Zwei Bilder stehen an die Wand gelehnt auf dem Boden. Sie befinden sich an der Stirnseite des Andachtsraumes im Reichstagsgebäude in Berlin. Die beiden Bildtafeln bilden mit fünf weiteren Tafeln (Ansicht 1, Ansicht 2, Ansicht 3) den visuell prägenden Schmuck dieses überkonfessionellen Andachtsraumes von Günther Uecker, in dem er zu meditativem Nachdenken anregt und Wesentliches zum Verhältnis der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam zur Sprache bringt.
Die abgebildeten beiden Tafeln sind dem Christentum zugeordnet. Mit den Nägeln und den mit Leinen auf den weiß-braunen Hintergrund applizierten Kreuzen lassen sie an den Kreuzestod Jesu denken. Doch wieso so viele Nägel, wieso zwei Kreuze? Stehen sie etwa für das Leiden und den Schmerz vieler? All derer, die genau wie die Nägel geschlagen wurden? Zusammen bilden sie auf den Kreuzen aus Leinen, das früher auch als Verbandsmaterial und als Leichentuch verwendet wurde, einen Körper, der sowohl geschunden als auch voll innerer Dynamik und Schönheit ist. Durch die Bewegung der Nägel liegt ein eigenartiger Schwung in ihnen (Detailansicht). Durch die Verdichtung der Nägel nach oben und die erhöhte Position der Kreuze wohnt ihnen trotz ihrer schweren Last etwas Leichtes inne, scheinen sie wie Blätter über der graubraunen Sandflächen in der Luft zu tanzen.
Schweben sie nicht über dem Materiellen und Schweren, über dem Dunklen und Belastenden im mit weißen Farbflächen versehenen Bereich? Beide zeigen zudem eine von links unten nach rechts oben strebende dynamische Bewegung. In diesen Kreuztafeln steckt hoffnungsvolles Leben. Was wohl der Grund dafür sein mag? Ob er letztlich im Zwischenraum liegt, der nicht nur in der Fotomontage, sondern auch im Andachtsraum der Breite einer Tafel entspricht? Der leere Platz als Sinn-Bild für denjenigen, der zwischen zwei Schächern gekreuzigt worden ist, aber als Erster von den Toten auferweckt wurde? Ja, denn wir glauben, dass Jesus alle Leiden auf sich genommen und getragen hat, damit alle durch ihn Erlösung erlangen. Sein neuer Platz ist unmittelbar vor diesem leeren Platz auf dem Altar.
Die beiden Bildtafeln erinnern also ganz konkret an die Kreuzigung auf Golgata, zeigen bildlich aber nur die Kreuze der beiden Schächer. Ein Ort für meditatives Nachdenken. Wo stehe ich? Was bewirke ich? Welche Ungerechtigkeiten, ja Verbrechen können aus meinen Entscheidungen und Handlungen entstehen und vielen Menschen unsägliches Leid und großen Schmerz zufügen? An diesem Ort mit weitreichenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Entscheidungen stellen die Bildtafeln eine starke Erinnerung dar, ja einen steten “Nagel im Fleisch” (2Kor 12,7) der Politiker, ihre Interessen und ihre Macht gut zu bedenken, ihre Entscheidungen gut abzuwägen, damit sie für den Nächsten nicht Tod, sondern Leben und zwar möglichst gutes Leben bedeuten.
Als weiterführende Literatur zum Andachtsraum finden Sie hier einen empfehlenswerten Bericht von Dr. Andreas Kaernbach, Kurator der Kunstsammlung des Deutschen Bundentages, aus der Zeitschrift kunst und kirche 2/2010 (mit freundlicher Genehmigung des Autors und Dr. Johannes Stückelberger). Zum Bericht (1,4 MB PDF).