Sprengkraft Mitmenschlichkeit

Zwei Welten begegnen, durchdringen und ergänzen sich in diesem fünften Bild eines Kreuzweges und werden gleichzeitig durch die Tat der Mitmenschlichkeit im inneren Quadrat gesprengt. In diesem Wechsel von Farben und Formen wird die Bedeutung der Handlung des Simon von Kyrene für damals, heute und über unsere Epoche hinaus als eine grundsätzliche Haltung für alle Zeiten thematisiert: Einander helfen, das Kreuz zu tragen, die mit Lasten Beladenen entlasten, Solidarität zeigen, den Nächsten nicht übersehen, sondern beachten und ihn im Rahmen des Möglichen unterstützen.

Den äußeren Rahmen bildet die Welt und das Weltgeschehen. Dual und gegensätzlich wird die geschaffene Welt links in grau und ihr gegenüber die immaterielle Welt Gottes goldgelb dargestellt. Die senkrechte Teilung, welche gleichsam die Wölbung der Erde aufnimmt, wird durch den schwarzen Keil verstärkt, der von oben auch das innere Quadrat zu spalten versucht. Die festen Klammern verdeutlichen, dass die Umgebungsfaktoren so gut wie keinen persönlichen Handlungsspielraum zulassen und auch keinen Ausweg. Für den Kreuztragenden sieht die Situation trotz der Herrlichkeit Gottes im Hintergrund hoffnungslos aus.

Das innere Quadrat erzählt von der Kraft der Mitmenschlichkeit. Wie durch ein offenes Fenster tritt aus der grauen Anonymität ein Mann hervor, der mit seinem gelben Gewand farblich eine gleiche Gesinnung signalisiert und da ist, wo Hilfe gebraucht wird, um das Kreuz zu tragen. Er fällt ihm nicht in den Rücken, sondern stärkt diesen durch seine Unterstützung. Es geht nicht darum, dass er – wie in der Bibel berichtet – zur Mithilfe gezwungen worden ist (vgl. Mk 15,21), sondern dass er es tatsächlich tut. Damit überschreitet Simon die trennende Grenze und es entsteht etwas ausgleichend Verbindendes wie es in der Berührung der Hände oder auch in der rötlichen, wie ein Herz anmutenden Form zwischen den beiden Protagonisten angedeutet wird.

Jesus selbst steht in gebeugter Haltung frontal dem Betrachter gegenüber. Sein Blick ist gesenkt und führt unter der Kreuzeslast in die Leere. Während sich sein Oberkörper in der rechten Hälfte des inneren, grauen Quadrates befindet, steht er mit stämmigen Beinen vor diesem im goldgelben Bereich, der mit seiner Farbe an die vergoldeten Hintergründe von Ikonen oder auch mittelalterlichen Retabeln denken lässt, die Gottes Gegenwart und Herrlichkeit symbolisieren. Jesus ist mit dem geschulterten Kreuz auf dem Heimweg zum Vater. Mit seiner dynamischen Form deutet das helle Kreuz nicht nur seinen Tod an, sondern durch die weiße, wie ausgespart wirkende Farbe auch seine Auferweckung von den Toten. Es ist letztlich das Kreuz des Heils, welches das innere Quadrat sprengt und gleichsam nach drei Seiten Lebenswege öffnet. Der von Jesus führt zuerst nach unten, in die Tiefen des Todes, um durch sein Sterben Tote und Lebendige zu erlösen und in die Ewigkeit zu führen.

Rätselhaft ragen am rechten Bildrand von oben und unten Doppelspitzen in das Bild. Sie erinnern an Fangzähne von Raubtieren, die ihre Beute damit festhalten. Die Farbe und die Wölbung der Erde aufnehmend und abgeschwächt nach rechts in den geistigen Bereich hinein fortsetzend mögen sie symbolisch für die Soldaten und ihre Waffen als auch für die Drohkulisse der schaulustigen Menge stehen, durch deren Gasse Jesus seinen Kreuzweg gehen musste.

Weil Jesus keine personenspezifischen Attribute trägt, kann er stellvertretend auch für alle Menschen stehen, die unerlöst eine schwere Last – äußerlich oder innerlich – zu tragen haben. Die frontale Darstellung von Jesus fordert dazu auf, wie Simon von Kyrene den Menschen zur Seite zu stehen und ihnen beim Tragen ihrer Last zu helfen. Wir werden sie nicht abnehmen können, aber wir werden die Bedrückten und Belasteten ein Stück ihres Weges begleiten und unterstützen können, sodass ihnen das wie eine Erleichterung beim Tragen ihrer Last vorkommt. Ein derartiges Tun vermag Grenzen zu überwinden und die Mauern zwischen den Menschen zum Einsturz zu bringen.

Ganzer Stationenweg in der röm.-kath. Kirche St. Leodegar, Möhlin (Aargau, Schweiz)