Betender

Von der Malerei her begegnet uns ein bewegtes Bild. Ob es uns auch inhaltlich zu bewegen vermag, muss sich erst zeigen. Denn zunächst geben die expressiven Pinselstriche und andeutenden Formen Rätsel auf. Sie laden unverkennbar zur Spurensuche ein.

Recht deutlich ist eine menschliche Gestalt zu erkennen: Kopf, Oberkörper, Arme, Hände. Sie ist halb dem Betrachter zugewendet und hat die Arme so angewinkelt, dass ein intensiver Blickkontakt mit den Händen entsteht. Doch Kopf wie Hände geben Fragen auf. Was hat das hinter dem mit weißen Pinselstrichen umrissenen Kopf liegende lindgrüne Gesicht zu bedeuten? Es zeigt ein sehendes Auge, während beim angedeuteten Kopf die Augen verbunden erscheinen. Und sind die Hände wirklich Hände? Zeigen sie nicht auch einen Kopf mit verbundenen Augen?

Zwischen den beiden ist ein intensiver Dialog mit alles durchdringenden Blicken zu spüren. Dabei wird der eine wie der andere „Kopf“ von einem roten Farbfeld hinterfangen, das an flammende Flügel denken lässt, an eine treibende und gleichzeitig haltgebende Kraft, die von außen ermutigt, weiter zu machen. Ist hier letztlich nicht eine Person dargestellt, sondern gar zwei? Ganz dunkel ist der Raum zwischen ihnen. Es ist, als würde sie etwas Schweres und Unbegreifliches verbinden. Das Zentrum bildet ein fast schwarzes Quadrat, das mit drei satellitenähnlichen rechteckigen Applikationen mit abstrakten Strichzeichnungen korrespondiert. Ob bewusst ein Bezug zum „Schwarzen Quadrat“ von Malewitsch hergestellt wurde, der ähnlich wie er damals die Empfindung der Gegenstandslosigkeit beim Betrachter hervorrufen wollte und gleichzeitig einen Bezug zu Gott und dem unfassbaren Nichts, aus dem Gott die Welt erschaffen hat, schuf?

Dieser schwarze Mittelpunkt der Arbeit ist vom weißen Arm teilweise umfangen. Durch parallele Strichstrukturen rechts oben im Bild wird der Eindruck erweckt, als wolle die „herzförmige“ Bewegung des Armes über sich hinauswachsen, hin zu dem blauen Bereich oben links, der als einziger im Bild mit der schwarzen Mitte in direkter Verbindung steht. So wird auch suggeriert, dass das, was in der absoluten Verborgenheit zwischen den beiden geschieht, etwas mit dem Himmel zu tun hat, einer Kraft, die über ihnen steht.

Betender nennt der Künstler seine Arbeit. Damit legt er eine Spur, doch die Unsicherheit bleibt. Ist eine allein betende Person dargestellt oder sind es nicht vielmehr zwei Personen, bei denen die Obere für die untere, eher liegende Person betet? Möglich ist auch die Hinwendung des Betrachters zu dem Unbekannten, ganz Anderen, der seine Identität hinter der Maske – Gott – verbirgt? Jedes ist ein schlüssiger Gedankengang. Michael Gollers Arbeit belehrt nicht im Sinne von „so ist es“ und verkündet keine unumstößliche Wahrheit. Vielmehr zeigt er Spuren und Wege, das Gewohnte als einzige Denk- und Lebensmöglichkeit zu verlassen und sich dem ganz Anderen und Unbekannten zu öffnen und zu nähern … als Betender.

Aus der Darstellung geht hervor, dass Beten nicht nur das Reden wie mit dem guten Bekannten von nebenan über unsere augenblickliche Befindlichkeit ist, über das, was man gerne hätte oder anders möchte. Beten ist hier ein Aufbrechen des menschlich Alltäglichen und das Einlassen auf den unbeschreiblich Anderen. Aus der Bewegtheit der Pinselstriche folgernd, ist es mit Ringen und Kämpfen verbunden. Es ist eine Auseinandersetzung mit einem Du, das für den Glaubenden im Bitten und Danken, sich Verschließen und Öffnen, Abwehren und Empfangen geschieht, mit einem Du, das doch immer geheimnisvoll nah gegenwärtig ist. Verbundenheit (religio) und Zuwendung sind aus diesem Dialog herauszuspüren. Und doch deuten die dunklen Stellen an, dass Beten auch immer wieder tastender Dialog und suchendes Gespräch ist. Bewegung, die in der Zuwendung zum unbeschreiblich Anderen über sich hinausgeht.

Durchbruch

Bewegung durchzieht das Bild in alle Richtungen. Sie verbindet kommunizierend das unten Liegende mit dem luftig Leichten im oberen Bereich und vollzieht sich in Leserichtung durch den Farbwechsel zum Licht. Die Mitte wird durch die gelbe Lichterscheinung betont, die von oben hereinzubrechen scheint.

Das Bild vermag den Tagesanbruch anzusprechen, bei dem das Licht siegreich aus dem Kampf mit der Dunkelheit hervorgeht. Dabei verdankt das Licht seine Kraft der Macht der Sonne. Letztlich ist sie es, die mit ihren Strahlen die Erde zärtlich berührt und aus dem Schlaf zu neuem Leben erweckt.

Liegt am Boden nicht eine menschliche Gestalt? Das Erdhafte, das auf oder im Boden Liegende, wird tornadoartig über eine kreuzförmige Himmelsleiter in die Höhe gerissen. Jakobs Traum (Gen 28,12-22) von der Treppe, die Erde und Himmel miteinander verbindet, wird sichtbar. Gott steht zu den Seinen, auch wenn sie sich in der Dunkelheit der Sünde oder des Todes zu verlieren scheinen. Gott steigt zu den Menschen hinab, um sie zu erlösen und durch seinen eigenen Kreuzesweg zum ewigen Leben zu führen.

So finden sich Jesu Tod und Auferstehung ebenso in diesem Bild wie seine Worte: „Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, wird leben, auch wenn er stirbt, und jeder, der lebt und an mich glaubt, wird auf ewig nicht sterben.“ (Joh 11,25-26) Diese Botschaft scheint das Kreuz in schlangenförmige, tanzende Bewegung zu versetzen und bringt Freude zum Ausdruck. Es ist nicht mehr Ort des Todes, sondern durch Jesus Durchgang zum ewigen Leben. Nach wie vor verbinden sich mit ihm dunkles Leid, Einsamkeit, irdisches Sterben. Durch Jesu Auferweckung von den Toten ist aber der Sieg über Sünde und Tod untrennbar mit dem Kreuz verbunden. Gottes Liebe hat den Durchbruch geschafft und neues, ewiges Leben für alle Glaubenden ermöglicht.

Noch sind die Spuren des Kampfes deutlich zu sehen: Das Durcheinandergewirbelte, Fragmentarische in der Bildmitte, das auch an Jakobs nächtlichen Kampf mit Gott erinnern mag, mit dem er rang, „bis die Morgenröte aufstieg“. Durch die Hüftverletzung lebenslang geprägt, ging er lebend aus dieser Gottesbegegnung „von Angesicht zu Angesicht“ hervor (Gen 32,25-31). Doch die Kraft von oben nimmt überhand und verwandelt übermächtig das ganze Geschehen. Das Kreuz darf vor Freude tanzen: Das Leid und der Tod sind überwunden, die Liebe und das Leben haben die Macht des Bösen und der Sünde gebrochen, durchbrochen, besiegt.

Dem Kreuz gegenüber steht eine lichte Säule. Sie erinnert einerseits an die Wolkensäule, die mit den Israeliten durch das Rote Meer zog und sie rettete (Ex 13,21-14,31), andererseits rückt sie den neuen, aufgerichteten Menschen ins Blickfeld. Wurzelt sie nicht am gleichen Ort wie die „Füße“ der liegenden Gestalt? Wir sind zum Licht berufen (Mt 5,14). Durch Christus leben wir. Unser Leben soll ganz und gar transparent auf IHN hin sein (vgl. Gal 2,20 „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“), damit ER durch uns sprechen kann.