Lebensenergie

Geheimnisvoll steht die Stele im Raum. Über dem Sockel aus Jura-Kalkstein erhebt sich eine tiefblaue rechteckige Fläche mit den Ausmaßen eines großen Menschen. Die Kontur der Stele folgt dem natürlichen Wuchs des Baumstammes, aus dem das Brett geschnitten wurde. So ruht die Stele breit auf dem Sockel, verjüngt sich zur Mitte und weitet sich nach oben wieder.

Die blaue Fläche wie der sie umgebende Goldrand sind unregelmäßig und wirken dadurch lebendig. In der Tradition der Ikonenmalerei hat die Künstlerin die Lindenholztafel mit Marmormehl und Alabaster grundiert und sie dann beidseitig in sechs Schichten mit verschiedenen Lapislazuli-Naturpigmenten bemalt. Der mehrschichtige Aufbau als auch das tiefgründige und leuchtstarke Lapislazuli geben der Fläche eine unvergleichliche Tiefe, so dass die Tafel auch wie eine Türe oder ein Durchgang wirkt. Die natürliche kristalline Struktur des kostbaren Pigmentes lässt die Oberfläche durch hellere und dunklere Bereiche unterschiedlich intensiv in Erscheinung treten. Blattgold umrahmt das ultramarine Spiel mit Licht und Schatten und enthebt es gleichzeitig ins Unergründliche, Immaterielle, Geistige.

Formal verweist das Kunstwerk, das uns in der Lebensgröße eines Menschen gegenübertritt, auf niemanden Konkreten, es hat keine praktische Funktion. Man begegnet dem Werk wie einem großen Unbekannten mit menschenähnlichen Proportionen. Im numinosen Blau und Gold bleibt Gott wie in einem unfassbaren Anders-Sein verborgen. Doch die schlichte Gegenwart, der kostbare Aufbau und die mystische Ausstrahlung ziehen den Betrachter geheimnisvoll in den Bann und laden zum Innehalten und zur Begegnung, zur stillen Einkehr und zum meditativen Verweilen, zur staunenden Auseinandersetzung ein. In dieser Gegenüber-Stellung stellt sich die Frage, wie und wo aus dem geheimnisvollen Ganz-Anderen ein persönlicher Gott für mich wird. Was sich in dieser Begegnung mit Gott konkret erlebbar für mich herauskristallisiert und zu einer kostbaren, individuellen Lebenserfahrung wird.

Das starke Blau kann Ausgangspunkt für Gedanken an den nächtlichen Himmel und die damit verbundene Stille sein, die den Blick in die unergründliche Weite des Weltalls begleitet. Es bringt auch die geheimnisvollen Dimensionen der Meere zur Sprache. So wandelt sich die Stele zu einem Durchgang oder einer Tür, die in die Weite des Nichtdarstellbaren und Unbegreiflichen führt. Die Farbintensität des Lapislazuli lässt eine kosmische Energie erfahren, die unsere Sinne zu ergreifen, zu erheben und in die Transzendenz hineinzunehmen vermag. Eine transzendente Gegenwart, die sich in Dunkelheit hüllt und durch Treue auszeichnet, denn die Farbe Blau steht symbolisch für die Treue. Die blaue Stele vermag deshalb ein höheres Da-Sein für den Menschen darzustellen („Ich bin, der ich bin.“ Ex 3,14), das Halt gibt und als wirkmächtige Kraft eine Energie ausströmt, die wie eine Quelle unerschöpflich fließend Erfrischung, Erneuerung und Leben spendet.

Vom 22. Mai bis 25. August 2021 war LAPIS SOLARIS in der Bahnhofkirche im Hauptbahnhof Zürich zu erleben. Auf der Website der Bahnhofkirche finden Sie mehrere Videos und Meditationen zum Kunstwerk.