Gewagter Blick

Eine in ein blaues Tuch gewickelte Frau steht im Dialog mit dem Licht hinter einem raumteilenden Vorhang. Sie hat ihn ein wenig zur Seite geschoben, so dass sie unentwegt das blendend weiße Licht schauen kann. Dieses scheint auf der linken Seite so stark, dass es den Vorhang durchdringt und diesen gleichsam entmaterialisiert. Vom energiegeladenen Lichtereignis führt die Bewegung im Bild über den ausgestreckten Arm und die Falten des blauen Wickeltuches in die dunklere Ecke rechts unten, in der sich hinter der Ferse der Frau – die Wellenlinien ihrer Körperkontur aufnehmend  – eine Schlange windet. So gibt es im Gemälde ein dunkleres Diesseits, von dem aus die junge Frau den Blick wie von einer Bühne in ein unbeschreibliches Jenseits wagt.

„Maria“ nennt die Künstlerin das Bild, das die Frau „voll der Gnaden“ ganz anders als gewohnt und doch sehr treffend darstellt. Anders ist der moderne Kontext, in dem sie zwischen Licht und Schatten steht, dem „lichten“ Ruf folgend sich Gott zuwendet und dem Bösen und der Versuchung (in Gestalt der Schlange) widersagt. Treffend ist sie in ihrer Mittlerposition zwischen Gott und der Welt wiedergegeben. Es bleibt offen, im Bild die „Verkündigung an Maria“ zu sehen, die beispielhafte „Nachfolge Mariens“, eine Andeutung der „Himmelfahrt Mariens“ oder auch den „Apokalyptischen Kampf“.

Verkündigung
In traditionellen Darstellungen wird Maria vom Engel „heimgesucht“ – oder auch: „daheim besucht?“ Die Initiative liegt beim von Gott gesandten Engel, Maria verhält sich passiv bejahend (vgl. Lk 1,28-38). Hier scheint es so, als würde Maria aktiv einem Impuls der Neugier folgen, indem sie vorsichtig den Vorhang öffnet, um zu sehen, was sich dahinter verbirgt, während der Engel nicht personifiziert dargestellt ist. Wer könnte dem wehren, da Maria mit so großer Zartheit und Unschuld wie beiläufig den Vorhang beiseiteschiebt, nicht ahnend, dass sie damit eine Grenze überschreitet, die über ihren Daseinsbereich hinausgeht: Die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, Immanenz und Transzendenz, endlichem Raum und Zeitlosigkeit. So wird mit dem geöffneten Vorhang gleichzeitig eine höhere, heilsgeschichtliche Ebene angedeutet: Die bisher absolut geltende Grenze zwischen Gott und Mensch – für die auch der Vorhang stand, der in der Stiftshütte das Volk Israel vom Allerheiligsten trennte – wurde mit der Menschwerdung Gottes geöffnet.

Nachfolge
Durch das über ihrem rechten Arm hängende halbtransparente Tuch wird die Schwangerschaft Marias angedeutet. So kann sie als Gott schauende Christusträgerin gesehen werden. Sie erkennt in Jesus Gottes Sohn und sein Licht und folgt ihm daraufhin ihr Leben lang. So steht das Bild für die radikale Veränderung ihres Lebens, aus der eine lebenslange Haltung und Orientierung resultiert: Vorbildlich das Licht und damit das Gute im Blick zu behalten und das Leben aus dieser Grundhaltung heraus zu gestalten.

Aufnahme in den Himmel
Ihr gewagter Blick ermöglicht eine Vorschau dessen, was sie am Ende ihrer Tage erwarten wird: Vom Licht, das sie in sich aufgenommen und getragen hat und dem sie durch alle Höhen und Tiefen hindurch treu gefolgt ist, aus dem Tod erhoben, umarmt und in Ewigkeit gehalten zu werden.

Machtkampf
Ebenso finden sich Hinweise auf die schwangere Frau auf den Wolken, deren Kind vom Drachen bedroht wird (Offb 12,1-6). Der neutrale Boden wirkt durch die Schattierungen und Lichtreflexe wie ein Wolkenmeer über einer Wüstenlandschaft, es kleidet sie zwar kein Sonnenlicht, doch das starke Licht ist da und der Drache wird durch die Schlange symbolisiert. Es ist ein stiller Machtkampf zwischen Gut und Böse dargestellt, zwischen den Mächten des Himmels und der Erde, bei dem ganz klar das Licht gewinnt und die Schlange davonziehen muss. Vorbildlich hat Maria dem Reptil den Rücken zugewendet und ihre Augen zum Herrn erhoben, um ihn unentwegt zu schauen und ihr Heil von ihm zu erwarten (vgl. Ps 123).

Dieser gewagte und doch zuversichtliche Blick Mariens erhält durch den fast bildfüllenden Vorhang eine weitere Bedeutung. Während die rechte Hälfte von seiner braungrauen Farbigkeit her undurchdringlich erscheint, erstrahlt die linken Hälfte in einer zarten Farbigkeit von blauem und rotem Purpur und Karmesin und vermag dadurch auf den Vorhang im Offenbarungszelt (= Stiftshütte) zu verweisen, der das Heiligste vom Allerheiligsten mit der Bundeslade trennte (vgl. Ex 26,31ff; Ex 36,35), zu dem nur Aaron und seine Söhne Zugang hatten. Allen anderen war bei Todesstrafe der Zutritt verwehrt. Wie revolutionär mutet es nun an, wenn mit Maria eine Frau – der inneren Berufung folgend – es wagt, den Vorhang im „Tabernakel“ (lat. tabernaculum = Zelt, Hütte) mit sanfter Hand zur Seite zu schieben, um im Licht Gottes Herrlichkeit zu schauen und diese gleichsam über den Blick bejahend in sich aufzunehmen? Dadurch, dass die Künstlerin Maria ihre eigene Gestalt und eigenen Gesichtszüge gab, hat sie eine Brücke zur Gegenwart geschaffen und verstärkt die Einladung zur Nachahmung. Wir sollen wie sie die Erfahrung des Psalmisten erleben: „Meine Augen schauen stets auf den Herrn; denn er befreit meine Füße aus dem Netz.“ (Ps 25,15) Wir sollen wie sie erfahren: „Wenn wir offen sind für die Wirklichkeit Gottes, kann sich alles verändern.“ (Kardinal Marx)

Erstaunlicherweise zeigt sich Maria weder vom Licht geblendet noch erschrocken. Sie ist für die Begegnung mit Gott auch nicht besonders gekleidet. Barfuß und im übergeworfenen Umhang sieht es mehr danach aus, als sei sie eben aufgestanden, weil sie ein Klopfen oder Rufen gehört hat und nun mit dem Gewicht auf ein Bein verlagert gerade einen Blick nach draußen wagt, um den Rufer ausfindig zu machen. Maria geht einem Weckruf nach, Gottes Weckruf an uns. Alltäglich ruft Er uns aufzustehen, Ihn zu schauen, in Seinem Licht zu erkennen, was im Hier und Jetzt notwendig ist, und es mutig zu tun.

mehr als acht Frauen …

Eine Maueröffnung gibt den Blick auf acht Frauen frei, die rege miteinander im Gespräch sind. Offensichtlich haben sich drei Gesprächsgruppen gebildet. Auf der linken Hälfte blicken drei Frauen erwartungsvoll auf die dunkelhäutige Frau am linken Rand, auf der rechten Seite sind je zwei Frauen miteinander im Gespräch. Sie hören einander zu, sie diskutieren miteinander, es scheint ihnen um die gleiche Sache zu gehen.

Die acht Frauen sitzen um einen mit einem weißen Tuch (das faltige Leinentuch lässt an frühchristliche Darstellungen von mit Leinenbinden umwickelten Verstorbenen denken) bedeckten langen Tisch und teilen miteinander Brot und Wein. Die Gesprächsrunde erinnert an das Letzte Abendmahl, ohne dass es in irgendeiner Weise einen Verweis auf eine traditionelle Darstellung gibt. Keine der Frauen nimmt die Position von Jesus oder des einen oder anderen Jüngers ein. Die Frauen sind modern gekleidet, unserer Zeit zugehörig. Und dennoch vertritt jede dieser Frauen auf eine ihr eigene Art und Weise charismatisch die Sache Jesu.

Denn der goldfarbene Hintergrund ist nicht einfach Dekoration, sondern er lässt sie eindeutig als Gesandte Gottes auftreten. Schlicht und einfach, sympathisch, engagiert. So eben, wie in der Kirche über Jahrhunderte hinweg von engagierten Frauen der christliche Glaube als etwas Kostbares an die nächste Generation weitergegeben und in die jeweilige Zeit hinein tradiert bzw. übersetzt worden ist.

Auch die Zahl Acht wird diesbezüglich kein Zufall sein, sondern kann als Hinweis interpretiert werden, dass die Frauen es – so wie die Zahl Acht keinen Anfang und kein Ende hat – von Generation zu Generation tun. Eine zweite Interpretationslinie geht vom christlichen Symbolverständnis der Zahl Acht aus: Wie Sieben die Zahl des Vollständigen, Vollkommenen ist, so ist Acht die Zahl der Erneuerung, des neuen Anfanges, der Fülle. Der achte Tag ist der Tag der Auferstehung Jesu Christi und aller auf seinen Namen getauften Menschen, er ist der Tag der Ausgießung des Heiligen Geistes. Im Gegensatz zu dem, was alt und vergangen ist, verbindet die Schrift den achten Tag in besonderer Weise mit dem Anfang des Neuen und mit dem, was JETZT ist. Gerade durch das Zeugnis der Frauen erneuert sich der Glaube unentwegt.

Die Maueröffnung suggeriert, dass mit dem Fresko etwas, das jahrhundertelang verdeckt war, wiederentdeckt wurde: Dass Amtsträgerinnen in der frühchristlichen Kirche ganz selbstverständlich zum neuen Lebensentwurf und sozialen Miteinander dazugehörten und letztlich im „Untergrund“ der Amtskirche bis in unsere Zeit wesentlich zur Glaubensverkündigung und -weitergabe beigetragen haben. Ihnen wird im Fresko ein Gesicht gegeben – typischerweise wieder ganz hinten in der Kirche. Aber sind sie nicht die „Türsteherinnen“, welche wo, wie und wann auch immer ihren Mitmenschen von ihrem Glauben erzählen und sie mit in die Kirche hineinnehmen?

Das Fresko erinnert an die ungebrochene Bedeutung der Frauen für die Kirche, an den den Rückhalt, die Basis, die sie durch die Frauen erhält. Auf der Brüstung der Chor-Empore haben die Namen der Amtsträgerinnen, an die das Gemälde erinnern soll, sichtbar einen Platz erhalten: Maria Magdalena, Martha, Phoebe, Junia, Lydia, Thekla, Priska und Die Namenlose. Diese Apostelinnen, Diakoninnen und Prophetinnen waren zu Jesu Zeiten und in seiner Nachfolge hoch angesehen und übernahmen mit Autorität verantwortungsvolle Führungspositionen in den ersten christlichen Gemeinden. Ohne ihr Engagement und ihren Mut hätte sich die damals neue Religion nicht entwickeln können. Ohne das (un)glaubliche Engagement der Frauen zu allen Zeiten wäre die Kirche nicht das, was sie ist. Ja, die Kirche hätte wahrscheinlich heute ein ganz anderes Gesicht, wenn die Männer den Frauen mehr zutrauen und ihre Leistung mehr achten würden. Die Katholische Kirche sähe wahrscheinlich sehr viel humaner aus. Das Fresko in der Rückwand der Kirche von Therwil ist diesbezüglich ein weiterer leiser Hinweis, den Frauen in der Katholischen Kirche endlich den Platz zu geben, der ihnen gebührt.

Bibelstellennachweis: Maria aus Magdala (Lk 8,3; Mt 27,55f; Mk 16,1-5; Joh 20,11-18), Martha (Lk 10,38–42; Joh 11,17-44), Phoebe (Röm 16,1), Junia (Röm 16,7), Lydia (Apg 16,14), Thekla (Paulusakten), Priska (Röm 16,3-4)

Bericht auf der Website der Kirchgemeinde

Licht vom Himmelsthron

Unser Blick wird durch eine leicht abgewinkelte rechteckige Öffnung auf ein lichtes Geschehen geführt. In der rechten unteren Ecke sitzt eine junge Frau mit einem Kleinkind auf dem Schoß. Sie sind vom sonnengelben warmen Licht durchdrungen, der Kopf des Kindes ist umgeben von einem Heiligenschein. Auf sie beide zeigt von oben ein übergroßer Finger, der sich bald als Engel offenbart, dessen Flügel wie ein Strich auf Jesus und Maria deuten. In dieser Direktheit vermag man die Stimme Gottes zu hören, wie sie bei der Verklärung aus den Wolken zu den anwesenden drei Jüngern sagte: „Dieser ist mein geliebter Sohn, an dem ich Wohlgefallen gefunden habe; auf ihn sollt ihr hören“ (Mt 17,5).

Gleichzeitig ist man versucht, in dem Engel Gabriel zu sehen, der zu Maria hinuntersteigt und ihr ankündigt, dass sie auserwählt wurde, den „Sohn des Höchsten“ in sich zu tragen und zur Welt zu bringen. Das Kind wäre in diesem Fall eine Visualisierung des Zukünftigen.

Gegenüber von Jesus und Maria neigt sich auf der anderen Seite der bühnenartigen Darstellung eine dreiteilige Menschengruppe ins Bild hinein. Auch sie sind Randständige. Ihre Schräglage kann sich auf ihre Lebenssituation beziehen, aber auch als ein sich ins Licht hineingeben. Sie trauen sich, die Dunkelheit zu verlassen und sich vom Licht erfassen zu lassen. Damit neigen sie sich gleichzeitig Jesus zu und verneigen sich vor ihm. Denn das Licht, das vor ihnen her gezogen ist, weist nun in Gestalt eines Engels auf den lang Ersehnten und Gesuchten. Wunderbar ist die Offenheit, mit der die Künstlerin die Begegnung darstellt. Aus der Darstellung geht nicht hervor, ob es sich um die drei Könige handelt, die zu Jesus kamen, um ihm die Ehre zu erweisen und ihn anzubeten.

So klar die drei Personengruppen in einer Dreieckanordnung erkennbar sind, so werfen doch die beiden braunroten Elemente beidseits des Engels Fragen auf. Mit ihren dunklen Farben haben sie etwas Bedrohliches an sich, das über dem Kind schwebt. Sie muten wie Schatten oder Vorboten des Leids an, welches Jesus später zu ertragen und durchleiden hat. Links mag ein Kreuzesbalken angedeutet sein, rechts eine spitzige Waffe.

Überwältigend an diesem Bild ist jedoch das intensive, warme Licht. Es lässt die 3. Strophe des Adventsliedes „Tauet, Himmel, den Gerechten“ (GL 474) hören, in der es heißt: „Und in unsres Fleisches Hülle kommt zur Welt des Vaters Sohn. Leben, Licht und Gnadenfülle bringt er uns vom Himmelsthron. Erde jauchze auf in Wonne bei dem Strahl der neuen Sonne, bald erfüllet ist die Zeit, macht ihm euer Herz bereit! Bald erfüllet ist die Zeit, macht ihm euer Herz bereit!”

Marias Herz war bei der Ankündigung durch den Engel bereit gewesen. Durch ihr bedingungsloses Ja zu Gottes Willen wurde sie Mutter. Aus der Frau am Rande wurde sie zur Mutter von Gottes Sohn. Für uns Menschen ist sie Schwester. Und Vorbild zu unserem Ja zu Gottes Willen. Sie ist uns Hilfe auf unserem Weg der Erwartungen und der Suche, auf unserem Weg zu Gott …

Lassen wir uns hineinnehmen in die Gnaden-, Licht- und Lebensfülle vom Himmelsthron, mit der Jesus alle beschenkt, die Ja zu ihm sagen.

Aufgerufen mitzuwirken

Zwei Hände strecken sich dem Licht entgegen. Sie sind offen, bereit zu geben, vor allem aber zu empfangen. Nur mit Strichen dargestellt wirken sie transparent wie geistige Wesen. Sie erscheinen im Einklang mit dem Licht, ganz auf es ausgerichtet, ganz von ihm durchdrungen. Insbesondere die beiden weißen Lichtbündel treffen auf die Hände, berühren sie, enden in ihrer Durchdringung.

Die Armansätze führen mit einem Unterbruch zu einem amorphen Gebilde, das sowohl die Schulter eines Menschen als auch die Teilansicht einer etwas unförmigen Weltkugel sein kann. Im ersten Fall schaut der Betrachter jemandem über die Schulter. Da kein Kopf zu sehen ist, kann die Schulter im Bild aber auch zur Schulter des Betrachters werden, die beiden ausgestreckten Hände zu seinen eigenen. – Ein eigenartiges Gefühl, seine Hände vergeistigt im Licht zu spüren, von den beiden Lichtstrahlen quasi stigmatisiert. Aber vielleicht ist es auch ein schönes, beglückendes Gefühl, so angesprochen und befähigt zu werden.

Im zweiten Fall wirken die Hände als Ausdruck der ganzen Welt. In den asketisch-knöchrigen Fingern wie auch der Handhaltung liegen ein Bedürfnis, eine Geste des Bittens um Führung, um Erfüllung. Von der materialistischen Welt her gedacht, könnte man meinen, dass sich die Hände ins Nichts hinausstrecken. Doch die Farben Gelb und Orange umgeben und erfüllen die Hände mit einer Wärme und Festigkeit aus einer anderen Welt, die Halt und Zuversicht schenken.

Nach zehn dunkel gestalteten Kreuzwegbildern (ganzer Kreuzweg auf der Website der Künstlerin) bildet dieses Bild das erste von vier in warmen Gelbtönen gemalten Bildern, in denen die Hände eine zentrale Rolle spielen. Unwillkürlich mag einem dazu das Lied von Julie von Hausmann in den Sinn kommen: „So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich! Ich mag allein nicht gehen nicht einen Schritt; wo Du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit!“ Doch es geht nicht nur um den letzten, schwersten Weg durch den Tod hindurch. Die Bilder wollen den Betrachter jetzt anregen, seine von Gott erhaltenen Fähigkeiten aktiv für die Gestaltung seines Lebens und seiner Um- und Mitwelt einzusetzen. Diesbezüglich ist die ambivalente Gestaltung der „Schulter“ gelungen, denn es sind meine Hände, ich bin es, der oder die sich für das Gute in der Welt einsetzen soll. Letztlich sind wir alle angesprochen mitzuwirken. Wir alle sind von Gott aufgerufen, in der Nachfolge Christi unseren Beitrag zur Gestaltung der Welt zu leisten.

Nachfolge

Weiß-grau hebt sich das zentrale Bildereignis vom gelbroten Hintergrund ab. Menschliche Konturen sind zu erkennen, ein großes Auge, die Umrisse einer orthodoxen Kirche. Farblos erscheinen die Formen, unerfüllt, sie geben sich als leere Räume, die erst gefüllt werden müssen.

Durch die breite, grau schraffierte Fläche scheint die menschliche Gestalt sich nach links zu bewegen, der Kirche zugewandt. Wie bei einem gesprungenen Ei durchzieht eine gezackte Linie die menschliche Form – die durchaus auch für seine Seele stehen könnte – von oben nach unten und signalisiert Erschütterung, Zerrissenheit, vielleicht auch Aufbruch. Der rechten Seite nach zu schließen, ist ein Teil von ihr weggebrochen und hat eine tiefer liegende Schicht freigelegt, die in Verbindung mit der Kirche steht und von der diagonalen, schraffierten Fläche dominiert wird.

Was diese wie ein Berg ansteigende und an eine Felsoberfläche erinnernde Fläche wohl zu bedeuten hat? Gleichzeitig ergeben die sich kreuzenden Linien eine Gitterstruktur und lassen darin ein Netz erkennen. Könnte damit die Berufung des Petrus angesprochen sein, der vom Fischer zum Stellvertreter Christi auf Erden berufen worden ist? „Kommt her, folgt mir nach!“, sagte Jesus zu ihm und seinem Bruder Andreas, „Ich werde euch zu Menschenfischern machen.“ Worauf beide die Fischernetze liegen ließen und ihm nachgefolgten. (Mt 4,19-20)

Später sagte Jesus zu ihm: „Du bist Petrus, und auf diesen Felsen werde ich meine Kirche bauen, und die Mächte der Unterwelt werden sie nicht überwältigen.“ (Mt 16,18; vgl. Joh 4,42) Ein großer Auftrag, den Jesus dem einfachen Fischer anvertraute. Aber baut Gott letztlich nicht auf jeden von uns seine Kirche? Soll nicht bei jedem von uns der Glaube an Ihn so fest und widerstandsfähig sein wie Gestein? Sind wir nicht alle berufen, Zeugnis von unserem Glauben zu geben und als Menschenfischer für unseren Gott tätig zu sein?

Das Bild von Wolfgang Franken könnte also ein Bild jedes einzelnen von uns sein. Ein Bild der Berufung, bei der es gilt, „Farbe zu bekennen“ und dadurch viel leeren Platz aufzufüllen. Ein Bild der Erschütterung und der Zerrissenheit, die mit jedem Anruf Gottes einhergehen, weil er aus der vertrauten und dadurch oft auch bequemen Welt aufbrechen heißt, und das zudem mit dem anspruchsvollen Auftrag, sein Wort zu leben und zu verkünden, damit die kirchliche Gemeinschaft lebt und wächst. Zu guter Letzt könnte es auch ein Bild der Verwandlung sein. Wer Christus nachfolgt, wird zu einem neuen Menschen. Die goldene Fläche hinter dem Kopf lässt mit ihrem Glanz und ihrer Kostbarkeit an Gott denken, der rückenstärkend mit seinen Berufenen mitgeht, ihnen „Flügel“ verleiht und durch sie Seine heilige Gegenwart aufleuchten lässt. „Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir“, fasste Paulus seine Erfahrung im Brief an die Galater (2,20) zusammen.

“Gebt ihr ihnen zu essen”

Ein Einbaum und eine schwer zählbare Menge an Tellern bilden dieses Kunstwerk. Das Boot ist schmal und lang, seine Form kann als elegant bezeichnet werden. Die Teller liegen im Mittelteil des Bootes und neben dem Boot, so als würden sie aus dem Boot herausfließen oder wie von einem unsichtbaren Fischernetz gehalten ins Boot gezogen werden (Detailbild).

Eine ungewohnte Kombination! Und doch sind beides Gefäße und Transportmittel. Das Boot trägt Menschen und Waren über das Wasser. Auf dem Teller werden Speisen angerichtet und gegessen. Beide stehen im Dienste des Menschen, sei es zur Fortbewegung oder zur Nahrungsaufnahme.

In den verschiedenen biblischen Geschichten vom Fischerboot vereinigen sich die beiden Themen. Die Fischer fahren mit ihrem Boot hinaus, um Fische zum Essen zu fangen. Die Installation vergegenwärtigt diese Szene und erinnert gleichzeitig an Jesus, der Fischer in seine Nachfolge berufen hat (Mk 1,16-20). Das Boot und die vielen Teller spannen auch eine Brücke zur Brotvermehrung. Mit dem Boot war Jesus mit seinen Jüngern in eine einsame Gegend gefahren, um allein zu sein (Mk 6,30-33). Da ihnen jedoch viele Menschen folgten und Jesus sie lange unterrichtete, tauchte bald die Frage nach der Verpflegung auf. Die Jünger wollten die Menschen wegschicken, doch Jesus sagte zu ihnen: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ Sie machten sich auf und fanden im Volk fünf Brote und zwei Fische, über denen Jesus den Lobpreis sprach und die sie an alle verteilten. Zwölf Körbe mit Essensresten blieben übrig (Mk 6,37-44).

Doch von dieser Fülle ist im Kunstwerk außer der Vielzahl der Teller nichts zu sehen. Die Teller vor uns sind leer. Viele liegen verkehrt herum da, wie achtlos weggeworfen. Als Betrachter bleiben wir auf unserem Hunger sitzen.

Die Frage Jesu, die er nach seiner Auferstehung am See von Tiberias an seine Jünger gestellt hatte, könnte auch an uns gerichtet sein: „Habt ihr nicht etwas zu essen?“ Die Jünger antworteten ihm damals „Nein“, weil sie die ganze Nacht nichts gefangen hatten. Es ist, als hätten sie seinen Auftrag: „Gebt ihr ihnen zu essen!“ vergessen. Doch Jesus sagte zu ihnen: „Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus, und ihr werdet etwas fangen.“ Sie warfen das Netz aus und konnten es vor lauter Fischen nicht wieder einholen (Joh 21,1-6). Die Vielzahl der Teller erinnert an die 153 Fische (V.11), die symbolisch für die große Zahl der Gläubigen steht, welche die Jünger für Jesus gewinnen sollten.

Die Frage Jesu an die Jünger könnte unsere Frage an die Kirche sein: „Habt ihr nicht etwas zu essen?“ Eine geistige Nahrung, welche die ausgetrocknete Seele erquickt? Eine spirituelle Nahrung, welche den Geist belebt und ihn zu neuen Taten anspornt? Unser Hunger, unser Durst ist groß.

Sollten die Teller symbolisch für uns Menschen stehen, käme dem Material Blei eine besondere Bedeutung zu. Ohne religiöse Bindung, ohne Halt wären wir in Gefahr, in dieser Welt wie Blei im Wasser unterzugehen. Das Boot „Kirche“ und seine Mannschaft, die Glaubensgemeinschaft, sind unsere Retter, unser Leben. Doch sobald wir im „Boot“ gerettet sind, gilt auch uns der Auftrag Jesu: „Gebt ihr ihnen zu essen!“

Palmsonntag

Jesus reitet auf einer Eselin in Jerusalem ein und erfüllt die Weissagung der Propheten Jesaja und Sacharia: „Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir. Er ist friedfertig und reitet auf einer Eselin.“ (Mt 21,4-5). Vor einem buntgemusterten Hintergrund, wo oben mit ein paar braunen Flächen Häuser angedeutet sind, ist in der Bilddiagonale eine Gruppe von Menschen prozessionsartig von rechts unten nach links oben unterwegs.

In ihrer Mitte kaum auszumachen Jesus auf der Eselin. Der Kreuznimbus hebt sein Haupt hervor und zeichnet seine Person aus. Mit dem Rücken zu uns winkt er der Volksmenge zu, die ihn wie in der Bibel beschrieben ausgelassen mit Palmzweigen bejubelt und Tücher aller Art auf dem Boden ausbreitet.

Doch bei genauerem Hinsehen sind Menschen zu entdecken, die sich ganz anders verhalten und – in unsere Zeit versetzt – uns etwas von der Aufregung und den Fragen ihrer Zeit spüren lassen (vgl. Mt 21,10). Der Mann mit Frack und Zylinder wie die junge Dame im Abendkleid lassen an eine Party denken, wo ein Star gefeiert wird. Zwei Rucksacktouristen gehen am Umzug vorbei, wie man in einer Fußgängerzone mit einem langen Kopfwenden kenntnisnehmend an einem Stand oder einem Performancekünstler vorbeigeht. Während ein Mönch und eine Klosterfrau ausgelassen tanzen, verhalten sich die Vertreter der Kirche liturgisch korrekt: In den entsprechenden Gewändern legen sie sich hingebend flach auf den Boden oder knien mit gefalteten Händen vor ihrem Herrn.

Mit etwas Abstand (!) folgt die Schar der Jünger. Die Heiligenscheine zeichnen sie als jene aus, die Jesus nachfolgen. Geschlossen stehen sie da, nur wenig Bewegung ist bei ihnen festzustellen. Was da geschieht, scheint sie zu befremden. Einer ist sogar in Ohnmacht gefallen oder so erschöpft, dass er von zwei anderen Jüngern gehalten werden muss. Ein Dritter scheint mit dem Arm auf Jesus weisend ihm zu sagen: Auf, nur nicht schwach werden, wir müssen ihm folgen!

Durch den bunten, fröhlich stimmenden Hintergrund wird Jesu Einzug in Jerusalem ein überzeitliches, globales und andauerndes Geschehen. Jesus zieht nicht nur jedem Palmsonntag liturgisch gefeiert in seine Kirche ein, sondern ist ununterbrochen daran, durch unseren Lebensalltag zu ziehen: Von den einen nur mit einem kurzen Seitenblick gestreift, von andern wahrgenommen und herzlich willkommen geheißen, wiederum von anderen missverstanden oder mit Abstand verfolgt. – Nehme ich wahr, dass Jesus bei mir Einzug halten will? Wie stehe ich zu ihm? Weiß ich ihn angemessen zu ehren, finde ich es einfach interessant oder halte ich mich auf Distanz, obwohl ich als getauftes Menschenkind zu seinen Jüngern gehöre?

Jesajas Worte „Siehe, dein König kommt zu dir“, richten sich ganz konkret an mich als Betrachter. Der Prophet sagt zu mir: Schau nur gut hin, du bist nicht ein (zeitlich) entfernter Beobachter dieses Ereignisses, sondern bist Teil dieses Einzuges. Jesus will in dein Herz einziehen. Tochter Zion, öffne weit deine Tore, juble laut deinem Herrn und König: „Hosanna, dem Sohn Davids! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe!“ (Mt 21,9)

Menschenfischer

Die Bildszene könnte sich in einem Großstadtpark abspielen. Breite Wege mit flachen Treppen, eine Rollstuhlrampe sowie ein mit einer Mauer begrenzter Grünbereich sind zu erkennen. Ein warmes Rotbraun beherrscht das Bild und lässt den Weg übergangslos in den Hintergrund führen. Was das wohl zu bedeuten hat? Ob da der Himmel auf die menschlichen Wege „ausläuft“ und versucht die Menschen in ihrer Eile zu erreichen?

Alle scheinen sich abzuwenden und eher davonzulaufen. Außer dem einen Mann, der auf dem Mäuerchen sitzt. Die Aktentasche neben sich gestellt, lehnt er sich entspannt zurück und streckt lässig sein linkes Bein vor. Die Ärmel seines Hemdes sind hochgerollt, die Arbeit scheint getan zu sein. Gedankenverloren schaut er um sich, gar nicht merkend, wie von hinten einer ein Netz über ihn wirft. Der “Menschenfischer” kann nur Jesus sein, der zu seinen ersten Jüngern gesagt hat: „Kommt her, folgt mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen!“ (Mt 4,19)

Hier bekommt ein Mensch eine neue Aufgabe. Mitten im Alltag. Eine Aufgabe von Gott! Den göttlichen Auftrag, wie Er zu handeln. Familie und Beruf aufzugeben und der Berufung nachzugehen (vgl. 4,22), allen Zeugnis abzulegen von der wirkmächtigen Gegenwart des dreieinigen Gottes (vgl. Joh 14,15-21)

Es sieht aus, als würde Jesus den Mann von hinten überraschen. Das kann sein. Doch kann ich mir auch vorstellen, dass der Künstler damit andeuten möchte, dass es sich mehr um ein inneres Geschehen als um ein äußeres handelt. Die „Träumereien“ wären dann als eine tiefe Einsicht ins Herz zu interpretieren, aus der die Erkenntnis hervorgeht, von Ihm angesprochen zu sein und einen Auftrag erhalten zu haben.

Drehen die Menschen im Vordergrund deswegen von Ihm ab, weil sie nicht angesprochen werden, keine tiefen Einsichten machen wollen? Oder haben sie bereits eine Aufgabe erhalten, sich etwa der Rollstuhlfahrerin anzunehmen? Weint die alte Frau, weil sie von Jesus weggeschoben wird oder weil sie von Ihm im Innersten berührt worden ist?

Ich tendiere in beiden Fällen aufgrund von kleinen gemalten Hinweisen auf eine Bekehrung (wie auch der Maler das Bild betitelt), auf eine Umkehr durch ein tieferes gnadenhaftes Verstehen. Die beiden Männer sehen eher nach jugendlichen Raufbolden aus, denn einer trägt am linken Auge ein „Veilchen“! Aus Gewalttätigen sind Sanftmütige geworden, auch wenn sie sich noch etwas unbeholfen der Rollstuhlfahrerin annehmen.

Auch mit der alten Frau scheint etwas Bewegendes geschehen zu sein, dass sie so herzzerreißend weint. Sind es Tränen der Reue über so manches falsch Gedachte und Gemachte? Noch hält sie einen Zigarettenstummel in ihrer Hand. Ob ihre Invalidität damit zusammenhängt und sie sich eben der Schuld bewusst geworden ist?

Wir wissen es nicht. Ratlosigkeit ist auch beim engelsgleichen Wesen auf der Treppe zu beobachten. Beinahe trotzig sitzt er breitbeinig und den Kopf in geballte Fäuste aufstützend. Eigentlich müsste er sich doch freuen, wenn Menschen sich bekehren. Oder ist er ähnlich wie Jonas nach der Bekehrung von Ninive einfach sauer (Jon 4), weil sich die Menschen bekehrt haben und zu Gott und damit zu ihrem Heil gefunden haben?

Doch was soll die gerade von rechts ins Bild hereinschreitende Frauengestalt zu bedeuten haben? Der Maler hat ihren nackten Körper nur flüchtig gemalt, teilweise nur angedeutet. Sie ist in der Farbe des Hintergrundes gemalt, als wäre sie ganz erfüllt von der „himmlischen“ Farbe. Sie hat nichts zu verbergen und braucht keine Bekehrung. In ihrer lichten Jugendlichkeit und erfüllten Beweglichkeit bildet sie einen Gegensatz zur alten Frau im Rollstuhl, die sich mit ihrer schwarzen Körperfarbe nur durch den Rollstuhl und den Helfer vom Hintergrund abhebt.

Das Bild gibt mir mit den verschiedenen Stadien der Bekehrung zu denken. Jesus ist als Menschenfischer in unserem Alltag! In welcher Gestalt finde ich mich am ehesten wieder?