Kraft der Gemeinschaft

Wie aus einem Fenster in großer Höhe schweift der Blick über eine wolkige Farbenlandschaft. Kaum erkennbar und verloren klein verteilen sich Menschenfiguren auf den vier Bildquadraten. In den blau-grauen Weiten stehen sie vereinzelt, im gelben Bereich in Gruppen. Begleitet wird der Farbwechsel durch die Veränderung der Schatten von links oben nach rechts unten: Je einsamer die Menschen in der Landschaft stehen, um so länger sind ihre Schatten, je näher sie zusammenstehen, desto kürzer werden sie oder verschwinden als deren dunkle Begleiter ganz.

In der Bewegung der Gruppierung, der Farben und Schattenbildung kann das Bild in die eine oder in die andere Richtung „gelesen” werden. Entgegen der gewohnten Leserichtung, also von rechts nach links, stellt die Auflösung der Gruppen eine zunehmende Entfernung, Vereinsamung, Angst und Kälte dar. Das kann als Desinteresse am Nächsten interpretiert werden oder auch als eine Atomisierung der Gesellschaft (Herbert Pietschmann). Die Menschen stehen im linken und oberen Teil des Bildes haltlos im bodenlosen Nirgendwo, während sich rechts die Verortung auf einer Landkarte andeutet.

Von links nach rechts gesehen befinden sich die Menschen im Aufbruch. Sie zeigen zunehmend Interesse aneinander. Je näher sie beieinander und zueinanderstehen, umso wärmer wird die Farbe des Bodens. Die Menschen gewinnen Land unter ihren Füßen und gleichzeitig erhalten sie einen festen Standpunkt. Nicht mehr die Scheingestalt des Schattens nimmt den größten Platz ein, sondern die Person selbst.

Das Bild lässt die Kraft der Gemeinschaft für unser Leben und Wohlergehen spüren. Es ist ein Plädoyer, den Nächsten in und mit seiner Position stehenzulassen, eine andere Meinung zu akzeptieren und darin einen Anlass für einen konstruktiven Austausch zu sehen. Doch was ist die Voraussetzung dafür, um sich auch mit unterschiedlichen Standpunkten und Meinungen „stehenlassen” zu können? Das Fensterkreuz deutet an, dass es über die Standpunkte und Meinungen hinaus noch etwas Größeres und Übergeordnetes geben muss, das trotz aller Differenzen verbindet und in dem alle eins sind. Gibt es das nicht, werden die Differenzen absolut und die Distanz zwischen den Menschen unüberbrückbar.

Den Ursprung des gemeinschaftlichen Geistes verorten die biblischen Texte in Gott. Deshalb kann Jesus dem Gesetzeslehrer auf seine Frage, was er für das ewige Leben tun muss, antworten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.” (Lk 10,27) Diese bedingungslose und unsere ganze Existenz durchdringende und umfassende Liebe zu Gott ist die Grundlage unserer Liebe zu den Mitmenschen und nicht zuletzt zu uns selbst. Sie macht die Kraft und die Größe einer Gemeinschaft aus. Im Bild werfen die Menschen keine dunklen Schatten mehr, weil Gott selbst ihr Licht ist (vgl. Offb 22,5) und das „Reich Gottes” auf diese Weise schon hier und heute beginnen kann.

Fürchtet euch nicht!

Eine kleine Krippe steht im Schatten eines mächtigen Kreuzes, das schräg über die Krippe geneigt auf sie zu stürzen droht. Die Krippe selbst besteht aus einer Walnussschale und wird von innen beleuchtet. Das Licht der Krippe und die herausstehenden Strohspitzen projizieren auf den breiten Kreuzschatten ein feines Licht- und Schattenspiel, das dem Haupt Jesu mit der Dornenkrone gleicht.

Verloren steht die Krippe im Kreuzungspunkt des Schattens der beiden Kreuzbalken. Wo sonst die Wände eines Stalls ein Mindestmaß an Schutz bieten, droht hier von oben das Holz des Kreuzes den Neugeborenen zu erschlagen. Wo sonst Menschen und Tiere das Kind schützend und wärmend umgeben, ist hier nur die Bedrohung des übermächtigen Kreuzes und die Kälte seines Schattens zu spüren.

So hart und geradezu brutal diese Krippendarstellung Geburt und Tod zusammenbringt und nicht wie in manchen Inszenierungen den Kreuzestod nur versteckt andeutet, so „normal“ ist es im apostolischen Glaubensbekenntnis in einem Atemzug zu sprechen: „geboren von der Jungfrau Maria, gelitten unter Pontius Pilatus, gekreuzigt, gestorben und begraben“.

Die Krippe bildet ein Kontrastprogramm zu dem vom maßlosen Konsumverhalten immer mehr zu einem Event verkommenden Advents- und Weihnachtszauber, bei dem es mehr und mehr ums Geld, um das Wünschen und Beschenken geht als um die Freude über die Geburt des Gottessohnes und Seelenretters. Radikal wird hier die menschliche Zerbrechlichkeit unter dem übermächtigen Kreuz bewusst. Wobei das Kreuz sowohl für die Dunkelheiten und Härten des Lebens stehen kann als auch für das menschliche Sünder-Sein und die eigene Gottesferne.

Gerade in diese Dunkelheit leuchtet die kleine Krippe. Ihr Licht vermag selbst die Schatten des Kreuzes zu durchdringen und zu erhellen. Die Installation erinnert an das prophetische Wort: „Das Volk, das im Dunkel saß, hat ein helles Licht gesehen; denen, die im Schattenreich des Todes wohnten, ist ein Licht erschienen.“ (Mt 4,16) Dieses in die Dunkelheit gesandte Licht kommt klein und verletzlich an und strahlt doch hell über die Dunkelheit hinaus. Es bricht die durch das Kreuz, die Sünde und den Tod entstandene Übermacht der Finsternis. Das vom Christuskind ausgehende Licht lässt uns die Stärke von Gottes Barmherzigkeit und Liebe erfahren. Sie sind unvergleichlich größer als die tiefste Dunkelheit und Not. Sein Licht macht Mut und schenkt Hoffnung. Letztlich ruft es in die Dunkelheit: Ich bin der Gott Immanuel: Was auch passiert, ich bin bei euch! Fürchtet euch nicht! (Lk 2,10; Joh 6,20)

 

Die Installation war Teil der 82. Telgter Krippenausstellung “Mittendrin” im RELíGIO, dem Westfälischen Museum für religiöse Kultur in Telgte. Die Ausstellung war mit über 120 zeitgenössischen Ausstellungsstücken bis zum 22. Januar 2023 zu sehen.

überschattet

Eine horizontale und eine vertikale Bewegungen kreuzen sich. Es ist ein Aufeinandertreffen einer fließenden Landschaft und einer menschlichen Erscheinung. Nicht neben- oder hintereinander, sondern einander durchdringend, quasi durch das andere Element hindurchgehend ohne sich – wie bei der Durchdringung von Wasserwellen – gegenseitig im jeweiligen Fluss aufzuhalten oder zu behindern.

Die horizontale Bewegung ist durch ihre farbliche Intensität stärker als die lineare Erscheinung in der Mitte. Die leuchtenden Farben und die leichte Schwingung haben etwas Warmes, Energetisches und Beschützendes an sich. Das dunkelgrüne Band wird oben und unten von dunklem Blau begleitet, während darunter Magenta und Rot wie Magma unter einem Vulkan glühen.

Die vertikale Bewegung erhebt sich breit abgestützt aus diesem glühenden Bereich, wobei eine Diagonale von rechts unten nach links oben für zusätzliche Dynamik sorgt. Zunächst wirken die in einer bestimmten 2021_Bernd_Nestler_Licht_Art_FIN_1 geschaffenen Linien abstrakt bewegt, dann ergeben sich allerhand konkrete Assoziationen bis plötzlich der schräg geneigte, aufmerksam blickende Kopf sichtbar wird, der auf breiten Schultern ruht. Es scheint ein inneres Schauen zu sein. Wie bei einem Vexierbild erscheint rechts oben ein kleinerer Kopf, der nach rechts blickt. Somit wird auch hier ein weiteres Durchdringen angezeigt.

Der Bildtitel “Die Sehnsucht des Geistes”  verrät einen Bezug zur Verkündigung an Maria. Auf die Ankündigung des Engels, dass sie schwanger werden und einen Sohn gebären werde, fragt Maria zurück: „Wie soll das geschehen, da ich keinen Mann erkenne? Der Engel antwortete ihr: Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten.“ (Lk 1,34f) Was bedeutet „die Kraft des Höchsten wird dich überschatten“? In diesem Glaskunstwerk kommt der Heilige Geist nicht im traditionellen Symbol einer Taube zu Maria, sondern senkt sich wie ein engergiegeladener Nebel vorübergehend über und auf Maria.

Obwohl der Schatten nichts Wesenhaftes ist, gehört er biblisch gesehen zu den großen Wundern Gottes. Er bietet Kühlung und Schutz (vgl. Ps 36,8; 63,8) und ist als Abbild eng mit dem Wesen des Schattenspenders verbunden. Im der hebräischen Sprache lautet das Wort für Schatten – tsêl ähnlich wie das Wort für Bild – tselem. Die Überschattung Mariens steht dadurch in direktem Bezug zur Erschaffung des ersten Menschen, den Gott „als sein Bild“ – tselem erschaffen hat (Gen 1,27). Jesus ist der neue Adam, Gottes Neubeginn mit den Menschen. In Jesus offenbart Gott bis zum Tod am Kreuz (vgl. Hebr. 5,19) seine glühende Liebe zu uns Menschen, sein wahres Wesen. Moses hatte das Verlangen, Gott zu schauen, doch Gott verhüllte sein Angesicht. Gott hat Maria seinen Sohn als seinen Schatten geschenkt und sich damit gleichzeitig uns allen in ganzer Herrlichkeit offenbart.

Im Bild von Bernd Nestler legen sich die einzelnen Schichten wie ein sanfter Schleier auf und um die Schultern Mariens. Sie erfährt nicht nur das Vorrecht, sich im Schatten Gottes aufhalten zu dürfen, sondern auch von ihm nach und nach so durchdrungen zu werden, bis Sein Bild in ihr Menschengestalt angenommen hat: Die Liebe und das Leben selbst.

Das Wesentliche schauen

Was für eine Überraschung! Bei dieser Krippendarstellung gibt es in Wirklichkeit keine Krippe, kein Jesuskind, keine Maria und keinen Joseph, auch keine Besucher wie Hirten oder Könige. Diese „Krippe“ besteht nur aus Elektroschrott, aus Platinen, Schaltern, einer Spule, abgerissenen Kabeln etc. Vermutlich stammen sie aus einem Computer. Die einzelnen Teile sind so angeordnet, dass die chaotisch wirkende Zusammenstellung durch das Licht einer Lampe aus einem bestimmten Winkel Schatten an die Wand werfen. Überwölbt vom hellen Lichtkegel ist der Schattenwurf einer Futterkrippe zu sehen, aus der Stroh heraushängt und in der ein Säugling liegt. Von ihm sind der Kopf, eine Hand und ein Fuß zu sehen. Am Boden wirft das Licht die Silhouette einer Kerze oder einer Babytrinkflasche und rechts daneben den Griff einer Schaufel in einem Eimer an die Wand.

Welch ein Kontrastprogramm: Im Vordergrund türmt sich eine Ansammlung von ausgedientem Elektroschrott, während die frohe Weihnachtsbotschaft im Hintergrund ein Schattendasein fristet. Normalerweise halten wir das Schattenbild für einen trügerischen Schein und das dazugehörende dreidimensionale Objekt für die wahre Realität. Hier ist es umgekehrt: Das Schattenbild vermittelt das Wesentliche. Durch das genau ausgerichtete Licht wird das sonderbare Chaos in eine frohe Botschaft verwandelt. Nur durch das Licht wird in der Installation auf irritierende und faszinierende Weise das weihnachtliche Wunder der Menschwerdung sichtbar.

Das Kunstwerk ist eine Art Gleichnis: Auch wir Menschen sind für die Entdeckung und das Erkennen des Gottessohnes auf Licht angewiesen, ob es nun ein Stern, ein Engel, ein Geistesblitz oder eine innere Erleuchtung ist. Ohne diese Befähigung könnten wir nicht mit dem geistigen Auge über das Vordergründige einer Ansammlung von Konsumgütern oder auch eines süßen Kindleins in der Krippe hinwegsehen und seine irdische Gegenwart so durchdringen, dass wir in ihm Gottes Sohn und unseren Heiland schauen und verehren.

Wie die Elektroteile früher im Rechner des Computers Bilder auf den Bildschirm zauberten, so projiziert das Licht nun ein Schattenbild an die Wand. Ebenso soll Gott in uns aufleuchten und durch uns als Mensch geboren werden, damit ER für alle auf vielfältige Weise sichtbar und erlebbar wird. Wie in dieser Installation ereignet sich das weihnachtliche Geschehen immer wieder wunderbar und gleichzeitig unspektakulär im Stillen – ohne die kleinste Beachtung durch Dritte wie Hirten, Könige oder die Eltern. Und doch erneuert und verändert jedes noch so unscheinbare weihnachtliche Geschehen, in dem Gott sichtbar Mensch wird, wesentlich das Antlitz der Erde.

 

I M M A N U – E L

Ins Zeitendunkel ist die Nacht entschwunden,
In der ein Stern erstrahlte – klar und hell,
In der sich Erd‘ und Himmel neu verbunden,
In der geboren ward Immanu-El.

Zwar vieles könnte heut‘ nicht mehr geschehen:
Dass Hirten hör‘n der Engel Lobgesang,
Dass heil‘ge Könige zum Himmel sehen
Und folgen dann des neuen Sternes Gang.

Doch in der Flucht der Zeit bleibt unverloren
Das Ewige, das uns erschien in jener Nacht.
Von neuem wird das WORT in dir geboren,
Das einst im Stalle ward zur Welt gebracht.

Ja! Gott mit uns – nicht dort, in Himmelszelten
Und nicht in Sturmeswehn, in Feuer nicht und Streit,
Und nicht in Fernen unerforschter Welten,
Und nicht im Nebel der Vergangenheit.

Nein: hier und jetzt: im eitlen Weltgetriebe,
Im trüben Lebensfluss, im Alltagstrott
Tönt uns die Botschaft von der ew‘gen Liebe:
Besiegt sind Not und Tod – mit uns ist Gott.
Wladimir Solowjow (1853-1900)

 

Jens Henning hat mit seiner Krippe den Bischof-Heinrich-Tenhumberg-Preis 2021 gewonnen. Seine Krippe war bis zum 13. Januar 2022 in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.