Eine in ein blaues Tuch gewickelte Frau steht im Dialog mit dem Licht hinter einem raumteilenden Vorhang. Sie hat ihn ein wenig zur Seite geschoben, so dass sie unentwegt das blendend weiße Licht schauen kann. Dieses scheint auf der linken Seite so stark, dass es den Vorhang durchdringt und diesen gleichsam entmaterialisiert. Vom energiegeladenen Lichtereignis führt die Bewegung im Bild über den ausgestreckten Arm und die Falten des blauen Wickeltuches in die dunklere Ecke rechts unten, in der sich hinter der Ferse der Frau – die Wellenlinien ihrer Körperkontur aufnehmend – eine Schlange windet. So gibt es im Gemälde ein dunkleres Diesseits, von dem aus die junge Frau den Blick wie von einer Bühne in ein unbeschreibliches Jenseits wagt.
„Maria“ nennt die Künstlerin das Bild, das die Frau „voll der Gnaden“ ganz anders als gewohnt und doch sehr treffend darstellt. Anders ist der moderne Kontext, in dem sie zwischen Licht und Schatten steht, dem „lichten“ Ruf folgend sich Gott zuwendet und dem Bösen und der Versuchung (in Gestalt der Schlange) widersagt. Treffend ist sie in ihrer Mittlerposition zwischen Gott und der Welt wiedergegeben. Es bleibt offen, im Bild die „Verkündigung an Maria“ zu sehen, die beispielhafte „Nachfolge Mariens“, eine Andeutung der „Himmelfahrt Mariens“ oder auch den „Apokalyptischen Kampf“.
Verkündigung
In traditionellen Darstellungen wird Maria vom Engel „heimgesucht“ – oder auch: „daheim besucht?“ Die Initiative liegt beim von Gott gesandten Engel, Maria verhält sich passiv bejahend (vgl. Lk 1,28-38). Hier scheint es so, als würde Maria aktiv einem Impuls der Neugier folgen, indem sie vorsichtig den Vorhang öffnet, um zu sehen, was sich dahinter verbirgt, während der Engel nicht personifiziert dargestellt ist. Wer könnte dem wehren, da Maria mit so großer Zartheit und Unschuld wie beiläufig den Vorhang beiseiteschiebt, nicht ahnend, dass sie damit eine Grenze überschreitet, die über ihren Daseinsbereich hinausgeht: Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz, endlichem Raum und Zeitlosigkeit. So wird mit dem geöffneten Vorhang gleichzeitig eine höhere, heilsgeschichtliche Ebene angedeutet: Die bisher absolut geltende Grenze zwischen Gott und Mensch – für die auch der Vorhang stand, der in der Stiftshütte das Volk Israel vom Allerheiligsten trennte – wurde mit der Menschwerdung Gottes geöffnet.
Nachfolge
Durch das über ihrem rechten Arm hängende halbtransparente Tuch wird die Schwangerschaft Marias angedeutet. So kann sie als Gott schauende Christusträgerin gesehen werden. Sie erkennt in Jesus Gottes Sohn und sein Licht und folgt ihm daraufhin ihr Leben lang. So steht das Bild für die radikale Veränderung ihres Lebens, aus der eine lebenslange Haltung und Orientierung resultiert: Vorbildlich das Licht und damit das Gute im Blick zu behalten und das Leben aus dieser Grundhaltung heraus zu gestalten.
Aufnahme in den Himmel
Ihr gewagter Blick ermöglicht eine Vorschau dessen, was sie am Ende ihrer Tage erwarten wird: Vom Licht, das sie in sich aufgenommen und getragen hat und dem sie durch alle Höhen und Tiefen hindurch treu gefolgt ist, aus dem Tod erhoben, umarmt und in Ewigkeit gehalten zu werden.
Machtkampf
Ebenso finden sich Hinweise auf die schwangere Frau auf den Wolken, deren Kind vom Drachen bedroht wird (Offb 12,1-6). Der neutrale Boden wirkt durch die Schattierungen und Lichtreflexe wie ein Wolkenmeer über einer Wüstenlandschaft, es kleidet sie zwar kein Sonnenlicht, doch das starke Licht ist da und der Drache wird durch die Schlange symbolisiert. Es ist ein stiller Machtkampf zwischen Gut und Böse dargestellt, zwischen den Mächten des Himmels und der Erde, bei dem ganz klar das Licht gewinnt und die Schlange davonziehen muss. Vorbildlich hat Maria dem Reptil den Rücken zugewendet und ihre Augen zum Herrn erhoben, um ihn unentwegt zu schauen und ihr Heil von ihm zu erwarten (vgl. Ps 123).
Dieser gewagte und doch zuversichtliche Blick Mariens erhält durch den fast bildfüllenden Vorhang eine weitere Bedeutung. Während die rechte Hälfte von seiner braungrauen Farbigkeit her undurchdringlich erscheint, erstrahlt die linken Hälfte in einer zarten Farbigkeit von blauem und rotem Purpur und Karmesin und vermag dadurch auf den Vorhang im Offenbarungszelt (= Stiftshütte) zu verweisen, der das Heiligste vom Allerheiligsten mit der Bundeslade trennte (vgl. Ex 26,31ff; Ex 36,35), zu dem nur Aaron und seine Söhne Zugang hatten. Allen anderen war bei Todesstrafe der Zutritt verwehrt. Wie revolutionär mutet es nun an, wenn mit Maria eine Frau – der inneren Berufung folgend – es wagt, den Vorhang im „Tabernakel“ (lat. tabernaculum = Zelt, Hütte) mit sanfter Hand zur Seite zu schieben, um im Licht Gottes Herrlichkeit zu schauen und diese gleichsam über den Blick bejahend in sich aufzunehmen? Dadurch, dass die Künstlerin Maria ihre eigene Gestalt und eigenen Gesichtszüge gab, hat sie eine Brücke zur Gegenwart geschaffen und verstärkt die Einladung zur Nachahmung. Wir sollen wie sie die Erfahrung des Psalmisten erleben: „Meine Augen schauen stets auf den Herrn; denn er befreit meine Füße aus dem Netz.“ (Ps 25,15) Wir sollen wie sie erfahren: „Wenn wir offen sind für die Wirklichkeit Gottes, kann sich alles verändern.“ (Kardinal Marx)
Erstaunlicherweise zeigt sich Maria weder vom Licht geblendet noch erschrocken. Sie ist für die Begegnung mit Gott auch nicht besonders gekleidet. Barfuß und im übergeworfenen Umhang sieht es mehr danach aus, als sei sie eben aufgestanden, weil sie ein Klopfen oder Rufen gehört hat und nun mit dem Gewicht auf ein Bein verlagert gerade einen Blick nach draußen wagt, um den Rufer ausfindig zu machen. Maria geht einem Weckruf nach, Gottes Weckruf an uns. Alltäglich ruft Er uns aufzustehen, Ihn zu schauen, in Seinem Licht zu erkennen, was im Hier und Jetzt notwendig ist, und es mutig zu tun.