mir geschehe

In einer blau-weißen Fläche sind zwei ausgebreitete Flügel oberhalb von zwei gekreuzten Händen zu sehen. Totale Offenheit und Fülle stehen so einer ebenso grenzenlosen Hingabe und Verfügbarkeit gegenüber. Als drittes Element führen von unten sich erhebende Falten wie Felsklippen aus der grünen Ebene aufsteigend zu den ebenfalls nach oben weisenden Händen. Alle Elemente sind Öffnungen oder Durchblicke auf das unter der Übermalung liegende Geschehen der Verkündigung des Engels Gabriel an Maria, dass sie den Sohn Gottes empfangen und gebären werde.

Reinhild Gerum hat dazu eine Postkarte mit der Abbildung der Verkündung an Maria im Genter Altar von Jan van Eyck mit Wachsstiften so übermalt, dass diese Übermalung (mit Kratzstrukturen) wie ein Vorhang das meiste verdeckt und die auf wenige Elemente reduzierte Darstellung das Geschehen verdichten. Der „Vorhang“ mit dem schönen symbolischen Farbverlauf (von oben nach unten) rot (Liebe) – blau (Himmel) – weiß (Vergeistigung) – grün (fruchtbare Erde) bringt die Worte des Engels zum Ausdruck: „Heiliger Geist wird über dich kommen und Kraft des Höchsten wird dich überschatten. Deshalb wird auch das Kind heilig und Sohn Gottes genannt werden.“ (Lk1,35)

Im Zentrum des Geschehens bewegen die Hände den Betrachter. Die Haltung der beiden Hände bildet zugleich eine Herzform, um damit das darunter liegende unsichtbare Herz anzudeuten, aus dessen Regung und Hingabe heraus Maria geantwortet hat: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie Du gesagt hast.“ (Lk 1,38)

Diese Antwort erscheint zudem in kaum lesbaren Schriftbild links über den Händen. Die gotische Schrift, die lateinische Sprache, eine auf dem Kopf stehende Schrift und die partielle Übermalung machen es dem Betrachter schwer, das „Ecce ancilla domini“ – „Siehe [ich bin] die Magd des Herrn“ lesen zu können. Aber gerade dadurch wird die Antwort Mariens stärker und aussagekräftiger: Was für den Menschen rätselhaft und unverständlich bleibt, soll für Gott, hier für den Heiligen Geist symbolisch in der Gestalt einer Taube dargestellt, gut lesbar und verständlich sein.

Ansichtskarten waren lange Zeit das Medium zum Versenden von Urlaubs- und Reisegrüßen von Orten mit Sehenswürdigkeiten. Reinhild Gerum greift diese Funktion in doppelter Hinsicht auf. Durch die Verwendung einer Postkarte als auch durch das Verkündigungsmotiv trägt sie die sensationelle Botschaft weiter. Durch die Übermalung des tradierten Bildmotivs hat sie es zudem personalisiert und aktualisiert. Sie hat die gegenständliche Darstellung von Jan van Eyck, die in manchen Bereichen noch leicht durchschimmert, durch die Übermalung in den Hintergrund rücken lassen und durch die Konzentration auf wenige Elemente spirituellen Freiraum für den Betrachter geschaffen, damit Gedanken und Visualisierung zur eigenen Berufungserfahrung aufsteigen können.

Diese und 999 weitere Postkarten von Reinhold Gerum waren bis zum 6. Januar 2020 im Kultum, dem Kulturzentrum bei den Minoriten in Graz in der Ausstellung Fein bist du, Sicht! – 1000 Kunstkarten zu sehen. Zur Ausstellung erschien ein Katalog, der im Kulturzentrum für 15 Euro bezogen werden kann.