Ankündigung des Lichts

Zwei baugleiche rechteckige Objekte aus Industriestahl formen zusammen ein Diptychon. Sie unterscheiden sich vor allem in der Zeichnung der 24 horizontalen Lamellen, welche die Rahmen füllen.

Ohne Größenvergleich erinnern die beiden Objekte an Flügeltüren eines Eingangs, eines Schrankes oder an Fensterläden. Man ist versucht, sie aufzustoßen, um zu sehen, was dahinter ist. Oder wenigstens zwischen den Lamellen durchzuspähen. Was für ein Raum sich dahinter wohl öffnen mag? Wird er dunkel oder von Licht erfüllt sein? Wird er klein und geschlossen sein oder groß und in die Weite führen?

Überraschenderweise sind die beiden Objekte mit den Außenmaßen von 61,5 x 45 cm nicht größer als zwei kleine Schranktüren. Vielleicht sollen sie daher gar nicht als Türelemente aufgefasst werden, sondern vielmehr als zwei Objekttafeln, die eine gemeinsame Geschichte erzählen. Die Witterungseinflüsse haben sie mit Rost unterschiedlich gezeichnet. Die Patina lässt an einen lichten Weg denken, die Rostspuren an Wasser, das sich langsam vom vorderen Rand her in die Tiefe der Türen vorgearbeitet hat. (Detail)

Je länger man schaut, umso mehr erinnern die Lamellenstöße an Schriftlinien, auf denen geschrieben wurde. Nicht mit Buchstaben, sondern mit der „Handschrift“ des Rosts. Hell zeichnet sich seine Spur auf dem dunklen Grund ab und erzählt von einer langsamen Verwandlung durch das Wasser, die sich durch das Eindringen und Durchdringen des steten Wassereinfalls vollzogen hat. Die Oberfläche ist bereits hell geworden und kündet von einer anderen Gegenwart – die das ganze Wesen des Objektes verändern wird, wenn es sich dem Einfluss nicht entzieht.

So gesehen können die beiden Objekte Sinnbilder für das Erste und das Zweite Testament sein, entfernt auch für die zwei Tafeln mit den zehn Geboten, die Moses von Gott erhielt. Desweiteren vermögen sie zu erzählen, wie Gottes Wort Licht in das menschliche Dunkel zu bringen vermag (vgl. Ps 119), wie er als Retter allen beisteht, die für sein Wort offen sind (vgl. Ps 19,17-23), es hören und befolgen (Lk 11,28). In dem Sinne mag auch der erste Eindruck einer Doppeltür nicht verkehrt gewesen sein. Wer mit Gott geht, dem öffnen sich aus der Begegnung mit seinem Wort immer wieder Türen und es erschließen sich lichte Räume – gerade in ausweglosen Situationen.

„Über denen, die im Land der Finsternis wohnen, strahlt ein Licht auf (Jes 9,1b).

Vernagelte Schrift

Hinter einem „Gitter“ von geknickten Nägeln zeichnet sich eine graue Handschrift auf der hellen Leinwand ab. Von Hand geschriebene Sätze, denen die Zahlen 43 und 44 vorangestellt sind und weitere Zahlen und Buchstabenabkürzungen folgen, sind mit langen Nägeln zugenagelt worden.

Der Umstand, dass kein Nagel in die Schrift geschlagen, sondern stets daneben angesetzt wurde, zeugt von einem Respekt vor der Autorität dieses Wortes. Erst in einem zweiten Schritt wurden die Nägel kreuz und quer über den Text gebeugt, so dass alle zusammen eine harte Gegenschrift aus Metall bilden, die sich wie ein Maschenzaun über das geschriebene Wort legt. Meistens bilden zwei Nägel zusammen ein X, als wollten sie die lebendige Schrift durchstreichen, unkenntlich machen, damit ihr Inhalt nicht wie ein Virus in die Köpfe und Herzen der Betrachter hinüberspringt.

Was steht denn geschrieben, dass die Worte auf so wenig Gegenliebe stoßen und versucht wird, sie zu beschmutzen – so könnten die schwarzen fleckenartigen Erscheinungen gelesen werden – oder sie sich wie durch ein Gitter vom Leibe zu halten?

43 „Ihr habt gehört, daß gesagt ist, “Du sollst deinen Nächsten lieben” (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen.
44 Ich aber sage euch: “Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen” 2. Mose 23,4.5 ; Lk 6,27.28 . a Röm 12,14.20 b Lk 23.34; Mt 5,43; Apg 7,60

Dieser Satz stammt aus der Bergpredigt (Mt 5-7), wie er von Matthäus im 5. Kapitel seines Evangeliums überliefert wird. Jesus richtet die Worte an seine Jünger und alle, die sich um ihn versammelt hatten, um zu hören, weil er nicht wie einer ihrer Schriftgelehrten lehrte, sondern mit einer ungewöhnlichen Autorität. Aufbauend auf die herkömmliche Unterweisung lehrte er sie die neue Gerechtigkeit der Kinder Gottes, also eine neue, zum Teil bis dahin als unehrenhaft geltende Form des Zusammenlebens. In seinen Sätzen ist eine Sprengkraft, die für viele unbequem, herausfordernd, vielleicht sogar so überfordernd ist, dass sie sich wünschen, die Worte Jesu nie gehört zu haben.

Die guten Menschen lieben – ja! Aber diejenigen, die einem Böses wollen, das geht zu weit. Doch Jesus setzt noch eins oben drauf: Bittet auch für diese Menschen, die euch verfolgen! – Haben nicht gerade sie unser Gebet nötig, damit sie Einsicht und Kraft erhalten, von ihrem Tun zu lassen, umzukehren und gute Menschen zu werden?

Der Künstler hat die zwei Sätze mit Anführungs- und Schlusszeichen als direkte Rede hervorgehoben. Mit dem Du richtet sich Jesus zeitlos auch an uns als Betrachter: „DU sollst deinen Nächsten lieben“, „Liebt [ihr] eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“.

Der über diese Worte gebeugte Nagelteppich lässt die Gewalt der Hammer-Schläge und den Druck der Mächtigen spüren, mit dem sie Menschen bedrängen, belasten und in die Knie zwingen. Der von Jesus angesprochene Feind und die bedrängende Verfolgung kommen im Symbol der gekrümmten Nägeln auf einmal beängstigend nah und machen die Überwindung erfahrbar, die es braucht, den zu lieben und für den zu beten, der mir das Leben schwer macht.

Schrift-Bild

Auseinandersetzung
Schriftzeichen begegnen uns im Alltag überall: meist schwarz auf weiß transportieren sie in den Printmedien, der Werbung, dem Straßenverkehr und an anderen Orten Informationen. Kontrastreich und linear geordnet dienen sie der guten Lesbarkeit. Der Sinn der Buchstaben und Worte soll schnellstmöglich erfasst werden können. Wenn ein Künstler die Schrift selbst gestaltet, lässt er sie zu einem Bild, zu einem Schriftbild werden. Diese Schriftbilder wollen keine Illustration, sondern ein Durchdringen und Vertiefen des Wortsinns zum Ausdruck bringen. Durch die Gestaltung der Buchstaben und Worte sowie des Hintergrunds wird der Wortsinn verstärkt, die Schrift selbst zu einem sprechenden Bild.

Worte aus dem Buch Jeremia (1,17-19) haben Samuel Buri zu einem farbenfrohen, geradezu kunterbunten Bild inspiriert. Die gleichmäßig großen, handgeschriebenen Buchstaben füllen das ganze Bildfeld aus. Auf dem vielfarbigen Hintergrund heben sie sich durch ihre eigene Farbigkeit mehr oder weniger kontrastreich ab. Manchmal wechselt die Farbgebung der Buchstaben mitten in einem Wort. Durch diese plötzlichen Wechsel entstehen Irritationen. Ein äußerst lebendiges Geschehen voller Veränderungen wird deutlich. Intensive Farben und klare Abgrenzung zwischen Schrift und Hintergrund vermitteln im oberen Teil ebenso gegensätzliche Positionen wie Nachdruck im Gesagten. In der unteren Bildhälfte werden die Farben sanfter und gleichen sich die beiden Ebenen einander an. Doch die Auseinandersetzung bleibt spürbar.

Einzelne Worte springen dem Betrachter wie Schlagworte in die Augen und vermitteln das Wichtigste in Kürze: „Du aber gürte … sage ihnen alles, was ich dir gebiete. Erschrick nicht … Schrecken … sieh, ich … Könige … Priester … bekämpfen werden … Herrn, um dich zu retten. Jeremias“.

Da erhält ein „Du“ den Auftrag aufzustehen und entschlossen ein vielsagendes („alles“) Wort furchterregenden Menschen zu verkünden („erschrick nicht vor ihnen“). Die Aufzählung lässt ahnen, dass er mit seiner Botschaft allein gegen ein ganzes Land stehen wird, angefangen von den Machthabern über die Priester bis hin zum einfachen Volk. Aus dem Wortlaut geht hervor, dass er eine unbequeme Botschaft verkünden muss, eine Botschaft, die niemand hören will. Deswegen werden sie ihn bekämpfen und versuchen ihn mundtot zu machen. Doch der Beauftragte soll nicht erschrecken, wenn sie ihn angreifen, denn sein Auftraggeber hat ihn mit einer Widerstandskraft ausgestattet, die einer befestigten Stadt gleicht. Denn Gott selbst, der Herr, wird mit ihm sein. Wie eine beglaubigende Unterschrift steht am Ende des Textes der Name Jeremias.

Jeremias
Die Worte richten sich an den jungen Jeremias auf der Suche nach seiner Aufgabe im Leben. Er war Sohn eines Priesters aus dem heutigen Anata und muss um 650-625 v. Chr. geboren sein. Seine Zeit war von politischen Machtkämpfen im ganzen vorderasiatischen Raum geprägt. Das assyrische Reich beherrschte damals das Gebiet zwischen Nil und Tigris. Die judäischen Könige waren Vasallen von Assur und mussten Tribut zahlen. Babylon, Medien und Ägypten erhoben sich gegen die assyrische Herrschaft, wodurch Judäa immer wieder zum Kriegsschauplatz wurde. Dementsprechend schlecht war der sittlich-religiöse Zustand in Judäa. Öffentlichem Götzendienst standen die Priester meist hilflos gegenüber, ebenso der Verrohung und dem Verfall der Sitten im privaten und öffentlichen Leben.

In diesem Milieu hatte Jeremias ein starkes inneres Erlebnis. Er spürte deutlich den Auftrag Jahwes, sein Volk wachzurütteln und zur Umkehr zu bewegen. Und er solle dies nicht in den Fußstapfen seines Vaters inmitten der versagenden Priesterschaft tun, sondern als Wanderprediger und Weissager. Damit war er mit der Weisung, dem Auftrag Jahwes zu folgen und dem Versprechen, dessen Schutz und Beistandes sicher sein zu können, ganz auf sich allein gestellt. Dieses innere Erlebnis stellt das Buch Jeremias mit dem zu dieser Zeit üblichen Stilmittel der wörtlichen Rede in Dialogform lebensecht dar. Im Schriftbild von Samuel Buri wird der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung zwischen Jahwe und Jeremias, der sich der ihm zugedachten Aufgabe entziehen will, weil er sich ihr in seinen jungen Jahren nicht gewachsen fühlt, miterlebbar veranschaulicht.

Auftrag und Entscheidung
Geradezu unheilvoll haben sich im oberen Bildteil die Farben zu einem dunklen Gewitterhimmel zusammengebraut. Ungewissheit, ratloses Hinundhergerissensein sind herauszuspüren. Die wechselnden Farben geben alle Phasen eines inneren Kampfes wieder: soll ich, soll ich nicht; kann ich, kann ich nicht; will ich, will ich nicht; muss ich dem Ruf folgen oder kann ich mein Leben so gestalten wie ich will? Warum verspüre ich ein so starkes Gefühl der Sicherheit von Jahwes Auftrag und seinem Schutz und andererseits Angst und Unsicherheit? So geht der Auftrag, der eigentlich in klaren weißen Buchstaben dasteht, durch die emotionale Einfärbung an manchen Stellen beinahe in den brodelnden Gefühlen und widerstreitenden Gedanken unter, die er auslöst. Erst im unteren Viertel des Bildes ist mehr Gleichmaß, mehr Ruhe, als habe sich der Entschluss gefestigt, den Auftrag in der Hoffnung auf Jahwes Beistand anzunehmen.

Eine Widmung am rechten Bildrand stellt eine Brücke zur Gegenwart dar: „für FB von SB“. Der Künstler hat das Bild seinem Vater, dem evangelischen Theologen Fritz Buri gewidmet. Im Entstehungsjahr des Bildes wäre er hundert Jahre alt geworden. In jungen Jahren hat er diesen Text von seinem Professor als „Weisung“ auf den Weg als Theologe und Pfarrer erhalten. Gott beruft zu jeder Zeit Menschen in ihre je eigenen Lebensaufgaben, im weitesten Sinn also in Seinen Dienst. Jeder steht einmal oder wiederholt in diesem vom Künstler so anschaulich dargestellten Entscheidungsfeld und muss sich entscheiden. Insofern sind und bleiben das anfängliche „Du“ Anspruch und Auftrag an jeden Menschen, die weiteren Worte Gottes Ermutigung.

 

Dieses Bild entstammt der Zürcher Bibel – Kunstbibel 2007. Einspaltige Ausgabe mit 25 Schriftbildern von Samuel Buri 2007, ca. 2000 Seiten, 14,2 x 22 cm, Hardcover, ISBN 978-3-85995-243-0, CHF 60,00 / EUR 38,00

Prospekt zur Zürcher Bibel 2007 mit allen Aquarellen von Samuel Buri

Dieser Bild-Impuls wurde in der Ausgabe 1/2008 der Zeitschrift “das münster”, Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft erstveröffentlicht.

Unendliche Sehnsucht

Fragmente prägen diese Arbeit, die eine Kreuzwegstation sein will. Von links nach rechts sind waagrecht aneinandergereiht zuerst ein Bildzitat, dann ein Schriftzitat mit zwei großen Zierbuchstaben oben und unten. Es folgen eine Stoffapplikation mit Häkelspitze, ein Röntgenbild sowie waagrechte Schriftzitate in spanischer Sprache. Sie alle sind akkurat auf einem feinen Tuch aufgetragen und durch Linien aus Nadelstichen verbunden.

Die linke Begrenzung bildet ein Ausschnitt aus der Beweinung Christi von Botticelli (1490/92). Auf Goldgrund herausgehoben sind die Brust Jesu mit dem herabhängenden Arm zu erkennen, darüber zwei verschränkte Hände und ein verhüllter Kopf. Dazwischen steht waagrecht „la IIIa caída“ (span. der dritte Fall) geschrieben. Ein Hinweis auf das Thema dieser Kreuzwegstation und gleichzeitig, das zweite Fragment kreuzend, zu einem auf grünem Grund applizierten Stofffragment führend. Die Kreuzbordüre verweist auf seine Herkunft als Altartuch. Die Vertikale des Kreuzes liegt genau auf einer das Bild durchquerenden Linie und wird durch eine kaum lesbare Inschrift nach oben verlängert: “Nada deseo más que a mi propio desco.“ (Ich sehne mich nach nichts mehr als nach meiner eigenen Sehnsucht.) Rätselhafte Worte, die wir fürs Erste stehen lassen müssen.

Rechts schließt sich die Radiographie einer stark gekrümmten Wirbelsäule an. Hell ist der Brustkorb ersichtlich. Schmerz ist spürbar, Aufbäumen, Kampf, hinten Hinunterfallen. Die Dynamik und Dramatik des Bildfragmentes aus Botticellis Beweinung wird hier fortgesetzt. Die gelblichen Spuren suggerieren große Mengen auslaufender Körperflüssigkeit: Entweichendes Leben, Erschöpfung, Kraftlosigkeit. Quer durch das Kreuz hindurch verbindet ein Pfeil aus Nadelstichen die Wirbelsäule mit dem Brustkorb Jesu: Das Leben ist am Entweichen.

Die beiden waagrechten und senkrechten Linien, die in den meisten anderen Kreuzwegstationen durch ihren Abstand eine Kreuzform bilden, sind hier in Schieflage gekommen. Steil führen die Linien von rechts oben nach links unten, sie überschneiden und kreuzen sich in der Mitte. Hier ist kein Platz mehr für Leben, es geht dem Ende zu.

Ebenfalls mit Goldfarbe geschriebene Worte in spanischer Sprache verstärken diesen Eindruck. Sie stammen aus dem Buch Infarto del Alma (Seeleninfarkt) der chilenischen Schriftstellerin Diamela Eltit. In der Übersetzung von Ursula Varchmin lauten sie: „Wir werden nie wieder gehen, keine Wiese mehr überqueren. / Mit dir erlosch mein Schicksal und es blieb mir die Last meiner unendlichen Sehnsucht. / Wie außergewöhnlich die Verwandlung in einen von Mitleid erfüllten Gott.“

Die Grundlagen für die Meditation dieser Kreuzwegstation wären ohne das Offenlegen des Textfragmentes auf der linken Seite unvollständig. Es stammt aus einem deutschen Erste-Hilfe Buch und gibt die Anweisung wieder: „Nach Möglichkeit sollten stark blutende und entstellende Wunden umgehend abgedeckt werden.“

Die vielfältigen Gestaltungselemente fordern die Wahrnehmung heraus. Äußeres wird mit Innerem verbunden, Körperliches mit Geistigem. Begegnung und Auseinandersetzung sollen geschehen, ähnlich wie an einem Krankenbett, aus dessen Laken der Grundstoff stammt und dessen Grundform durch das Längsformat angedeutet wird. Vom Leidensweg ausgehend, führt dieser Kreuzweg Jesu zu den Leiden eines jeden Menschen. Dabei erzählen die einzelnen Bilder auf eigene Weise „Leidensgeschichte“ – indem sie in Bild und Poesie starke Impulse geben.

Die Ausweglosigkeit des Leidens wird hier in Sprachform gebracht. Der Leidende hat den Boden unter den Füßen verloren, er wird „nie wieder gehen können“ und befindet sich gewissermaßen im freien Fall. Haltlos klammert er sich an seine unendliche Sehnsucht nach Heilung und Erlösung, die ihm angesichts der Ausweglosigkeit allerdings Last ist.

Der altertümlich formulierte Rat aus dem Erste-Hilfe Buch zeigt die Notwenigkeit auf, dem Klagenden beizustehen und erste Hilfe zu leisten. Der Rat mag der Situation nicht wirklich angepasst sein. Aber macht er nicht deutlich, dass wir das Leiden nicht entfernen, sondern den Leidenden durch unsere Teilnahme allenfalls trösten, den Schmerz lindern können?

Der Mensch kann den physischen und psychischen Beschwerden nicht entfliehen. Er muss sie aushalten und lernen, mit ihnen umzugehen, wie aus dem Textfragment aus dem Buch Infarto del Alma hervorgeht. Seine einzige Hoffnung bleibt das schier Unglaubliche: ein mitleidender Gott. Das sich zwischen den Texten befindliche und optisch leicht in den Vordergrund gestellte Stück Altartuch versucht diesen Gedanken zu visualisieren. Auf ihm wurden Tod und Auferstehung desjenigen gefeiert, der am Kreuz seine Sehnsucht nach Leben durchlitten, stellvertretend für alle, die ihm ihre Lasten und Leiden anvertraut haben. Jesus verbindet. So kann die Altartuchreliquie zu einer symbolischen und zeitlosen Einladung werden, alles Sehnen und alles Bedrückende, ja das ganze Sein in Gottes Hand zu legen, damit in seiner Liebe das Außergewöhnliche geschehen kann: unverhoffte Auferstehung, ungeahntes Leben.

Diese Arbeit war im Rahmen der Ausstellung VIA DOLOROSA im März 2008 in der Kirche St. Bonifaz in München ausgestellt. Ein Katalogbuch mit den Abbildungen und Texten zu allen 14 Stationen ist bei der Künstlerseelsorge in München zum Preis von 15,- Euro + Porto erhältlich. Email: kuenstlerseelsorge@ordinariat-muenchen.de

Ausführliches Interview mit Lilian Moreno Sánchez anlässlich ihrer Ausstellung zum “Aschermittwoch der Künstler” 2013 in Hildesheim

Unser Vater

In intensiven Farben präsentiert sich uns ein altbekannter und vielen wahrscheinlich auch vertrauter Text: das Gebet zum Vater im Himmel, das Jesus seine Jüngern gelehrt hat. Mit diesen Worten wurde ein Bild gestaltet, das auf Illustration verzichtet, um “das Wort transparent werden zu lassen” (Samuel Buri). Mit graphischen Mitteln hat er die Bedeutung des Wortes hervorgehoben und den alten Worten durch die frischen Farben Fröhlichkeit und neue Aktualität verliehen. In dem Gebet ist Lebenskraft.

Durch die Schrifttypen und -größen lassen sich zwei Bildebenen unterscheiden. Auf der unteren befinden sich die drei Wörter “unser Vater” und “AMEN”, die durch ihre Größe visuell im Vordergrund stehen. “unser Vater” steht in himmelblauen Buchstaben oben. Bei betrachtendem Verweilen fällt erst die Mischung von Groß- und Kleinbuchstaben auf. “UnSer VaTer” steht da. Was das wohl zu bedeuten hat? Ist das kindlich-unbedacht so hingeschrieben? Oder dient es der graphischen Gestaltung? Oder können wir an ein Passwort aus der Computerwelt denken, das aus verschiedenerlei Zeichen zusammengesetzt den Zugang zu einem gewünschten Bereich öffnet? Wie dem auch sei, es ist jedenfalls keine steife, förmliche Anrede, die obenan steht, sondern eher eine vertraute. Von Natur aus schauen wir zum Vater auf. Seit Jesus dürfen wir Gott Vater nennen, ist Gott als Schöpfer unser aller Vater.

In großen Buchstaben steht “AMEN” in feurigem Orange unten an der Basis dieses Schriftbildes. Ein bekräftigendes Ja von uns Menschen, ja, so geschehe es und so sei es, was der Lesende in diesem Gebet bekennt. Durch viele Jahrhunderte hat sich dieser Akklamationsruf erhalten – einst das einzig aktive Mittun der Gemeinde – heute noch in den Gottesdiensten der Juden, Christen und Muslime beheimatet. Die freie Schreibweise dieser drei Wörter lassen sie in ihrem Auf und Ab geradezu melodiös klingen: fröhlich beschwingt oben, fest und feierlich unten. Zusammen mit dem mit luftigen Farbfeldern gestalteten Hintergrund vermitteln sie Lebendigkeit und Individualität. Das Herrengebet erscheint so als ein starkes und sehr persönliches Gebet.

Die obere Ebene ist im Unterschied zur unteren streng linear gestaltet. Auf dem freien Untergrund erscheint das in zwei Farbblöcke geteilte Rechteck mit den regelmäßigen Zeilen und der kleinen Schrift in ebenso regelmäßigen Großbuchstaben wie eine Bekanntmachung im öffentlichen Raum. Hier wurden Worte in einen festen Rahmen gebracht. Nüchtern, ohne Gewichtung, ohne Spielraum. Nur die Farben wechseln ab: blau, gelb, blau, gelb … wie die beiden Farbhälften, die dem Gebet, das aus unserem menschlichen Leben kommt – die vielen Horizontalen deuten dies an – eine klare vertikale Ausrichtung geben.

Die beiden Farben Blau und Gelb bilden auch die Farbe der Schrift. Die Buchstaben sind auf dem jeweiligen Hintergrund gut lesbar, weil die Schrift durch orangefarbene und dunkelblaue Balken hervorgehoben wird. Durch diese Farbsprache entsteht eine lebendige Beziehung zwischen dem himmlischen “unser Vater” und dem irdischen “Amen”, die das Gebet zu einer breiten Treppe zum gemeinsamen Vater werden lässt.

Die plakatähnliche Darstellung von Samuel Buri gibt sich als farbenfrohe Einladung an uns Betrachter, dieses Gebet Wort für Wort, Stufe um Stufe zu “beschreiten”, um so die Größe und die Tiefe dieses Gebetes zu erfahren – die befreiende und stärkende Kraft, die aus dem Vertrauen zum Vater im Himmel kommt.

Dieses Bild entstammt der Zürcher Bibel – Kunstbibel 2007. Einspaltige Ausgabe mit 25 Schriftbildern von Samuel Buri 2007, ca. 2000 Seiten, 14,2 x 22 cm, Hardcover, ISBN 978-3-85995-243-0, CHF 60,00 / EUR 38,00

Prospekt zur Zürcher Bibel 2007 mit allen Aquarellen von Samuel Buri

Kommunikationsproblem

Einsam steht die schwarze Gestalt da, von einem geheimnisvollen grauen Schatten hinterfangen und vor einem roten Bilderrahmen. In diesem leuchtet ein blitzartiges Licht mit Wortfragmenten auf. Horizontale gelbe und weiße Linien verbinden die Erscheinung durch den Rahmen hindurch zu einem Komplex von gestapelten Linien am rechten Bildrand.

Mit dem Lichteinbruch scheint vieles erschüttert worden zu sein. Da ist ein Bild, eine Vorstellung in Schieflage geraten, wie spiegelndes Glas in Brüche gegangen. Das einst Dargestellte ist zerstört, die Erkenntnis erschwert. So sind von den in die Bildmitte (!) geschriebenen Worten nur die Ersten und die Letzten deutlich lesbar: DAS IST DIE SPRACHE … … NICHTS … DAS … SIE … ALLE, … Den Wortteilen dazwischen fehlt die Kraft, einen Sinn zu vermitteln. Mit dem Hinweis auf die Sprache vermögen die vorhandenen Bruchstücke dennoch zu signalisieren, dass hier ein Kommunikationsproblem besteht: Die Aussage kann nicht verstanden werden.

Geheimnisvolle Erscheinung
Nicht nur einsam, sondern auch etwas traurig steht der Mann auf der einen Seite des Sprachproblems. Aus seinem gesenktem Kopf schauen runde, an Brillengläser erinnernde Augen nachdenklich, nach innen wie nach draußen alles Sichtbare durchdringend, in die Weite. Sein langes Gewand lässt in ihm eine Persönlichkeit aus der Antike oder noch früher sehen. Seine Erscheinung ist von waagrechten Linien gezeichnet und damit teilweise verdeckt. Obwohl alles an ihm sichtbar ist, kann er doch nicht richtig erfasst werden.

Der Mann bleibt geheimnisvoll. Um so mehr, als er vor einer rätselhaften Präsenz steht, die größer ist als er und überwiegend aus Linien besteht, die in Bewegung sind. Sie scheint den Mann von allen Seiten zu umfangen, ihn gewissermaßen zu halten und, aus den über seinen Schultern hereinfließenden Strömen zu schließen, gleichzeitig zu erfüllen und zu durchdringen. So wie die graue Präsenz hinter ihm steht, erscheint der Mann im Vordergrund, beauftragt, stellvertretend für den Unfassbaren eine Botschaft zu vermitteln.

Gestörte Wahrnehmung
Wer wohl sein Adressat ist? Die schwarze Farbe verbindet den Mann mit der rechten Bildhälfte, die zudem ähnliche waagrechte Linien aufweist. Wie Spinnweben hängen sie leicht und zerbrechlich im Dunkeln, sensibilisiert, jede Bewegung wahrzunehmen und alles, was sich bewegt, zur möglichen Nahrungsaufnahme aufzufangen. In ihren wellenartigen Bewegungen ist außerdem einem Kardiogramm gleich der Pulsschlag des Lebens spürbar: Ihre Vielzahl mag eine große Menschenmenge zu veranschaulichen. Genauso können in den Linien physikalische Wellen gesehen werden, mit denen eine Botschaft an einen Empfänger gesendet wird. Die unterschiedliche Ausführung der Linien macht auch hier das bereits angesprochene Kommunikationsproblem sichtbar: Nur wenigen Linien gelingt es, den Rahmen zu durchbrechen und mit dem Licht Verbindung aufzunehmen. Das ist allerdings noch keine Garantie, dass die erhellende Botschaft erfasst werden kann, denn die unverständlichen Wortfetzen bleiben.

Um darauf hinzuweisen, dass diese Verständigungsschwierigkeiten ein zutiefst menschliches und damit überzeitliches Problem sind, hat die Künstlerin Christina Simon das Schrift- und Bildzitat in Anonymität gekleidet. Wer die beiden nicht aus einem anderen Zusammenhang kennt, vermag sie nicht zu identifizieren. Durch ihre kulturelle Differenz schaffen sie zudem einen gewaltigen zeitlichen Spannungsbogen. Beide sind gewissermaßen Propheten in ihrer Zeit, die um die beste Sprachform gerungen haben, um das herüberzubringen, was sie im Leben bewegt hat: Habakuk Ende des 6. Jh. v. Chr. in Jerusalem, der Lyriker und Übersetzer Paul Celan in der Mitte des 20. Jh. in Deutschland. Jeder stößt auf seine Weise auf Unverständnis.

Sensible Vorbilder
Als Vorbild für die Gestalt des Propheten Habakuk begeisterte die Künstlerin die gleichnamige Plastik von Donatello, die um 1423-25 entstanden ist und sich heute im Dommuseum in Florenz befindet. Geerdet, doch hochgewachsen und fest wie ein Säule steht Habakuk da. Dennoch erscheint er in seinem Wesen zart, zerbrechlich und verletzbar. Damit spiegelt er seine eigene Zerrissenheit: Auf der einen Seite spricht aus seinem Gebet ein starker, zuversichtlicher Glaube an Gott (Hab 3,2-19), auf der anderen Seite fühlt er sich mit seinen Fragen alleingelassen: „Wie lange, Herr, soll ich noch rufen und du hörst nicht? Ich schreie zu dir: Hilfe, Gewalt! Aber du hilfst nicht.“ (1,2) Doch Gott ist nicht fern und antwortet. Er gibt dem Propheten zu verstehen, dass er den im Glauben Treuen beisteht und vor dem sicheren Tod bewahrt (vgl. 2,4).

Im Bild steht die Gestalt des Habakuk sinnbildlich für den rechtschaffenen und gottesfürchtigen Menschen. In der grauen und sich in Bewegung befindenden Figur ist er von Gottes geheimnisvoller Gegenwart hinterfangen. Neben ihnen wird im grellen „Blitzlicht“ Habakuks Vision vom Kommen Gottes sichtbar: „Er leuchtet wie das Licht der Sonne, ein Kranz von Strahlen umgibt ihn, in ihnen verbirgt sich seine Macht.“ (3,4)

Christina Simon hat in den alles sprengenden Lichteinbruch hinein poetische Worte aus Paul Celans einzigem Prosatext “Gepräch im Gebirg” (1959) hineingeschrieben. Durch das Licht erhalten die Schriftzeichen Aufmerksamkeit. Sie wollen Brücken zwischen den Menschen bauen und bleiben doch fragmentarisch, weil der eine die Wahrheit nur facettenhaft vermitteln, der andere sie wegen seiner gestörten Wahrnehmung nicht verstehen kann.

Lichtblick
Ist das Bild demnach ein Bild der Hoffnungslosigkeit? – Nein, es offenbart einfach eine menschliche Schwäche … und lädt ein, sich wie Habakuk im Gebet an Gott zu wenden. Möge er uns doch mit seinem Licht erhellen und unsere Herzen öffnen, damit wir einerseits die Worte unserer Mitmenschen hören und verstehen, andererseits geistreich zu sprechen wissen.

Dieser Bild-Impuls wurde in der Ausgabe 1/2007 der Zeitschrift “das münster”, Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft erstveröffentlicht.

Warten auf Gott

Aus der Ferne erkennt man auf den ersten Blick nicht viel auf diesem dreiteiligen Bild. Feine horizontale Linien durchziehen fast die ganze Bildfläche des Triptychons. Nur oben ist ein schmaler Streifen leer geblieben. Durch diesen hohen „Horizont“ entsteht der Eindruck einer graphisch vereinfachten Landschaft, welche an die Weite des Meeres oder einer Ebene erinnert.

Minimale Unterschiede in Abstand, Linienführung und Farbe lassen aufmerken. Bereits aus dem Gesamteindruck ist die freie Hand der Künstlerin herauszuspüren, die bewusst ohne technische Hilfsmittel gearbeitet hat. Die hinterlassenen Linien haben auf der Leinwand eine sehr menschliche, von Unregelmäßigkeiten geprägte Spur hinterlassen.

Aus der Nähe offenbaren sich die horizontalen Linien als eine Aneinanderreihung von unermesslich vielen Schriftzeichen, die ohne Abstand, Punkt oder Komma aneinandergefügt worden sind. Um was für eine Sprache es sich wohl handelt? Was wurde hier niedergeschrieben und mit einem Schriftbild dokumentiert?

Auf den ersten Blick erhalten wir durch die gleiche Größe der Buchstaben und der vielen senkrechten Striche den Eindruck einer alten, uns fremden Schrift. Mit der Zeit können einzelne Buchstaben wie E, U, T und W entziffert werden, doch ein Wort- oder gar Satzzusammenhang versperrt sich dem Eiligen. Dieser Text scheint keinen Anfang und kein Ende zu haben und lässt uns als Betrachter kaum einen Zugang offen.

Dadurch passiert etwas mit uns. Die scheinbar unverständlichen Zeichen verlangsamen unser Lesetempo und machen uns zu Suchenden. Da sich der Schriftsinn nicht gleich erschließt, wird unsere Geduld auf die Probe gestellt. Dieses Ausharren macht uns zu Wartenden.

Dabei entdecken wir vielleicht, dass auch das Niederschreiben dieses Textes viel Zeit gebraucht hat. Die leere Fläche war noch zeitlos. Indem die Künstlerin aber in diese Fläche eine Abfolge von geordneten Zeichen setzte, hat sie ihr gleichzeitig die dafür notwendige Zeit eingeschrieben: Die verschiedenen Tageszeiten, die Zahl der dafür gebrauchten Stunden und Tage.

So nimmt uns die Künstlerin in eine ausdauernde Meditation des sechsten Verses aus dem Psalm 130 hinein: „Meine Seele wartet auf den Herrn mehr als die Wächter auf den Morgen“.

Das Verweilen vor dem Triptychon beruhigt und lässt zudem still werden. Wer wartet, ist in Erwartung. Und wer jemanden erwartet, ist ein bis an die Wahrnehmungsgrenzen Horchender und Schauender, damit er kein Zeichen seiner Ankunft verpasst. Um so mehr, wenn es sich beim Kommenden um Gott handelt, von dem es im Psalm (V. 7b-8) weiter heißt: „Denn beim Herrn ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle. Ja, er wird Israel erlösen von all seinen Sünden.“

Und die Vergebung durch Gott wird, wie es die Größe des Triptychons und der weite Horizont andeuten, unermesslich sein. „Herr, deine Güte reicht, so weit der Himmel ist, deine Treue, soweit die Wolken ziehen“, betet der Psalmist an einer anderen Stelle (Ps 36,6). – Wer möchte das verpassen?

Bitte um Gebet

Ein ungewöhnliches Kunstwerk: Ein handgeschriebener Brief auf gelbem Papier! Eine unbekannte Person wendet sich dankbar an eine Christine, die bereit ist, für sie und ihre Anliegen zu beten. Es folgt eine Aufzählung der Wünsche, die zuerst die Person der Bittenden betreffen, dann ihre Eltern, ihren Bruder, ihren Onkel, letztlich alle Menschen. Den Anfang aufnehmend, endet der Brief mit einem großgeschriebenen und vermutlich auch erleichterten DANKE.

Es ist selten, dass ein solches Dokument in der Öffentlichkeit präsentiert wird. Sie sind vielmehr in den Gebetsanliegen-Büchern im geschützten Raum der Kirchen gut verborgen. Denn die Wünsche und Anliegen verlangen vertraulichen Umgang. Wer sein Herz öffnet, wird verletzlich. Um sich davor zu schützen, hat die Schreiberin wahrscheinlich Datum und Unterschrift weggelassen. Dadurch ist der Brief nicht zeitlos und unpersönlich, sondern überzeitlich und ein mögliches Anliegen von vielen geworden.

Wie kam es zu diesem Brief? Die Künstlerin bat ihre Klassenkameradinnen und Freundinnen, ihre persönlichen Anliegen bezüglich des Studiums, des künstlerisches Arbeitens, der Familie, usw. aufzuschreiben und die Briefe jeweils an eine Schwester des Säkularinstituts Cruzadas de Santa Maria zu richten, die sich bereit erklärt hatte, für die Wünsche der Studentinnen zu beten. Die Schreibenden wussten, dass die Briefe zu einem Kunstprojekt gehören und ausgestellt werden.

Für viele Studentinnen war es etwas besonderes, dass jemand für ihre Anliegen betet. Dass sich jemand Unbekanntes für sie Zeit nimmt und vor Gott für sie betet. Aus dem Brief geht hervor, dass es ihnen gut tat, alle Wünsche, die sie innerlich bewegen, in einem Brief an eine Vertrauensperson äußern zu können. Durch die Bitte der Künstlerin wurde in ihnen der Glaube geweckt, dass ein einem Menschen und durch ihn auch Gott mit-geteiltes Anliegen eher Erfüllung finden wird. Die Worte Jesu, „Alles, was zwei von euch auf Erden gemeinsam erbitten, werden sie von meinem himmlischen Vater erhalten,“ sind aus diesem Brief herauszuspüren (Mt 18,19). Und wie er wenig später zu seinen Jüngern sagt: „Alles was ihr im Gebet erbittet, werdet ihr erhalten, wenn ihr glaubt.“ (Mt 21,22)

Bei diesem und den anderen Briefen geht es nicht um die Diskussion, ob sie von der Herstellung her Kunstwerke sind, sondern um ihre Aussage. Bewegt vom Angebot der Künstlerin, dass Schwestern für sie und ihre Anliegen beten werden, haben Menschen wie du und ich ihre Wünsche formuliert. Zutiefst berührt, sind durch sie moderne Glaubenszeugnisse entstanden, die ihrerseits berühren und bewegen. Die Briefe können als „Spiegel“ unserer (Betrachter-) Wünsche betrachtet werden. Sie können aber auch als Impulse zum Innehalten, zum Bewusstwerden der eigenen Wünsche und vielleicht auch zum Niederschreiben an einen Menschen, dem man vertraut, gesehen werden. Aus der Sehnsucht heraus, in der Einsamkeit der eigenen Gefühle und Wünsche nicht allein zu sein, sondern gehört und erhört zu werden.

Gefesselt? – Entfesselt!

Wer unbedarft in den Raum mit diesem Kunstwerk kommt, begegnet zuerst einmal vier überdimensionalen Büchern, die von vielen Händen aus einer rot oder blau schäumenden Masse hochgehalten werden. Jedes Buch ist mit einer vierfachen Kette in Kreuzform umschlungen und mit einem Vorhängeschloss gesichert. Buchrücken und Frontseite weisen unmissverständlich darauf hin, dass es sich um die Heiligen Schriften des Judentums, des Christentums und des Islams sowie eines Buches des Dalaï Lama handelt. Gefesselte Bücher?

Thomas Hirschhorn provoziert mit dieser Arbeit viele Fragen und regt zum Nachdenken über das Buch der Bücher an:

Ist der Inhalt der Bücher so gefährlich, dass sie zugeschnürt werden müssen, damit ihr Wort nicht weiter wirkt? Doch das steht im Widerspruch zu den vielen Händen. Sie scheinen Menschen zu gehören, die in der überschäumenden roten – an Blut erinnernden – Masse ertrinken und als letzte Handlung gemeinsam die Heilige Schrift zu retten versuchen.

Gesellschaftskritisch gefragt: Sind wir eine untergehende Glaubensgemeinschaft? Versinken wir im Überfluss der überbordenden Konsumgesellschaft, welche uns das Leben kostet. Noch wird die Heilige Schrift hochgehalten, noch scheinen wir unser Leben für diesen letzten Wert einzusetzen … doch das Buch, das weitergereicht wird, … ist verschlossen.

Aber dann kann es seine Bestimmung nicht erfüllen. Ein verschlossenes Buch, ein Buch, das nicht geöffnet wird und nicht geöffnet werden kann, ist nur noch eine wertlose Attrappe. Doch das kann es nicht sein, die Menschenhände halten es in die Höhe! Das Kunstwerk könnte einen Aufschrei darstellen, dieses große, weil großartige Buch zusammen mit meinen Zeitgenossen aus den Händen der untergehenden Generation retten. Es ist ein Appell an uns, nicht tatenlos zuzuschauen, sondern aktiv zu werden. Das gekreuzigte Buch, das bereits wie eine Grabplatte auf einer Gedenkstätte liegt, von seinen Ketten zu erlösen und aufzuschlagen, damit seine Worte wieder atmen können. Und durch unser Lesen werden die göttlichen Worte wieder lebendig werden und durch unser vom Heiligen Geist gelenktes Denken und Handeln die Gesellschaft erneut mit Leben erfüllen.

Nein, die Heilige Schrift ist weder ein Buch mit sieben Siegeln noch ein gefesseltes Buch, sie ist ein entfesseltes Buch! Wer ihre Worte liest und glaubt, geht nicht unter, sondern wird zum ewigen Leben auferstehen.