Knospenkreuz

Während bei den sogenannten Astkreuzen der Gotik durch die astförmigen Kreuzbalken ein Bezug zum Baum des Lebens hergestellt wurde, verarbeitet dieses moderne Kreuz den Begriff gleichsam wörtlich: Der ganze Korpus von Jesus ist aus einem dichten Gewirr feiner Äste mit kleinen Knospen gebildet, die von Schnüren ergänzt und zusammengehalten werden. Seine Knie sind angewinkelt, seine Arme langgestreckt durch das Hängen am Holz. Eine Schnur mit Ast wächst wie ein Verbindungskabel aus dem Kopf: Ein direkter Draht nach oben? Oder eher das Tau eines Ankers in der Tiefe?

Hans Thomann hat in ähnlicher Größe und Art auch mit Stacheldraht oder Nato-Draht Kreuzfiguren hergestellt und mit dieser Serie einen eigenen „Kreuzweg“ geschaffen. Schon die Titel der Reihe lassen mystische Tiefe und Wandlung erahnen:
JESUS – Schmerz.ER.tragen
JESUS – Schmerz.Träger
JESUS – Schmerz.Wandl.ER
JESUS – hinter dem Schmerz

In der Figur „JESUS – hinter dem Schmerz“ sind die mörderischen Dornen und messerscharfen Widerhaken zu Knospen geworden. Die kleinen Kugeln stehen ab, greifen sich unbequem an, lassen aber neu begreifen, dass Tod und Leben in Christus ganz nahe beieinanderliegen und sich durchwirken. Sie machen deutlich, dass bereits in Christi Tod die vielfältigen Knospen des Lebens gegenwärtig sind und bereit aufzubrechen. In den scheinbar toten Ästen pulsiert schon das Leben, das mit den heranwachsenden Knospen und den sich daraus entfaltenden Blüten der ganzen Welt seine überwältigende Kraft zeigen will. Hinter dem Schmerz vergegenwärtigt die Vergangenheit als auch die Zukunft Schmerz und Erlösung zugleich. Die Figur lässt die Bedeutung des Schmerzes spüren und wendet den Blick auf das gerade dadurch Vollbrachte und Vollendete. So wird das „Knospenkreuz“ zum Träger der Hoffnung und der Zuversicht, wie sie auch im Gottesknechtslied vom Propheten Jesaja besungen wird:

„Wie sich viele über dich entsetzt haben – so entstellt sah er aus, nicht mehr wie ein Mensch, seine Gestalt war nicht mehr die eines Menschen …, Vor seinen [des Herrn] Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, / wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht. Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt. Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Vergehen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Züchtigung auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt. Doch der HERR hat Gefallen an dem von Krankheit Zermalmten. Wenn du, Gott, sein Leben als Schuldopfer einsetzt, wird er Nachkommen sehen und lange leben. … Nachdem er vieles ertrug, erblickt er das Licht.“ (Jesaja 52,14; 53,2-5.10a-c.11a)