Licht durchdrungenen blauen Farbe, sich berühren lassen von dem feinen Leben, das der geheimnisvollen Mitte kraftvoll und doch ruhig entströmt.

Ob man zu weit geht, wenn man in der innersten Umschreibung die Andeutung eines Kinderkopfes sieht, bei dem mit der Öffnung unsichtbar das Kinn suggeriert wird? Vielleicht wird mit dem Zwischenraum auch auf den Mund dessen hingewiesen, der Worte voller Weisheit sagte, ja das Wort selbst ist, das göttliche Wort. Sieht es nicht aus, als würde aus dieser in unendlicher Tiefe gründender Mitte unaufhörlich gegeben und wir dadurch stets empfangen?

So ist es letztlich kein Blick in die Ferne. Eher steht man beim Verweilen vor dieser Arbeit unmittelbar vor dem Antlitz Christi, das zurückhaltend von der Ausstrahlung seines Wesens umgeben wird. Ein Blick durch das Fenster in ein Haus, das alle Begrenzungen übersteigt, ein Blick auf den, der uns einlädt, einzutreten und ihm nachzufolgen, denn er selbst ist die Tür zu einem erfüllten Leben.

Er schaut mich an

Eingebettet in einen neongelben Farbrahmen, ist im Vordergrund ein gestaltetes Kreuz zu sehen, darüber gleich einer Lichterscheinung ein frontal dargestelltes Gesicht. Die Ecken und Ränder des Bildes weisen grauschwarze Schattierungen auf, so dass der Focus noch mehr auf das weiße Gesicht in der Bildmitte gelenkt wird. Seine Konturen sind verschwommen, doch die weit geöffneten Augen und der wie zum Pfeifen zugespitzte Mund sind klar zu erkennen. Daneben ist eine erhobene Hand mit einer großen Wunde zu sehen.

Wie das Gesicht über dem Kreuz angeordnet ist, muss es dasjenige von Jesus sein, der im Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel als „Licht vom Licht“ bezeugt wird. Wie aus dem Sonnenlicht tritt er uns in diffusem Weiß gegenüber. Als Sohn des Lichts und gleichzeitig als der Menschensohn begegnet er uns, entrückt und doch gegenwärtig, durch das Kreuz vom Betrachter getrennt und über es erhöht, uns doch nahe. So sind Jesu Herkunft und Aufgabe, sein Tod wie seine Auferstehung, seine Erhöhung ebenso wie seine Rückkehr zum Vater im Bild zu spüren. Zentral wird jedoch der Wendepunkt des Todes, der Auferstehung und des Abschieds von Jesus dargestellt.

Dunkel ragt der Kreuzstamm von unten in das Bild hinein. Das diesem Bereich eingeschriebene, schwarze Quadrat kann für vieles stehen. Es kann als Symbol für abgrundtiefe Nacht und Verlassenheit in den Todesstunden gedeutet werden, aber ebenso für das Grab oder den Zugang zum Reich des Todes, in das er hinuntergestiegen ist, um alle zu retten, die verloren waren. Die Kreuzmitte ist mit einem braunen Quadrat besetzt. Es sieht wie eine Öffnung aus. Kann es ein Symbol sein für den Übergang in eine andere Dimension, den wir uns nach dem Tod erhoffen? Darüber steht eine menschliche Gestalt mit ausgebreiteten Armen. Ob sie den Gekreuzigten oder bereits den zum Himmel Emporgehobenen darstellt, ist nicht einfach festzustellen. Da sie aber im oberen Teil des Kreuzes im Übergang zum Gesicht steht, mag sie eher den Auferstehenden darstellen, der noch die dunkle körperliche Schwere besitzt, sich aber bereits von allem Irdischen löst. In den waagrechten Kreuzesarmen mag rechts die Kälte des Todes bzw. des Winters dargestellt sein, links mit dem grünen Blätterpaar das aufkeimende Leben und die Hoffnung.

Von der Auferstehung kündet neben dem weißen Gesicht Jesu auch die erhobene Hand. Mit dem Wundmal offenbart sie dem Schauenden, dass Jesus wirklich der zum Leben auferweckte Gekreuzigte ist. Wie Jesus im Bild schaut und die Hand erhoben hat, erinnert er an die Begegnung mit den Jüngern nach seiner Auferstehung. Auch Thomas war dabei. Da trat Jesus durch die verschlossenen Türen hindurch „in ihre Mitte und sagte: Friede sei mit euch! Dann sagte er zu Thomas: Streck deinen Finger aus – hier sind meine Hände! Streck deine Hand aus und leg sie in meine Seite und sei nicht ungläubig, sondern gläubig! Thomas antwortete ihm: Mein Herr und mein Gott! Jesus sagte zu ihm: Weil du mich gesehen hast, glaubst du. Selig sind, die nicht sehen und doch glauben.“ (Joh 20,26-29)

Das durch und durch mit positiven Zeichen gestaltete Bild (auch das an sich negative Kreuz bildet eher ein Pluszeichen und ist von Verwandlung und Leben durchdrungen) vermittelt eine durch und durch von Ostern geprägte Ermutigung des Betrachters. Wie eine Ikone möchte es unseren Blick zur wahrhaftigen Begegnung mit Jesus führen, damit Sein Anblick bei uns Gutes bewirkt, heilt und ermutigt. Und ist sein Mund nicht so geformt, als würde er uns anhauchen und mit der Gabe des Heiligen Geistes beschenken? – Genauso wie er es damals mit seinen Jüngern gemacht hat, damit sie mutig in die Welt ziehen und in Tat und Wort seine frohe Botschaft verkünden? (vgl. Joh 20,19-23)

Im Heute sind wir seine Jünger. Von ihm mit Gaben beschenkt und befähigt, Gutes zu tun und Licht zu den Menschen zu bringen. Genauso wie Er.

Bereit

Mosaikartig gruppieren sich die verschiedenen Farbfragmente um die goldene Mitte. Über den erhöhten Rahmen fließen sie gleichsam in die Tiefe des zurückversetzten Mittelfeldes hinein.

In seiner Erscheinung und durch die Verwendung der kostbaren Naturpigmente erinnert das Bild an die Ikonen der Ostkirche. Nur sind in diesem Bild keine biblischen Szenen zu erkennen. Die Künstlerin blieb abstrakt. Dennoch … die Kraft der Farben wirkt im Kontrast zum Goldgrund und der perlenweißen Kontur, die sich in einem großen malerischen Gestus durch das Mittelfeld des Feldes zieht.

Die Farben und Formen deuten an, lassen vor dem geistigen Auge Bekanntes erscheinen und verhüllen es gleichzeitig geheimnisvoll (vgl. 2 Kor 13,12). Der weiße Pinselstrich lässt die Silhouette eines Kopfes im Seitenprofil sehen. Das Kinn leicht erhoben, schaut die Person nach rechts. Vom goldenen Grund durchdrungen scheint ihr Blick gar in die Ferne zu schweifen.

Eine Sehnsucht nach Hinwendung spricht aus den Farben und aus dieser Kopfhaltung. Eine Sehnsucht, sein Leben Gott, für den die goldene Farbe Symbol sein kann, hinzugeben, damit er es mit seiner Gnade füllen kann. Der Psalmist schreibt: „Mein Herz ist bereit, dein Gesetz zu erfüllen bis ans Ende und ewig.“ (Ps 119,112) Ein solches, von Gott durchdrungenes Leben wäre dann gewissermaßen vergoldet, erfüllt, geglückt. Strahlt sein Mund nicht ein zufriedenes Lächeln aus?

Wie als Antwort taucht aus dem vom weißen Pinselstrich eingerahmten Goldgrund ein weiteres Gesicht auf, das in die Gegenrichtung aus dem Bild herausschaut. Sind es die Augen, die Nase, der Mund des Auferstandenen, die uns barmherzig aus Gottes Herrlichkeit heraus anschauen, unserer Sehnsucht begegnend und ihr Halt und Ziel gebend?

Dieses Bild schenkt Zuversicht: Wir sind auf unserem Erdenweg nicht allein. Aus dem Bild spricht eine malerische Übersetzung der wunderbaren Worte, die Paulus zur Ermutigung an die Römer (8,18-19.22-30) schrieb: „Ich bin überzeugt, dass die Leiden der gegenwärtigen Zeit nichts bedeuten im Vergleich zu der Herrlichkeit, die an uns offenbar werden soll. Denn die ganze Schöpfung wartet sehnsüchtig auf das Offenbarwerden der Söhne Gottes. … Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Geburtswehen liegt. Aber auch wir, obwohl wir als Erstlingsgabe den Geist haben, seufzen in unserem Herzen und warten darauf, dass wir mit der Erlösung unseres Leibes als Söhne offenbar werden. Denn wir sind gerettet, doch in der Hoffnung. Hoffnung aber, die man schon erfüllt sieht, ist keine Hoffnung. Wie kann man auf etwas hoffen, das man sieht? Hoffen wir aber auf das, was wir nicht sehen, dann harren wir aus in Geduld. So nimmt sich auch der Geist unserer Schwachheit an. Denn wir wissen nicht, worum wir in rechter Weise beten sollen; der Geist selber tritt jedoch für uns ein mit Seufzen, das wir nicht in Worte fassen können. Und Gott, der die Herzen erforscht, weiß, was die Absicht des Geistes ist: Er tritt so, wie Gott es will, für die Heiligen ein. Wir wissen, dass Gott bei denen, die ihn lieben, alles zum Guten führt, bei denen, die nach seinem ewigen Plan berufen sind; denn alle, die er im voraus erkannt hat, hat er auch im voraus dazu bestimmt, an Wesen und Gestalt seines Sohnes teilzuhaben, damit dieser der Erstgeborene von vielen Brüdern sei. Die aber, die er vorausbestimmt hat, hat er auch berufen, und die er berufen hat, hat er auch gerecht gemacht; die er aber gerecht gemacht hat, die hat er auch verherrlicht.“