Ostermorgen – Zwischen Mythos und Logos

Suchend streift der Blick über das großformatige Bild und versucht einen Zusammenhang bzw. den roten Faden in der Fülle an Motiven zu finden. Noch herrscht wie vor der Erschaffung der Welt Chaos auf dem Bild. In dem scheinbar ungeordneten Durcheinander tut sich der suchende Geist schwer, das Ganze zu verstehen. Es ist nur ein schrittweises Herantasten möglich, bis nach und nach Erkenntnis und Verstehen geschenkt wird. Die Eindrücke sind überwältigend und schwer zu entschlüsseln. Innehalten ist angesagt vor dem Geschehen in dieser komplexen Bildwelt. Geschieht hier nicht etwas noch nie Dagewesenes, etwas, das alles Bekannte über den Haufen wirft und sich neu buchstabiert: Die Auferstehung von den Toten? Es ist ein Ringen um „Worte“, die Darstellung des Nicht-Darstellbaren. Es ist nicht die siegreiche Auferstehung wie im Isenheimer Altar von Matthias Grünewald oder das triumphale händelsche Halleluja. Es ist vielmehr ein verwundertes Sich-die-Augen-Reiben nach den erschütternden Ereignissen der Karwoche, eine Revolution im Verborgenen, wie der Totgeglaubte zwischen den Beinen des erblindeten Todes aus der Höhle heraustransportiert wird, mit den Füssen voraus in den Tag hineingetragen wird von einem Widder.

Die Bildmitte nimmt eine hohe, weiße Gestalt ein. Als unumstößliche Dreiecksfigur dominiert sie das Bild und teilt es in eine linke und eine rechte Hälfte, bzw. in drei Teile. Am einäugigen Riesen mit drei Armen ist kein Vorbeikommen. Seine Größe weist darauf hin, dass sich durch ihn alles entscheidet. Seine Gehrichtung gibt maßgeblich die ungewohnte Blick- und Leserichtung von rechts nach links vor. Hat der Künstler einen Weg zurück gemalt, einen Weg zurück ins Leben? Kann es sein, dass in den drei Bildteilen die Geschehnisse der drei österlichen Tage dargestellt sind? Karfreitag, Karsamstag und Ostern?

Beginnend im rechten Bildteil lässt sich der rote Hahn erkennen, der mit seinem Schrei Petrus seine dreimalige Verleugnung Jesu schmerzhaft zum Bewusstsein bringt. Die Frau daneben ist die Magd, die nach Jesu Verhaftung zu Petrus sagt: „Der war auch mit ihm zusammen.” (LK 22,56) Im grünen Gesicht unter dem Hahn ist Petrus selbst als gebrochene Säule dargestellt. In der ganzen Bestürzung über seinen Verrat wird ihm bewusst, dass seine Kraft nicht ausreicht, um das Gebäude zusammenzuhalten. Gleichsam stellvertretend schreit der rote Kopf seinen Schmerz hinaus (Bild-Impuls dazu). In der Zusammenschau steht dieses rechte Drittel des Bildes somit für den Verfall, den Verrat, für das ganze Leiden der Kreatur, für die Welt des Todes.

Aber im Zentrum des rechten Drittels dominiert ein großes grünes Gesicht das Bild. Es ist das Antlitz des Menschensohnes, der im Grab liegt. Erstaunlich sind seine großen offenen Augen und sein unter dem Widder langgesteckter Körper. Erich Schickling verbindet seine Gestalt mit einer Erzählung aus der griechischen Mythologie: Odysseus hatte mit zwölf seiner Gefährten in der Höhle des Zyklopen Polyphem Zuflucht gesucht. Doch nachdem dieser seine Schafe hineingetrieben hatte, verschloss er die Höhle mit einem großen Stein und begann einen Gefährten nach dem anderen zu fressen. So wurde er zum Inbild des Ungeheuers und des Todes. Um Polyphem zu entkommen, griff Odysseus zu einer List, wodurch es ihm gelang, diesen mit einem glühenden Pfeil in sein einziges Auge derart zu blenden, dass Odysseus und seine restlichen Gefährten am nächsten Morgen, als die Tiere hinausgetrieben wurden – sich am Bauch der Schafe festklammernd – ungesehen aus der Höhle des Todes entkommen konnten.

Bei Schickling ist es ein männliches Tier, welches die große, fast das ganze Bildformat querende, brettartig versteifte Gestalt unten am Riesen vorbei auf die andere Seite trägt. Ein Bild für Gott-Vater, an dem sich Jesus festklammert und von dem er aus dem Reich des Todes gerettet wird? Oder eine Erinnerung an Isaak, den einzigen Sohn Abrahams, der durch Gottes Eingreifen vom Tode verschont blieb und an dessen Stelle ein Widder geopfert wurde (Gen 22,1-19)? Gleichzeitig wird Jesus vom blauen Wasser des Lebens aus der Dunkelheit ins Licht gespült und auf der anderen Seite von den ersten Strahlen des Ostermorgens ans Licht gezogen. Alles geschieht im Verborgenen und endet offenbart. Es ist nicht der Kopf als Sitz des Verstandes, der dieses Wunder zuerst begreift. Mit den Füßen voran wird die Welt des Todes überwunden. Sie werden schon vom lichten Glanz der Ostersonne überstrahlt, welche mit ihrer Intensität die linke Bildseite dominiert.

Die Ostersonne als Symbol für den Morgen, die Auferstehung und das Offenbarte korrespondiert mit einem dunklen, geheimnisvollen Rund darüber. Es könnte als Symbol für die uns unbekannte Seite Gottes stehen, für die Nacht, den Traum, den verborgenen Gott, von dem wir nichts wissen. Dennoch ist dieses Rund nicht vollkommen dunkel und schwarz, sondern in seinem Innern rot, blau und grün belebt, den Symbolfarben für seine Liebe, Treue und die Hoffnung. Für den Künstler mag diese geheimnisvolle Dunkelheit auch für den Traum als Ursprung der Kreativität gestanden haben, denn als drittes Symbol des Ostermorgens springt aus dieser Dunkelheit rechts daneben ein geflügeltes Pferd vom Himmel und fordert Polyphem zum Kampf heraus. „Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht in ihrem Lauf bis zur Mitte gelangt war, da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron herab als harter Krieger mitten in das Land des Verderbens.“ (Weish 18,14-15) Das springende Ross ist das göttliche Wort, der Logos. Polyphem wehrt es ab, wird dadurch aber von seiner Suche nach Odysseus abgelenkt.

Mit seinem Ostermorgen formuliert Erich Schickling einen Gegenentwurf und eine Antwort auf Picassos berühmtes Monumentalbild „Guernica“, das er in Erinnerung an den Terrorangriff des 26. April 1937 auf die spanische Stadt Guernica malte und in dem sich das durch Gewalt, Terror und Krieg verursachte Leid im vielfachen Aufschrei von Schmerz, Verzweiflung, Not und Tod verdichtet. Schickling verwendete den gleichen Bildaufbau und ähnliche Bildelemente, so dass in einer Fülle von Details ein direkter Bezug gegeben ist und eine bildliche Antwort auf die Frage: Gibt es etwas, worauf man hoffen darf angesichts von Leid und Tod?

Doch während bei Picasso der Aufschrei der vielen unerhört verhallt, die Gewalt und das himmelschreiende Unrecht das letzte Wort haben und – bis auf die zarte Blume als Symbol für die Regeneration der Natur – alles trost- und hoffnungslos ist, lebt Erich Schicklings Bild vom Glauben und der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. In Jesu Schrei hört Gott das verdichtete Leiden eines jeden Menschen und der ganzen Menschheit. Als Gottesknecht und „-krieger“ ist Jesus für alle gestorben. Durch Jesu Auferweckung von den Toten hat er den Tod besiegt und alle Menschen, die daran glauben, aus dessen Gefangenschaft befreit. Das Licht der aufgehenden Sonne und die Kraft des herabspringenden Pferdes, des Wortes, erfüllen die ganze Schöpfung mit Hoffnung und Leben. Das weiße Licht verwandelt selbst die furchteinflößende Gestalt des Polyphem, den Angst verbreitenden Tod in einen Diener Gottes (vgl. 1. Kor 15,55).

Gott hat das letzte Wort. Darauf weisen auch die Omega-Zeichen auf dem Widder hin: „Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung.“ (Offb 1,8)