Zwei Bildflächen stehen zueinander im Verhältnis von ein Drittel zu zwei Drittel. Dadurch befinden sie sich miteinander im Dialog. Doch was eint, was verbindet sie in ihrer doch sehr gegensätzlichen Sprache?
Der aus dem Dunkel aufragende Arm und die am Querbalken festgeschlagene Hand verbinden das rechte Bild unwillkürlich mit der Kreuzigung Jesu Christi. Auch wenn vom restlichen Körper nichts sichtbar ist. Wie bei einem Ertrinkenden ragt die weiße Hand aus der Nacht des Grauens. Die Finger sind weit gespreizt, als suchten sie Halt, als wollten sie erfasst werden. Es ist die rechte Hand. Die Hand des Grußes. Aus dem Nichts taucht sie auf, das Leben andeutend, im Wunder der Hand sich konkretisierend, entfaltend und gleich wieder im Tod verlierend. Denn steil fällt der Arm nach rechts ab. Wer hier hängt, der hängt tief, in undurchdringlicher Nacht versunken.
Diesem farblosen Bild hat der Künstler ein schmales, hohes Bild gegenübergestellt. Es ist vertikal im goldenen Schnitt unterteilt, unten schwarz, oben goldfarben. Abstrakt antwortet es auf die einsame Hand, unten die Dunkelheit aufgreifend, oben eine neue Dimension andeutend. Mit feinen weißen Linien versetzt, strahlt die schwarze Fläche Ruhe aus. Soll damit die Ruhe und Erschöpfung nach dem Kampf angedeutet werden?
Wolkenartig bewegt erhebt sich darüber die einzige farbliche Betonung. Eine aufsteigende Dynamik ist spürbar, Licht, das noch nicht direkt sichtbar ist, doch durch eine Wolkenschicht durchscheint. Auferstehung wird angedeutet, Aufnahme in den Himmel, Verklärung des Leidens. Ist parallel zur Hand, im Verlangen der Finger, nicht ein lichter Abglanz von ihr wahrnehmbar, gleichsam im Herzen der goldenen Erscheinung? – Die Hoffnung, der Trost, dass alles menschliche Leiden Gott nicht unberührt lässt, sondern im Innersten zutiefst bewegt und dadurch in seine Herrlichkeit überführt.
Grundlage für dieses Diptychon ist eine siebenteilige musikalische Komposition über das Leiden Jesu durch Dietrich Buxtehude (1637-1707). In seinem Passionszyklus „Membra Jesu nostri patientis sanctissima“ (1980) folgt er den von Schmerzen geprägten Körperteilen des Gekreuzigten, beginnend bei den Extremitäten, den Füßen (Detailbild), aufsteigend zu den Knien und Händen, dann den Oberkörper betrachtend, zuerst die Seite, dann die Brust, vertiefend das Herz. Zuletzt schaut er ins Antlitz Jesu, in das gekrönte Haupt voll Blut und Wunden.
Für die sieben mehrstrophigen Hymnen bediente er sich einer der beliebtesten Passionsdichtungen jener Zeit, der „Rhythmica oratio“ von Arnulf von Löwen. In der Betrachtung der Hände heißt es:
Was sind das für Wunden
mitten auf deinen Händen?
Sei gegrüßt, guter Hirte,
erschöpft im Todeskampf,
der du durch das Holz gemartert bist
und an das Holz geschlagen bist
mit angespannten heiligen Händen.
Ihr heiligen Hände, ich umfasse euch,
Dank sage ich den so großen Schlägen,
den harten Nägeln,
den heiligen Blutstropfen,
mit Tränen küsse ich euch.
Von deinem Blut benetzt
übergebe ich mich dir ganz,
diese deine heiligen Hände
sollen mich beschützen, Jesus Christus,
in den letzten Gefahren.
Was sind das für Wunden … (Wiederholung)
So wie Dietrich Buxtehude den betrachtenden Worten von Arnulf von Löwen die unsichtbare musikalische Dimension beigefügt hat, so hat Johann P. Reuter den konkreten Körperteilen eine abstrakte Größe gegenübergestellt. Damit setzt er auf seine Weise das zeitlich Vergängliche in Beziehung zum Unvergänglichen: Das Greifbare versus das Unbegreifliche, die Temperauntermalung versus den Goldgrund, die Endlichkeit versus die Unendlichkeit, den Tod versus das ewige Leben.