Stuhl der Weisheit

Aus einem Berg geschredderter Papiere ragt ein Stuhl heraus. Er ist über und über mit Rechnungen beklebt, so als bestünde er selbst aus lauter Rechnungen. Der Stuhl ist dem Betrachter zugeneigt, in Schieflage und leert wie die Kipper-Mulde eines Lastwagens – sich dabei aber auflösend – einen riesigen Haufen Schnipsel über seine Kante auf den Boden. Dieser Stuhl ist ein Schuldenvernichter. Wer sich ihm anvertraut, bleibt nicht auf seinen Schulden sitzen, sondern wird entschuldet und entschuldigt.

Der Anblick der vielen Rechnungen rückt unwillkürlich geschuldete Geldwerte in den Vordergrund. Doch diese können bei Zahlungsunfähigkeit nicht einfach vernichtet werden, weil dafür Leistungen erbracht worden sind. Ganz anders verhält es sich bei unantastbaren Menschenrechten wie der Würde des Menschen oder der Meinungs- und Bewegungsfreiheit (vgl. Art. 1 Grundgesetz). Wer durch Unachtsamkeit oder mit Absicht für die menschliche Gemeinschaft grundlegende Werte verletzt, lädt Schuld auf sich und kann diese Verfehlung nicht mit Geld wieder gutmachen. Denn diese moralischen Werte sind unbezahlbar.

Zu viele Schulden belasten unser Leben und bringen es, wie den Stuhl, in eine Schieflage. Schulden und Zahlungsunfähigkeit können so erdrückend sein, dass sie vielen Betroffenen schon lange vor dem Lebensende die Lebenskraft rauben. Damit wir wieder ins Leben zurückfinden und neu anfangen können, sind wir auf Schuldennachlass, auf Schuldenvergebung und -tilgung, auf Entschuldung angewiesen. Der in Schieflage geratene Stuhl vermittelt aber auch, dass ein Aussitzen der Probleme nicht möglich ist. Es wird Zeit aufzustehen, für begangene Fehler und angehäufte Schulden gerade zu stehen und das Leben so weit es geht verantwortlich in die Hand zu nehmen.

Der Titel der Skulptur spielt auf die Beichtpraxis in der katholischen Kirche an, bei der man durch das Schuldbekenntnis und die folgende Vergebung buchstäblich nicht länger auf seiner Schuld sitzen bleibt, weil alle „offenen Rechnungen“ wie im Schredder vernichtet werden.

Doch der Stuhl in der Skulptur ist kein kirchlicher Beichtstuhl, sondern ein einfacher Esszimmer- oder Küchenstuhl. Ein erster Schritt zur Veränderung kann ein bekennendes Gespräch über die belastenden Umstände mit einem Menschen des Vertrauens am Esszimmer- oder Küchentisch sein. Ein Gespräch mit jemandem, der mich annimmt wie ich bin, der mir zuhört und mich vielleicht mit einem guten Rat motiviert, den Weg zu ändern oder auch den eingeschlagenen Weg weiterzugehen, der aber weder auf- noch abrechnet. Der schlichte Stuhl ruft in Erinnerung, dass die Vergebung in einer gesunden Fehlerkultur in allen Situationen des Alltags und durch uns geschenkt werden kann. Im Wissen um unsere Schwächen ermutigt Jesus beide Seiten: „Und wenn er sich siebenmal am Tag gegen dich versündigt und siebenmal wieder zu dir kommt und sagt: Ich will umkehren!, so sollst du ihm vergeben.“ (Lk 17,4)

Das „Beichtgespräch“ mit dem Betroffenen und die Vergebung der Schuld durch die Annahme der Bitte um Entschuldigung sind ein Ort des Neuanfangs, der Re-création. Was geschehen ist, wird nicht mehr aufgerechnet. Alles belastende Material ist unkenntlich vernichtet und alle Zähler sind auf null gestellt. Entlastet und erleichtert kann der Entschuldigte als erneuerter Mensch von vorne beginnen.

Ohne eine tagtägliche Vergebungspraxis wäre das nicht möglich. Verzeihen und Vergeben gehören nicht zu den Menschenrechten, sind aber für ein gutes dauerhaftes Miteinander unentbehrlich. Gott hat uns damit ein weises und Frieden förderndes Instrument auf den Weg gegeben – voller Güte, Barmherzigkeit und Weisheit. Wer wie Gott handelt, der macht den „Beichtstuhl” zu einem „Stuhl der Weisheit“,  zum „sedes sapientiae“, zu einer Quelle des Lebens.

Psalm 130

Aus den Tiefen rufe ich, HERR, zu dir:
Mein Herr, höre doch meine Stimme! Lass deine Ohren achten auf mein Flehen um Gnade.
Würdest du, HERR, die Sünden beachten, mein Herr, wer könnte bestehn?
Doch bei dir ist Vergebung, damit man in Ehrfurcht dir dient.
Ich hoffe auf den HERRN, es hofft meine Seele, ich warte auf sein Wort.
Meine Seele wartet auf meinen Herrn
mehr als Wächter auf den Morgen, ja, mehr als Wächter auf den Morgen.
Israel, warte auf den HERRN, denn beim HERRN ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle.
Ja, er wird Israel erlösen aus all seinen Sünden.

Werke von Carola Faller-Barris und Thomas Lauer waren bis zum 18. Oktober 2020 in der „Kunst am Berg“-Ausstellung „Wann reißt der Himmel auf?“ in der Feldbergkirche im Schwarzwald zu sehen.

Reinheit

Eine junge Frau sitzt in einem Waschsalon mit gekreuzten Beinen auf der Abdeckung von drei Waschmaschinen. Gelassen schaut sie den Betrachter an. Über ihrem Schoß liegt ein weißes Bettlaken, das einen Blutfleck aufweist, der sich genau am Ende ihres langen Kleides und über der Einfüllklappe der Waschmaschine befindet. Neben der jungen Frau steht etwas abseits eine weiße Lilie auf der Arbeitsfläche. Zusammen mit dem Laken verbindet sie optisch die weiße Front der Waschmaschinen mit der weißen Rückwand.

Im Bild ist bis auf den roten Fleck alles sauber oder am Sauber-Werden. Dadurch werden in diesem kühlen und fast sterilen Ambiente mit den wenigen Accessoires so gegensätzliche Begriffe wie Beschmutzen und Waschen, Verunreinigen und Reinwaschen, Unschuld und Sünde, Rein und Unrein thematisiert und mit der auf den Waschmaschinen „erhöhten“ Frau mal mehr dem Himmel oder der Erde zugeordnet. Unwillkürlich muss man an Maria denken, die vor der Geburt Jesu „keinen Mann erkannte“ (Lk 1,34) und so weder ihre „Unschuld verloren“ hatte, „entjungfert“ oder „unrein“ wurde. Damit wird sie aus allen Frauen herausgehoben und erhält sogar unter allen Menschen eine einzigartige Stellung.

Im Bild befindet sich die Frau selbst in einer Grauzone, die mit ihrem melierten Dazwischen bereits auf eine Fülle von Fragen anspielt. Ihr Kopf ragt in den nahezu entmaterialisierten weißen Wandbereich, der überirdische Transzendenz andeutet. Doch während ihr Oberkörper mit den langen Haaren, dem freien Dekolleté und den bloßen Armen eher freizügig offen ist, sind die Beine mit dem langen Kleid schamhaft verhüllt. Auch steht die weiße Lilie symbolisch für ihre Reinheit, doch stellt der rote Fleck auf dem Laken ihre Unversehrtheit in Frage.

Das kühle Bild zeigt auf den ersten Blick grauen Alltag. Volle Waschmaschinen waschen verschmutzte und mit unerwünschten Gerüchen belastete Kleidungsstücke wieder sauber. Die Frau scheint zu warten, bis eine Maschine frei wird, um auch das letzte Laken waschen zu können. Die geöffnete Klappe links vorne lässt diese These jedoch ins Leere laufen und eher vermuten, dass die Frau auf etwas anderes wartet oder besser in Erwartung von jemand anderem ist. Die Art, wie das Laken auf ihrem Schoß liegt, deutet auf Jesus hin, der am Kreuz sein Blut für uns Sünder hingegeben hat und nach seinem Tod auf ihren Schoß gelegt worden ist (Darstellung der Pieta). Die Erwartung wird damit weit über die Geburt hinaus auf den alle Schuld tilgenden Tod Jesu ausgedehnt.

Das mittig im Bild platzierte weiße Laken hat deshalb eine zentrale Funktion im Bild. Es steht für Beschmutzung oder Verunreinigung jeglicher Art, die wir selbst nicht einfach wegwaschen können. Weil wir auf die Vergebung von Gott und den Mitmenschen angewiesen sind, sitzt die junge Frau wahrscheinlich so wartend da. In Bezug auf Gott kann das Laken auch wegen der Reinheit und dem Blut ein Symbol für Jesus sein, weil er beide eingesetzt hat, um uns von unseren inneren Verunreinigungen rein zu machen (vgl. Offb 1,5). Er sagte: „Was aus dem Menschen herauskommt, das macht den Menschen unrein. (Mk 7,20). Denn das Herz ist der wahre Ort der Reinheit oder Unreinheit. Deshalb bittet der Psalmist Gott um ein „reines Herz“ (24,4; 51,12), damit er bei Gott Gefallen findet. Er möchte sich nichts zu Schulden kommen lassen. Denn Gott schaut in das Herz des Menschen, wenn er sich ihm zuwendet (u. a. Ps 139).

Milena Alemanno ist es gelungen, mit dieser und fünf weiteren „zeitaktuellen Inszenierungen, hinter denen alte ikonografische Vorbilder auftauchen“, … ein Nachdenken über Begrifflichkeiten, Ideale und vielleicht auch Dogmen, etwa die Unbefleckte Empfängnis, in Gang zu setzen. … Aus der Spannung zwischen profanem Realismus der Darstellungsweise und sakralem Inhalt beziehen die Foto-Arbeiten ihren irritierenden Reiz.“ (Dr. Barbara Weyandt, Maria ImPuls der Zeit 2018, S. 15f).

Weitere Arbeiten dieser Serie:

  • Bloody Mary
  • Maria Magdalena
  • Thron der Weisheit
  • Marienkäfer
  • Mary Jane

Die sechs Arbeiten waren 2018 in der Ausstellung Maria ImPuls der Zeit zum Fest Maria Himmelfahrt in Warendorf ausgestellt.

Segen und Schuld

Zwei Bilder, in denen nur der Raum und das Kabel auf dem Boden gleich sind, erzählen von Schuld und Vergebung.

Im linken Bild sind zwei Personen erkennbar, die eine stehend und dem Betrachter zugewandt, die andere vor ihr kniend. Beide Personen sind nackt und in nebliges Licht getaucht. Nur dort, wo sich ihre Körper überlagern, wird die Haut in natürlichen Farben wiedergegeben. Die stehende Person, eine Frau, hat ihren Kopf geneigt, die Arme angewinkelt und die Hände über dem Kopf der vor ihr Knienden ausgestreckt, die von ihrer Frisur her auch als Frau identifiziert werden kann.

Im rechten Bild liegt am Ende des Kabels nur ein schwarzes Tuch auf dem Boden. Es liegt wie zufällig fallengelassen da. Der leichte Glanz vermittelt ein kostbares Gewebe. Die Künstlerin hat ein seidenes Trauertuch des 18. Jahrhunderts aus Spanien dafür verwendet. Traditionell besticken Frauen das Tuch, unter dem sie trauern, wenn ihr Mann stirbt. Die Falten wie auch die nach außen gerichteten Fransen lassen an einen darunterliegenden Körper denken, die Falten suggerieren sein Volumen, die Fransen ausgebreitete Extremitäten. Auch wenn offensichtlich nichts darunter liegt, ist doch eine Präsenz zu spüren – verstärkt durch das Selbstauslöserkabel, das vom Tuch zum Betrachter verläuft –, eine von großer Last zugedeckte, bedrückte und bis fast zum Nichts erdrückte, leidende Existenz. – Ein Häufchen Elend.

Im Bild der beiden Frauen hat sich die Künstlerin zweimal selbst abgelichtet. Sie setzt in ihrer Kunst eigentlich immer ihren eigenen Körper ein. Hier will sie mit dem unbekleideten Körper sagen, dass es bei einem Schuldbekenntnis und bei Vergebung nichts zu verstecken gibt, dass es um die nackte Wahrheit geht. Die Künstlerin kniet also vor sich selber und legt sich gleichzeitig segnend die Hände auf. Sie selbst sagt zum Bild: „Ja, es geht darum, dass ich mich vor mir selbst niederknien kann. Dass ich mich selbst anschauen kann, mir selbst dann dadurch auch vergeben kann und mir die Hände auflege. Dass es eine Wirklichkeit in mir gibt, die Liebe, die ich Gott nennen kann, der ich alle möglichen Namen geben kann und die dieses schwere Gefühl der Schuld, von dem ich bis heute nicht sagen kann, warum und woher es kommt, aufnehmen kann.“ (kunst und kirche 02/2015, Innere Bilder – am eigenen Körper getragen, S. 19)

So stehen Transparenz, Leichtigkeit, Vergebung und Beziehung auf der einen Seite, und liegen Verborgenheit, Dunkelheit und Einsamkeit auf der anderen Seite am Boden.

Schuld bekennen, um Vergebung bitten und Segen erfahren kommen sehr schön in den beiden Haltungen der Künstlerin zum Ausdruck. Im Knien macht sie sich selbst klein, immobil, verletzlich. Sie wird zur Bittenden, aber auch zur Empfangenden. Sie gibt ihrem stehenden Gegenüber dadurch viel Macht, aber auch Verantwortung, gut mit ihr umzugehen. Ihr Kopf als Zentrum des Rationalen ist nicht zufällig gegenüber ihrem Geschlecht und ihrem Bauch als Zentrum des Emotionalen. Im Stehen offenbaren der geneigte Kopf und die ausgestreckten Hände eine segnende Geste, ein entlastendes Vergeben und ein ermutigendes Stärken für einen Neuanfang. In keinster Weise ist Erniedrigung oder gar Gewalt aus der stehenden Überlegenheit herauszuspüren. Nur Zuneigung, Güte, Erbarmen. So wird das Verhältnis der beiden zueinander sichtbar und die Verantwortung, die sie füreinander tragen.

Die Arbeit ist ein Plädoyer für einen sorgsamen Umgang mit sich selbst und mit den anderen. Sie regt zum Nachdenken über die Kraft der Vergebung an, ihre heilende, segnende Wirkung. Für sich selbst und für andere. – Verzeih mir. All das, was ich für dich bin. Alles, was du in mir siehst. Bitte verzeih mir alles, zu dem ich im Laufe der Zeit aufgrund meiner Erwartungen und Enttäuschungen, Anstrengungen und Krankheiten, Entscheidungen und Nachlässigkeiten geworden bin.

Die äußerst seltene Gegenüberstellung von Schuld und Segnung in der Kunst lässt auch spüren, wie Schuld aus Scham gern versteckt wird, wie schwer sie oft zu beschreiben ist und dadurch fassbar wird, und wie einsam sie machen kann. Wie befreiend und heilsam zeigt sich diesbezüglich ein Schuldbekenntnis, das Licht und Klarheit in die Sache bringt, und ein Segen, der nach der Vergebung dem Mit- und Zueinander einer Beziehung eine neue Offenheit und eine neue Kraft gibt.

Unschuldig?

Eine schwarze Seifenschale. Sie wäre nichts Spektakuläres, hätte sie nicht den weißen Aufdruck „UNSCHULD“ auf dem Deckel und wäre das gleiche Wort nicht in die Seife eingelassen. Damit erhalten die Seife und ihre Schale über den alltäglichen Gebrauchswert hinaus eine ethische Bedeutung. Die Schuldfrage wird aufgeworfen, die Rechtfertigung und die Reinigung angesprochen.

Auch wenn Pilatus mit seiner bedeutsamen Geste des Händewaschens für alle sichtbar seine Unschuld zum Ausdruck gebracht hat bei der Verurteilung von Jesus (Mt 27,24) und auch der Psalmist betet: „Gott sei mir gnädig nach Deiner Huld, tilge meine Frevel nach deinem reichen Erbarmen. Wasch meine Schuld von mir ab, und mach mich rein von meiner Sünde.“ (Ps 51,3-4), so stellt sich doch angesichts dieser Seifenschale neu die Frage: Kann Schuld so einfach wie Schmutz abgewaschen werden?

Die weiße Schrift suggeriert, dass unter der schwarzen Schale – Symbol für die Schuld, die Sünde und alles, was verborgen gehalten werden will –, die Unschuld, die Wahrheit und Reinheit zu finden ist. Das Verlangen ist groß und des Psalmisten Gebet ist Ausdruck für die Sehnsucht vieler Menschen.

Wer die Seifenschale öffnet, streift bildlich gesehen bereits dieses belastende Dunkle der Schuld ab. Ihm zeigt sich (aber auch nur das erste Mal) die unberührte „jungfräuliche“ Seife. Wer mit Schuld beladen ist, kann sich wohl die Hände waschen, den Schmutz und den üblen Geruch abwaschen. Durch die Duftstoffe in der Seife werden auch seine Hände wieder gut riechen. Aber die Seife selbst wird ihre Unschuld verlieren durch des Benutzers Unreinheit.

Wer darf dann diese Seife benutzen? Nur diejenigen, die tatsächlich ohne Schuld sind, die Unschuldigen, die ein reines Herz haben ? Oder geht es dem Künstler bei diesem Kunstwerk gar nicht darum, dass jemand die Seife benutzt? – Kunstwerke sind doch unantastbare Ausstellungsobjekte und keine Gebrauchsgegenstände!

Aus eigener Kraft oder mit einem Stück Seife kann keine Schuld in Unschuld gewandelt werden. Der Psalmist wendet sich deswegen an Gott und sein grenzenloses Erbarmen (s. a. Ps 36,6). Er weiß, nur bei Gott ist Vergebung in Fülle. Und er weiß auch, dass Schuld nicht außen am Menschen anhaftet, sondern das Herz verschmutzt. Deshalb betet er: „Erschaffe mir, Gott, ein reines Herz, und gib mir einen neuen, beständigen Geist.“ (Ps 51,12)

In dem Sinne kann diese Seifenschale eine Ermutigung sein, in Zeiten der Versuchung ein reines Herz zu bewahren, um Gott nicht aus den Augen (Mt 5,8) – und durch ihn die wahren Werte mitmenschlichen Umgangs nicht zu verlieren.