Zum Gedenken an die Spurlosen

Unzählige weiße Stoffschilder hängen im Raum. In sie sind zwischen zwei Kreuzen, die wie Anführungs- und Schlusszeichen wirken, Zahlen und Namen gestickt. Schwarz ein Datum, dann in Rot ein Vorname und ein Name, danach wieder in Schwarz eine Altersangabe. (Detailbild). Jedes Schild erinnert an einen Verstorbenen. Sie alle eint, dass sie 2005 in München verstorben sind, allein und ohne Angehörige, „die Spuren seines Lebens in ihrem Leben weitertragen …“.

289 Namensschilder hängen so über den Köpfen der Besucher. Man muss den Kopf heben, zu ihnen aufschauen, um ihre Namen lesen zu können (Detailbild). Das rote Garn, mit dem der Name gestickt ist, wurde nicht direkt nach dem Namenszug abgeschnitten, sondern hängt lange in den Raum herunter. Symbolisch führt „der rote Faden“ durch den Namen und damit durch das Leben und die Persönlichkeit der Verstorbenen in unsere Welt hinein und schafft posthum Berührungspunkte, wenn er die Körper der Betrachter streift. Der Lebensfaden der Verstorbenen ist abgeschnitten, aber mit der Installation wird ihr Leben gewürdigt und geeint durch ihr Schicksal wird ihrer über den Tod hinaus gedacht.

Das genähte Stoffschild (Detailbild) erinnert an das Papierschild, das früher mit Namen und Todeszeitpunkt versehen den Leichen zur Identifizierung an den Zeh gebunden wurde. Auch schlägt das Stoffschild eine Brücke zum Vorgehen der städtischen Bestattungsbeamten. Nach der Klärung der Todesursache in der Pathologie wird der tote Körper ungewaschen in einem Plastiksack in den Sarg gelegt. Die evangelischen Gläubigen werden eingeäschert, die katholischen Gläubigen bleiben im Sarg. Die Beerdigung findet in der Regel ohne Feier statt. Nach einer kurzen Aufbahrung in der Aussegnungshalle werden die Toten als „stiller Abtrag“ zum Grab gebracht, weil meistens niemand da ist, der dem Sarg oder der Urne folgt und dem Verstorbenen damit das letzte Geleit geben würde. Die Gegenstände, mit denen der Verstorbene ein Leben lang gelebt hat, landen bei Nachlasssammlern oder im Sperrmüll. So wird die Wohnung aufgelöst, entleert, so werden alle Lebensspuren nach und nach verwischt und ausgelöscht.

Die Gedenkinstallation wirkt still gegen das Vergessen. Sie macht nachdenklich. Sie lässt an die vielen Menschen in unserer Gesellschaft denken, die ohne Verwandte oder Freunde an der Seite einsam und verlassen sterben. Sie lässt an die unzähligen Kriegs- und Flüchtlingsdramen (Stichwort Lampedusa) denken, in denen viele Menschen ähnlich spurlos verschwinden (Detailbild).

Die Namensschilder sind an einem weißen Faden aufgehängt. Sie sind von oben gehalten. Wir Christen glauben, dass Gott niemanden vergisst, niemanden fallen lässt. Das ist uns Hoffnung, darf aber keine Entschuldigung sein, im Bereich des Möglichen nicht selbst aktiv zu werden. In dem Sinne ist die Gedenkinstallation auch ein Aufruf zu mehr Mitmenschlichkeit, zu mehr Nähe, zu mehr Herzlichkeit, damit es gar nicht zu Situationen kommt, in denen Menschen spurlos verschwinden, einsam sterben oder still abgetragen werden.

Namenlos?

Die Kunstwerke mit dem Hinweis o. T. machen mich immer etwas ratlos. Worum ging es dem Künstler, wenn er dem Kunstwerk keinen Titel geben kann? Bei einem solchen Bild ohne Namen kommt es mir vor, als hätte der Künstler seine urmenschliche Aufgabe, seiner Umwelt Namen zu geben (vgl. Gen 2,20) nicht wahrgenommen.

Und dennoch hat er etwas zum Ausdruck gebracht, was ihn bewegt hat. Vielleicht wollte er, ähnlich wie Gott, als Schöpfer eines Werkes uns Betrachtern die Aufgabe nicht wegnehmen, dem Bild einen ganz persönlichen Titel, bzw. Namen zu geben. „o. T.“ verhindert demzufolge, dass nachfolgende Betrachter sich keine Gedanken mehr machen und das Bild einfach mit dem Lesen des Namens und einem bestätigenden Vergleich abhaken. Sind nicht wir Menschen und alle Geschöpfe Gottes solche Kunstwerke „o.T.“, die vom Betrachter entdeckt werden wollen?

Da sind Lichtdurchbrüche im schwarzen wie im dunkelgelben Feld, die das Bild in der ganzen Höhe queren. Der linke Spalt führt durch die Verengungen am Bildrand und das Licht im Bildinnern wie durch eine Schlucht in die Tiefe. Beim rechten Lichtdurchbruch scheint das Licht von oben zu kommen, von außerhalb des Bildes. Es fließt in die Farbe hinein und sammelt sich unten wieder, eine Leuchtspur hinterlassend.

Das Bild lebt von diesen schmalen Verbindungen. Zu den Seitenrändern hin, wie haltgebend, zwei schwarze Streifen. Zwischen dem Gelb und dem Schwarz ein transparentes hellblaues Band, mit dem linken Lichtdurchbruch und einem kleineren Durchblick am unteren Bildrand korrespondierend. Bis auf die kleine gelbe Fläche ist alles in der Vertikalen gemalt, lebt alles von dieser senkrechten Verbindung zwischen Oben und Unten und Unten und Oben. Und in dieser Beziehung wird Tiefe geschenkt.

Mir kommt es vor, als stünden all diese senkrechten Streifen, Spalten, Bänder und Flächen für unsere Beziehung zu Gott. Und weil diese Beziehung da ist, mal als undurchdringliche schwarze Wand des Unverständnisses und der Verlassenheit, mal als schmaler Lichtspalt der Hoffnung, mal als goldenes Tor, das sich dem Glück öffnet …, erhält unser Leben Tiefe und Sinn.

Weil dieses Bild ein Bild meines Lebens sein könnte, wie es gerade aus der Beziehung mit Gott lebt, wäre jede Bezeichnung dafür unzulänglich. Ist nicht das Leben an sich und erst recht die Beziehung zu Gott so wunderbar, dass einem die Worte fehlen und man nur noch staunen kann?