Der Schrei

Auf einer kleinen Anhöhe streckt sich in weißes Licht getaucht der gekreuzigte Schmerzensmann nach oben zum Schrei. Man meint die Worte aus dem Psalm 130 (1-2,5) zu hören: „Aus den Tiefen rufe ich, HERR, zu dir: Mein Herr, höre doch meine Stimme! Lass deine Ohren achten auf mein Flehen um Gnade. … Ich hoffe auf den HERRN, es hofft meine Seele, ich warte auf sein Wort.“

Der expressive Bildaufbau führt zu diesem Schrei in der oberen Bildmitte und konzentriert sich in ihm. Von rechts unten führen – die Oberkanten der blauen und grünen Elemente verlängernd und verbindend – Linien im Zickzack treppenartig nach oben. Ähnlich laufen die Verlängerungen der Seitenkanten der blauen und grünen Elemente von unten kommend im Kopfbereich zusammen und kreuzen sich dort.  Auf diese Weise erreicht die ganze Schöpfung mit allem Leben, Leid und allen Schmerzen in diesem gewaltigen Schrei einen einzigartigen Höhepunkt. Die flammend rote Farbe intensiviert den Schrei zum gequälten Aufschrei eines Gefolterten, eines ungerechterweise Höllenqualen Erleidenden, der die Schuld der ganzen Welt auf sich nimmt.

Als Antwort auf diese himmelschreiende Ungeheuerlichkeit finden sich im Bild drei Reaktionen: Rechts oben zeigt sich der Kopf einer Person, die schweigend im Beobachterstatus verharrt. Das rundliche Gesicht könnte auch der verdunkelten Sonne oder Gott Vater gehören, der in sich gekehrt seinem Sohn beisteht, aber nicht in das Leiden eingreift. Im gleichen Weiß wie bei der gezackten zentralen Form schreit links ein Pfau mit dem Gekreuzigten und verstärkt den Schrei von Seiten der Tierwelt. Unter dem Kreuz, es gleichsam mit ihrem Leib umfassend – denn Knie und Ellbogen berühren sich fast – findet sich kniend eine junge Frau, die in ihren Händen ein Tuch mit dem Abdruck eines traurig blickenden Gesichtes hält. Dem Tuch nach wäre die Frau Veronika, in der Tradition wird aber Maria Magdalena weinend unter dem Kreuz dargestellt. Wie auch immer verkörpert die Frau die zutiefst Betroffene, Trauernde, Mitleidende.

Mehrere Bildelemente weisen symbolhaft über den Schrei der Verlassenheit und die letzte Verlautbarung (vgl. Mk 15,34.37) des Gekreuzigten hinaus: Das maskenhaft wiedergegebene Gesicht auf dem Tuch verweist auf die Doppelnatur der Person Jesu („Person“ stammt vom lateinischen „personare“, dem „Hindurchtönen“ der Schauspielerstimme durch die Maske, die seine Rolle charakterisiert). In der menschlichen Gestalt Jesu leidet der Sohn Gottes und in diesem Leiden und Sterben leiden und sterben auch die anderen beiden Personen der Dreifaltigkeit, die untrennbar mit ihm verbunden sind. So kann am linken oberen Bildrand in der verkrampften Hand auch ein zur Mitte gewandtes gefiedertes Wesen – eine Taube –  als Symbol für den Heiligen Geist und auf der anderen Seite das Sonnengesicht als Symbol für Gott-Vater gesehen werden. Jesus leidet in dieser Sichtweise inmitten der Dreifaltigkeit und sein Schrei ertönt im Anblick und Angesicht seines Vaters. Die Palmen und Pflanzenelemente erinnern nicht nur an den Einzug in Jerusalem, sondern deuten auch den bevorstehenden Einzug in das himmlische Paradies, ins himmlische  Jerusalem an (vgl. Lk 23,43). Erich Schickling hat die Kreuzigung zudem in eine Mandelform gemalt (zu sehen sind die „Klammern“ der Mandorla), um die Bedeutung des Kreuzestodes als Übergang und „Geburt“ in diese neue, göttliche Welt zu offenbaren, in der Gott „alle Tränen von ihren Augen abwischen wird: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21,4)

So trägt der stumme Schrei Jesu stellvertretend das Leid der Welt weiter durch das Bild und über das Bild hinaus in die Ohren Gottes: im Rot die hilflose Wut, all das vergossene Blut, das verlorene Leben, die geopferte Liebe. Im Grün die fragmentierte, zerbrochene Hoffnung, die gegen alle Hoffnung hofft. Im Dunkelblau am Fuße des Kreuzes die Treue der Liebenden, der Glaube, dass nichts verloren geht und die Liebe über den Tod hinaus Früchte trägt (vgl. 1Kor 13,13). Und im Weiß des Gekreuzigten und des Pfaus als Sinnbild des Himmels darf bereits das Licht der Auferstehung aufleuchten. Denn kein Schrei verhallt unerhört in Gottes Ohren, denn „beim HERRN ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle“. (Ps 130,7)

 

Im Pfarrhof Gempfing sind in Verbindung mit der Stadtpfarrkirche St. Johannes Rain am Lech anlässlich des 10. Todestages des Künstlers Hinterglasbilder, Temperabilder, Kreuzwege, Entwürfe zu Glasfenstern ausgestellt. Vernissage ist am Sonntag, 13. März 2022 um 16 Uhr. Anmeldung bitte unter 09090-1346. Danach jeden Sonntag bis Ostermontag (außer Ostersonntag) von 14-17 Uhr geöffnet.

Aufschrei

Ungewöhnlich, diese Steinskulptur. Spannungsgeladen biegt sich dieser menschliche Oberkörper. Die im Lichtschein schwach aufleuchtende T-Form aus Stahl lässt in ihm einen Gekreuzigten erkennen, einen am Kreuz Gehängten. Sein Körper ist übersät von rostbraunen Flecken, die an getrocknetes Blut erinnern (Eisenoxyd im Stein, das durch den Künstler freigelegt worden ist) und Kerben wie von Peitschenhieben.

So sehr der Tod diese verstümmelte Gestalt prägt – die Arme sind auf Stümpfe reduziert, der Kopf ist abgeschlagen, die Rippen und die beiden Beine weggehauen – , so ist das Leben doch noch nicht aus ihr gewichen.

In den Adern des Stein-Körpers scheint das Blut noch zu pulsieren. Der muskulöse Körper hält sich mit aller Kraft am Leben. An einem Arm hängend krümmt er sich vor Schmerz und schreit sein Leid in einem einzigen stummen Schrei in die dunkle Nacht hinaus. Mit dem nach oben gerichteten Arm scheint er klagend auf seinen Schöpfer zu zeigen: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen, bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?“ (Ps 22,2)

Ich höre auch den sehnsüchtigen Ruf nach Hilfe: „Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir: Herr, höre meine Stimme! Wende dein Ohr mir zu, achte auf mein lautes Flehen.“ (Ps 130,1-2) – Dieses Schweben zwischen Himmel und Erde, zwischen Leben und Tod kann doch nicht alles sein! – Der Psalmist betet weiter: „Ich hoffe auf den Herrn, es hofft meine Seele, ich warte voll Vertrauen auf sein Wort. Meine Seele wartet auf den Herrn, mehr als die Wächter auf den Morgen.“ (5-6)

Dieses verzweifelte und doch vertrauensvolle Aufschreien ist aus diesem Torso herauszuhören. Das Leid wird ausgehalten, weil sich dieser Mensch mit letzter Kraft an DEM festhält, der das Leben selber ist. Dieses „gehalten Sein“ gibt ihm eine unauslotbare Tiefe und ist in seiner ausdrucksstarken Oberfläche zu spüren.

Karl Josef Kuschel schreibt im Buch „Lebensspuren“ (S. 37f) dazu: „Die Arbeiten von Rudolf Kurz holen an die Oberfläche, was im Menschen steckt oder was Menschen Menschen zugefügt haben. Sie beschönigen nichts; polieren nichts glatt; sind nicht „schön“. Aber alles an ihnen ist wahr: die Narben und die Risse; die Wunden und die Flecken; die Kratzspuren und die Kerben in der Haut. Der Künstler zeigt das ohne Rücksicht auf Gefühle. Was wir gewöhnlich überdecken oder überspielen, nicht wahrhaben oder zeigen wollen, macht er öffentlich, stellt er aus bis zur Penetranz. Es ist, als habe er seinen Figuren die Kleider vom Leib gerissen, um uns Betrachtern keine Möglichkeit des Ausweichens zu geben, des Überdeckens, des Beschönigens: Seht, das ist der Mensch, und das ist es, was aus Menschen werden kann.“

Weitere hervorragende Bildbetrachtungen von Karl Josef Kuschel finden Sie in dem mit Rudolf Kurz herausgegeben Buch Lebensspuren, ISBN 3-7966-1066-8, Schwabenverlag 2002.