Der Schrei

Auf einer kleinen Anhöhe streckt sich in weißes Licht getaucht der gekreuzigte Schmerzensmann nach oben zum Schrei. Man meint die Worte aus dem Psalm 130 (1-2,5) zu hören: „Aus den Tiefen rufe ich, HERR, zu dir: Mein Herr, höre doch meine Stimme! Lass deine Ohren achten auf mein Flehen um Gnade. … Ich hoffe auf den HERRN, es hofft meine Seele, ich warte auf sein Wort.“

Der expressive Bildaufbau führt zu diesem Schrei in der oberen Bildmitte und konzentriert sich in ihm. Von rechts unten führen – die Oberkanten der blauen und grünen Elemente verlängernd und verbindend – Linien im Zickzack treppenartig nach oben. Ähnlich laufen die Verlängerungen der Seitenkanten der blauen und grünen Elemente von unten kommend im Kopfbereich zusammen und kreuzen sich dort.  Auf diese Weise erreicht die ganze Schöpfung mit allem Leben, Leid und allen Schmerzen in diesem gewaltigen Schrei einen einzigartigen Höhepunkt. Die flammend rote Farbe intensiviert den Schrei zum gequälten Aufschrei eines Gefolterten, eines ungerechterweise Höllenqualen Erleidenden, der die Schuld der ganzen Welt auf sich nimmt.

Als Antwort auf diese himmelschreiende Ungeheuerlichkeit finden sich im Bild drei Reaktionen: Rechts oben zeigt sich der Kopf einer Person, die schweigend im Beobachterstatus verharrt. Das rundliche Gesicht könnte auch der verdunkelten Sonne oder Gott Vater gehören, der in sich gekehrt seinem Sohn beisteht, aber nicht in das Leiden eingreift. Im gleichen Weiß wie bei der gezackten zentralen Form schreit links ein Pfau mit dem Gekreuzigten und verstärkt den Schrei von Seiten der Tierwelt. Unter dem Kreuz, es gleichsam mit ihrem Leib umfassend – denn Knie und Ellbogen berühren sich fast – findet sich kniend eine junge Frau, die in ihren Händen ein Tuch mit dem Abdruck eines traurig blickenden Gesichtes hält. Dem Tuch nach wäre die Frau Veronika, in der Tradition wird aber Maria Magdalena weinend unter dem Kreuz dargestellt. Wie auch immer verkörpert die Frau die zutiefst Betroffene, Trauernde, Mitleidende.

Mehrere Bildelemente weisen symbolhaft über den Schrei der Verlassenheit und die letzte Verlautbarung (vgl. Mk 15,34.37) des Gekreuzigten hinaus: Das maskenhaft wiedergegebene Gesicht auf dem Tuch verweist auf die Doppelnatur der Person Jesu („Person” stammt vom lateinischen „personare“, dem „Hindurchtönen“ der Schauspielerstimme durch die Maske, die seine Rolle charakterisiert). In der menschlichen Gestalt Jesu leidet der Sohn Gottes und in diesem Leiden und Sterben leiden und sterben auch die anderen beiden Personen der Dreifaltigkeit, die untrennbar mit ihm verbunden sind. So kann am linken oberen Bildrand in der verkrampften Hand auch ein zur Mitte gewandtes gefiedertes Wesen – eine Taube –  als Symbol für den Heiligen Geist und auf der anderen Seite das Sonnengesicht als Symbol für Gott-Vater gesehen werden. Jesus leidet in dieser Sichtweise inmitten der Dreifaltigkeit und sein Schrei ertönt im Anblick und Angesicht seines Vaters. Die Palmen und Pflanzenelemente erinnern nicht nur an den Einzug in Jerusalem, sondern deuten auch den bevorstehenden Einzug in das himmlische Paradies, ins himmlische  Jerusalem an (vgl. Lk 23,43). Erich Schickling hat die Kreuzigung zudem in eine Mandelform gemalt (zu sehen sind die „Klammern“ der Mandorla), um die Bedeutung des Kreuzestodes als Übergang und „Geburt“ in diese neue, göttliche Welt zu offenbaren, in der Gott „alle Tränen von ihren Augen abwischen wird: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21,4)

So trägt der stumme Schrei Jesu stellvertretend das Leid der Welt weiter durch das Bild und über das Bild hinaus in die Ohren Gottes: im Rot die hilflose Wut, all das vergossene Blut, das verlorene Leben, die geopferte Liebe. Im Grün die fragmentierte, zerbrochene Hoffnung, die gegen alle Hoffnung hofft. Im Dunkelblau am Fuße des Kreuzes die Treue der Liebenden, der Glaube, dass nichts verloren geht und die Liebe über den Tod hinaus Früchte trägt (vgl. 1Kor 13,13). Und im Weiß des Gekreuzigten und des Pfaus als Sinnbild des Himmels darf bereits das Licht der Auferstehung aufleuchten. Denn kein Schrei verhallt unerhört in Gottes Ohren, denn „beim HERRN ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle“. (Ps 130,7)

 

Im Pfarrhof Gempfing sind in Verbindung mit der Stadtpfarrkirche St. Johannes Rain am Lech anlässlich des 10. Todestages des Künstlers Hinterglasbilder, Temperabilder, Kreuzwege, Entwürfe zu Glasfenstern ausgestellt. Vernissage ist am Sonntag, 13. März 2022 um 16 Uhr. Anmeldung bitte unter 09090-1346. Danach jeden Sonntag bis Ostermontag (außer Ostersonntag) von 14-17 Uhr geöffnet.

Zum Gedenken an die Spurlosen

Unzählige weiße Stoffschilder hängen im Raum. In sie sind zwischen zwei Kreuzen, die wie Anführungs- und Schlusszeichen wirken, Zahlen und Namen gestickt. Schwarz ein Datum, dann in Rot ein Vorname und ein Name, danach wieder in Schwarz eine Altersangabe. (Detailbild). Jedes Schild erinnert an einen Verstorbenen. Sie alle eint, dass sie 2005 in München verstorben sind, allein und ohne Angehörige, „die Spuren seines Lebens in ihrem Leben weitertragen …“.

289 Namensschilder hängen so über den Köpfen der Besucher. Man muss den Kopf heben, zu ihnen aufschauen, um ihre Namen lesen zu können (Detailbild). Das rote Garn, mit dem der Name gestickt ist, wurde nicht direkt nach dem Namenszug abgeschnitten, sondern hängt lange in den Raum herunter. Symbolisch führt „der rote Faden“ durch den Namen und damit durch das Leben und die Persönlichkeit der Verstorbenen in unsere Welt hinein und schafft posthum Berührungspunkte, wenn er die Körper der Betrachter streift. Der Lebensfaden der Verstorbenen ist abgeschnitten, aber mit der Installation wird ihr Leben gewürdigt und geeint durch ihr Schicksal wird ihrer über den Tod hinaus gedacht.

Das genähte Stoffschild (Detailbild) erinnert an das Papierschild, das früher mit Namen und Todeszeitpunkt versehen den Leichen zur Identifizierung an den Zeh gebunden wurde. Auch schlägt das Stoffschild eine Brücke zum Vorgehen der städtischen Bestattungsbeamten. Nach der Klärung der Todesursache in der Pathologie wird der tote Körper ungewaschen in einem Plastiksack in den Sarg gelegt. Die evangelischen Gläubigen werden eingeäschert, die katholischen Gläubigen bleiben im Sarg. Die Beerdigung findet in der Regel ohne Feier statt. Nach einer kurzen Aufbahrung in der Aussegnungshalle werden die Toten als „stiller Abtrag“ zum Grab gebracht, weil meistens niemand da ist, der dem Sarg oder der Urne folgt und dem Verstorbenen damit das letzte Geleit geben würde. Die Gegenstände, mit denen der Verstorbene ein Leben lang gelebt hat, landen bei Nachlasssammlern oder im Sperrmüll. So wird die Wohnung aufgelöst, entleert, so werden alle Lebensspuren nach und nach verwischt und ausgelöscht.

Die Gedenkinstallation wirkt still gegen das Vergessen. Sie macht nachdenklich. Sie lässt an die vielen Menschen in unserer Gesellschaft denken, die ohne Verwandte oder Freunde an der Seite einsam und verlassen sterben. Sie lässt an die unzähligen Kriegs- und Flüchtlingsdramen (Stichwort Lampedusa) denken, in denen viele Menschen ähnlich spurlos verschwinden (Detailbild).

Die Namensschilder sind an einem weißen Faden aufgehängt. Sie sind von oben gehalten. Wir Christen glauben, dass Gott niemanden vergisst, niemanden fallen lässt. Das ist uns Hoffnung, darf aber keine Entschuldigung sein, im Bereich des Möglichen nicht selbst aktiv zu werden. In dem Sinne ist die Gedenkinstallation auch ein Aufruf zu mehr Mitmenschlichkeit, zu mehr Nähe, zu mehr Herzlichkeit, damit es gar nicht zu Situationen kommt, in denen Menschen spurlos verschwinden, einsam sterben oder still abgetragen werden.

Unliebsame Gesellschaft

Unsicher steht die Frau in der Bildmitte. Ihre nackten Füße sind nach innen gewendet, ihre dünnen Arme hängen kraftlos am Körper, ein einfaches Kleid bedeckt sie notdürftig. Ihr Kopf ist als Schädel wiedergegeben, an dem einige schüttere Haare übriggeblieben sind. Der Kopf wird leicht von der Seite gezeigt, so dass die tiefschwarzen Augenhöhlen sie nach rechts blicken lassen. Ihr Mund scheint geschminkt, über die rechte Wange ziehen sich Risse.

Im Bezug zum Bildformat erscheint sie schwebend, haltlos, hängend. Der Eindruck ergibt sich aus dem undefinierten weißen Hintergrund und dem Umstand, dass ihr Kopf vom oberen Bildrand angeschnitten wird.

Wer ist diese Frau? Was können die beschriebenen Beobachtungen über sie aussagen? Sicher ist, dass sie den Boden unter den Füßen verloren hat und sich in einem Zustand des Übergangs befindet. Die geschminkten Lippen lassen vermuten, dass sie auf ihr Aussehen Wert gelegt hat. Die körperliche Erscheinung und das einfache Kleid deuten zudem auf eine jüngere Frau hin.

Verloren steht sie zwischen zwei dunklen Gestalten. Ihre Köpfe weisen sie als Boten des Todes aus. Der linke grinst, der rechte schaut nach unten. Ihre Körper werden durch waagrechte Stoffstreifen gebildet, die mit der Kleidstruktur der Frau korrespondieren. Sie haben keine Arme und Beine, keine Hände und Füße. Gespenstisch schweben sie im Raum, unheimlich flankieren sie die Frau in den besten Jahren. Es sieht aus, als würden sie sie verfolgen und bedrängen. Nun sind sie schon sehr nah. Gleich berühren sie sie. Im Vergleich zum hellen und detailliert wiedergegebenen Körper der Frau wirken sie wie Schatten. Wie bei Vogelscheuchen ist ihr „Gewand“ ausgefranst. Dadurch wirken sie ruhelos, vagabundenhaft, schwer fassbar.

Durch ihre kleinere Gestalt, die dunkle Wiedergabe und die nach außen gebogenen Formen wirken die beiden gespenstischen Todesboten wie Flügel. Schwarze Flügel, welche der Frau den Boden unter den Füßen entziehen, sie aus dieser irdisch materiellen Welt in eine immaterielle und zeitlose Welt überführen (siehe Hintergrund). Die Verwandlung hat am Kopf schon angefangen, noch zeigt sich das Kleid durch seine waagrechte Zeichnung dem Irdischen verhaftet, doch nach und nach wird die Verwandlung den ganzen Körper erfassen

Das Bild wäre bedrückend, wenn nicht der helle Hintergrund wäre. Er gibt die Hoffnung wieder, dass der Tod nicht das Ende, sondern nur die Exekutive einer höheren Macht ist, der vorübergehende Begleiter in ein größeres und unbeschwerlicheres Danach. Für den Gläubigen hat „der zweite Tod“, der leibliche Tod seine Macht verloren. Er ist in der Taufe bereits mit Christus in den Tod begraben (vgl. Röm 6,3-5; Kol 2,12). Das ist der Grund, wieso Franziskus von Assisi den Tod als „Bruder“ bezeichnen und Gott dafür loben konnte.

„Herr, sei gelobt durch unsren Bruder Tod,
dem kein Mensch lebend je entrinnen kann.
Der zweite Tod tut uns kein Leid an.
Lobet und preiset den Herrn in Dankbarkeit,
und dienet ihm mit großer Demut.“

In Bezug auf das Bild bedeutet das, dass der Gläubige gerade in der Zeit, in dem symbolisch alle Farben in seinem Leben verblassen, in dem das Lebenskleid ausfranst und sich auflöst, letztlich der Lebensfaden abgeschnitten und das Lebenslicht erlischt, sich um so mehr an Gott festhält und darauf vertraut, dass ER ihm nach der Zeit des Übergangs neuen Boden unter den Füßen geben und in Seinem Licht das Leben in nie gekannter Fülle erleben lassen wird.

Ganzer Zyklus des Tailfinger Totentanzes sowie Bestellmöglichkeit des Katalogbuches zum Totentanz auf der Website des Künstlers

Was dann? – Wohin?

Ein kleiner Mensch wird von einem von oben kommenden Händepaar gehalten. Das Bild gibt keine Auskunft, woher dieses Menschlein kommt, das klein wie ein Kind ist und das mit seinen großen Händen, dem festen Haar auf dem Hinterkopf, ja von den Proportionen selbst die Züge eines Erwachsenen trägt. Doch dem Künstler scheinen zwei Umstände bei der Wahl des Bildausschnittes wichtig gewesen zu sein. Zum einen der haltlose, schwebende Zustand des kleinen Menschen, zum anderen der Halt, den dieser in diesem Moment erhält. Die Hände von oben sind noch offen, sie haben noch nicht zugegriffen. Aufschluss über die Zusammenhänge gibt erst ein Blick auf den bekannten Holzschnitt aus dem 15. Jahrhundert, aus dem der Künstler die dem Mund eines Sterbenden in Form eines Menschleins entschwebende Seele zitiert, die von einem Engel erwartet wird, um sie dann zu Gott zu führen.

Diese Darstellung entspricht dem Glauben, dass der Mensch genauso nackt, klein und arm wie er bei der Geburt diese Erde betritt sie beim Tod auch wieder verlassen wird. Doch der Künstler hat dem mittelalterlichen Blatt durch die Auswahl und Freistellung des besagten Ausschnittes „den religiös-christlichen Kontext entzogen, verallgemeinert und die konkrete Vorstellung der Aufnahme der Seele in eine jenseitige Sphäre z.B. des Paradieses aufgelöst. Dadurch wird die ins Allgemeine gerückte existentielle Frage des Wohin – hinauf oder hinab? – aufgeworfen, ebenso taucht der im sozialen Sinn gültige Gedanke des Geborgen- und Aufgehobenseins, der Assistenz und des Beistands“ (Nolte) auf.

Zu hinterfragen ist demzufolge, wieso der Künstler diesen „ergreifenden“ Moment nun auf einen sandfarbenen Hintergrund gemalt hat. Denn dieser bildet jetzt den neuen Kontext. In 56 kleinen Bildtafeln sind schattenhafte Farbvariationen sichtbar, die in manchen auch Gesichtspartien einer jungen Frau erkennen lassen, die nach rechts schauen – auf die Seele. Ob die Hervorhebung ihrer Augen daran erinnern möchte, dass auch die Augen Spiegel der Seele sind? In anderen Bildtafeln verliert der Betrachter durch Übermalungen den Blickkontakt, muss er die Augen unter den Farbschichten zurück- und loslassen, so dass nur noch verschwommene Silhouetten auszumachen, vage Schatten von einer verborgenen Gegenwart erkennbar sind. In diesen Farbschichten wird die Vergänglichkeit des Lebens durch die sandfarbenen „Verwehungen“ oder den wie bei einer Sanduhr herabrieselnden Sand immer wieder neu thematisiert.

Einen formalen und inhaltlichen Gegensatz dazu bildet ein gutes Dutzend Kreisformen, welche die aufsteigende Seele wie Luftblasen zu begleiten scheinen. Die großen Kreise sind wie die Seele in reinen Umrisslinien gemalt, allerdings in einer kontrastierenden Perfektion. Die kleinen Kreisformen sind flächig dargestellt, gleichen eher Fixpunkten. Insgesamt muten sie wie moderne Sternzeichen an, die in Dreierkonstellationen und runder Geschlossenheit den Übergang in die Ewigkeit andeuten.

Leichtigkeit wohnt ihnen inne. Ist nicht auch eine helle Freude zu spüren? So vermittelt das Bild in neuer Gestaltung die ursprüngliche Hoffnung und Zuversicht weiter, dass es ein Danach gibt, einen Ort und eine Gemeinschaft, in der das Wesentliche von uns – unsere Seele –, aus der Vergänglichkeit gerettet, eine unvergängliche Heimat finden wird.

„Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist”

Ein Bilderpaar. Im Dialog durch die gleichen Querformate, die ähnlichen Farben und die angeschnittenen, schwarzen T-Formen. Und dann sind da noch diese Linien oder Schläuche, welche die zwei runderen Formen – oben wie ein Schatten, unten wie ein Infusionsbeutel – mit den harten geometrischen Formen verbinden. Was letztere wohl bedeuten mögen? Sie haben nichts wirklich Gegenständliches an sich. Sie sind vielmehr wie Bild-Ausschnitte, in denen die Farbe und das Leben fehlen.

Im oberen Bild fällt die rote Gestalt auf, die aus der schwarzen Fläche auf den Betrachter zuzuschreiten scheint. Die Arme waagrecht angewinkelt, die Hände zu einem lauten Ruf an den Mund gelegt, damit dieser auch in weiter Ferne noch gehört wird. Links über ihm, geheimnisvoll wie eine Signatur, vier sorgsam als Rhombus gesetzte Punkte.

Der Mensch – wie mit Blut gemalt, wie ein letzter Blutstropfen. Die T-Form als Kreuz des Todes wirkt bedrohlich, furchteinflößend. Das Herz ist außerhalb – nur noch ein Schatten, dem das Leben entflieht. Was wohl die letzten Worte dieses Mannes am Kreuz sind? Der Künstler zitiert in seiner Bildunterschrift das letzte Wort Jesu: „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“ (Lk 23,46)

Im unteren Bild ist die angeschnittene T-Form ganz am rechten Rand. Im Verhältnis zum Infusionsbeutel wirkt sie klein und eher wie die Silhouette eines Stuhles. Bedrohung geht auch von ihm aus. Kein Mensch ist zu sehen. Der am Boden liegende Beutel verheißt nichts Gutes. Im Kontext gelesen kommt der Verdacht auf, dass hier keine heilbringende Lösung verabreicht worden ist, sondern ein Beruhigungs- oder Betäubungsmittel, das letztlich zum Tod geführt hat. Auch dieses Bild ist aus den letzten Worten eines zum Tode Verurteilten entstanden. Worte, die sich an denen von Jesus orientieren, aber knapp 2000 Jahre später und an einem ganz anderen Ort ausgesprochen wurden. So sagte Jose Gutierrez am 18. November 1997: “Now Father, into They hands I commit my spirit.” (Siehe: www.tdcj.state.tx.us/stat/executedoffenders.htm – hier sind alle 464 seit 1982 in Texas Hingerichteten aufgelistet).

Nikolaus Mohr hat damit nicht nur die sieben letzten Worte Jesu malerisch umgesetzt, sondern sie auch den letzten Worten von zum Tod Verurteilten gegenüber gestellt. Dadurch sind sieben Bildpaare entstanden, die zum Nachdenken einladen: „über den Wert des Lebens ebenso wie des Sterbens, den Sinn und Unsinn von Todesstrafe und zuletzt über die Bedeutung des Leidens und Sterbens Jesu: wenn gilt, was er selbst von sich und seinem Leben sagt, dann starb er nicht nur für uns: er starb für alle, auch für die, die ihr Leben verwirkt haben und von uns aufgegeben, fallen gelassen oder gar zum Tod verurteilt werden. Mich tröstet in diesem Moment und rüttelt zugleich auf, wenn Jesus sagt: Ich bin gekommen zu suchen, was verloren ist. Oder: nicht die Gesunden brauchen den Arzt, sondern die Kranken. Oder: im Himmel herrscht mehr Freude über einen Sünder, der umkehrt, als über 99 Gerechte, die es nicht nötig haben umzukehren. Mehr noch tröstet mich aber die Bedeutung, des von Christen bekannten und ausgesprochenen Wortes: hinabgestiegen in das Reich des Todes …“ (Engelbert Paulus)

Dialogisches Gegenüber

Einer Skulptur gleich steht der kreuzförmige Glaskörper frei im Raum. Kreuze, die nicht an der Wand hängen oder einfach auf dem Tisch liegen, sind selten geworden. Diesem hier ist zudem eigen, dass es trotz seines schweren Materials schwebend leicht aussieht. Dieses Kreuz hat von sich aus keinen festen Ort, sondern vermag sich den Bedürfnissen seines Betrachters anzupassen, wenn dieser im Kreuz mal mehr ein dialogisches Gegenüber, dann wieder einen sichtbaren oder unsichtbaren Begleiter sucht, so wie es bis in unsere Zeit hinein das kleine „Sterbekreuz“ war, das „Hand in Hand“ mit dem Erlöser in der Sterbestunde beistand.

Das Kreuz aus Glas signalisiert zu Recht Zerbrechlichkeit. Damit wird unsere menschliche Schwachheit reflektiert, unsere Anfälligkeit, unter großem körperlichem Druck zu zerbrechen. Doch mit der Dicke und der Oberflächenbehandlung fängt der Künstler die innere Zerbrechlichkeit auf und verleiht dem Kreuz eine Festigkeit, die Unzerstörbarkeit ausstrahlt. Erhaben steht es im Raum und bietet seine Vermittlung an. Es geht nicht um das Kreuz selbst, sondern um den, der an ihm würdevoll gestorben ist, und um den Menschen, der in diesem Kreuz Halt sucht. Wie das an sich durchsichtige Glas durch das Sandstrahlen die Sicht auf das hinter dem Kreuz Seiende verwehrt, so vermag auch der Suchende das vor ihm Liegende mit seinen Sinnen nicht zu durchdringen. Allein, wenn er das Holzkreuz aus seiner Fassung herauslöst, eröffnet sich ein begrenzter Durchblick.

Das innere, individuell gestaltete, goldgelb und mit rötlichen Spuren bemalte Kreuz ist im großen äußeren Kreuz geborgen. Das Hölzerne ist ein Teil vom Glasigen, es wird von ihm umgeben und getragen. Dieses in der Natur gewachsene, „lebendige Herzstück“ des Kreuzes kann herausgenommen, davor gelegt oder spürbar in die Hand genommen werden. Es möchte physischer Halt sein, der einerseits die Nähe und Wärme des am Kreuz Gestorbenen und Auferstandenen erfahrbar macht und hilft, die Krankheit oder den Tod anzunehmen, andererseits auch als Begleiter zurück ins gesunde Leben oder eben ins Grab mitgenommen werden kann. So will dieses Kreuz nicht nur Raumschmuck sein, sondern mit dem betrachtenden, betenden, leidenden und vielleicht auch scheidenden Menschen ganz konkret in einen tröstenden, stärkenden, aufbauenden und sinnstiftenden Dialog treten.

Form und Material des äußeren Kreuzes lassen die Schwere des Todes, des physischen Abschieds aus dem irdischen Leben spüren. Die matte Oberfläche des Stehkreuzes vermittelt aber gleichzeitig Leichtigkeit und Hoffnung. Die Öffnung in der Mitte verstärkt diesen Eindruck. Sterben ist schwer, man ahnt mehr als man sieht, was nach dem Tod kommt, aber durch Christus haben wir die Gewissheit, dass der Tod Durchgang ist, dass das Leben danach weitergeht.

Per sempre ti rivedo

Die große weiße Gestalt irritiert. Sie ist da und erscheint doch als flüchtiger Anblick, als durch das Bild huschende Existenz. Wer ist sie, wovor flieht sie? Drei Kreisflächen sind wie bei einem Schneemann übereinander angeordnet und durch eine darunterliegende weißere Form miteinander verbunden. Die roten, den obersten Teil der Figur berührenden Worte suggerieren eine menschliche Gestalt, auch wenn keine konkreten, individuellen Züge zu erkennen sind. Mit den horizontal nach links „verwehten“ Farbläufen vermittelt sie Bewegung, Entschwinden einer Erscheinung oder Verflüchtigen eines Geistes, als hätte ein gewaltiger Sturm sie erfasst. Vergänglichkeit wird spürbar, Getriebenwerden, wohin man nicht will.
Da Weiß von Künstlern oft als Farbe des Übergangs verwendet wird, als Farbe „der ersten und der letzten Dinge“ (Otto Zech), könnte man das Weiße als Wesen, Geist, oder Seele im Aufbruch in eine andere Existenz verstehen, während die drei festen Kugeln in der linken Bildhälfte – gehalten durch luftige Schutzräume – für das stehen können, was Geist, Wissen und Können an Spuren zurücklassen.

Der Hintergrund aus akkurat aufgetragenem Blattgold bildet zu dieser unförmigen und flüchtigen Erscheinung einen eigenartigen Kontrast. Er erinnert an den Goldgrund auf Ikonen und mittelalterlichen Altarbildern und bringt in dieser Tradition Transzendentes, Gott zur Sprache, wie er ähnlich einem Netz oder einem Gitter jeden auffängt und ihm Halt verleiht. Gott ist der kostbare Hintergrund allen Lebens, er erhebt das Vergängliche zu etwas Einmaligem und Beständigem.

Sechs rote Farbgebilde vollenden den farblichen Dreiklang. Je drei sind beiderseits der weißen Figur übereinander angeordnet und bilden durch Farbe, Größe und Anzahl einen wohltuend lebendigen Kontrast zur Hauptgestalt. In der Art und Weise, wie sie aufgetragen sind, wohnt ihnen in der linken Bildhälfte etwas Unvollendetes, Vergängliches inne. Ihre unterschiedlich gestalteten Formen erinnern durch ihre schwache Farbdeckung an Lippenstiftspuren. Ob sie als Abschiedsküsse, als Zeichen der Zuneigung, der herzlichen Verbundenheit und der Nähe gelesen werden dürfen? Andererseits lassen ihre diffusen roten Formen an schwimmende Kleinlebewesen denken, die im „Aquarium“ der kostbaren Erinnerungen von der Kraft des Lebens künden. Tatsächlich hat der Künstler mit einem farbgetränkten Tuch gearbeitet, bewusst die Spuren des Stoffes hinterlassend, von der Berührung erzählend und dem Kleid, das jetzt keine Rolle mehr spielt und deshalb zurückgelassen wird.
Die rundlich geformten Zeichen der rechten Seite erscheinen dagegen in ihrer kompakten Form als Markierungen oder Anhaltspunkte, die Werte des Lebens, Stabilität und Überdauern versprechen.

Inmitten dieses flüchtigen Geschehens laden vier in Schriftform festgehaltene Worte zum Nachdenken ein. Durch den unmittelbaren Bezug geben sie sich als gedanklicher Ausdruck der weißen Gestalt, erscheinen sie wie ein mit letzter Kraft gemaltes Vermächtnis des Davoneilenden: per sempre ti rivedo. Obwohl die Zeichen wackelig geschrieben sind und ein erbärmliches Bild abgeben, geht durch die rote Farbe und ihre verbindende Lage eine besondere Kraft von ihnen aus. Und durch den Farbunterschied und die zwei Zeilen werden die einzelnen Worte zusätzlich hervorgehoben:

per sempre ti rivedo
– für immer seh ich dich wieder

Diese wenigen Worte nehmen der gewaltsamen Trennung die Endgültigkeit. Aus ihnen spricht eine Zuversicht, die, alle irdischen Begrenzungen hinter sich lassend, neue Perspektiven setzt: für immer seh ich dich wieder. Nicht endgültiger Abschied, sondern nie endende Gemeinschaft wird in diesen Worten zum Ausdruck gebracht. Hier kommt ein Glaube zum Ausdruck, der alle irdischen Gebundenheiten außer Kraft setzt und gleichzeitig über das vordergründige Ende von uns Menschen hinaus einen neuen Lebensabschnitt erhofft und verkündet.

Die letzten Worte – ein Neuanfang
Die vom Künstler verwendeten Worte stammen aus einem Gedicht von Giuseppe Ungaretti, das er am 24. Mai 1959 in Rom geschrieben hat. Es sind die letzten vier Worte eines persönlichen Glaubensbekenntnisses, der Höhepunkt eines Gedankens, der hier in der deutschen Übersetzung von Ingeborg Bachmann wiedergegeben wird:

Ganz ohne Ungeduld werde ich träumen,
Ich werde mich an die Arbeit machen,
die nie enden kann,
Und nach und nach, gegen Ende,
Kommen Arme den Armen entgegen,
Öffnen sich wieder hilfreiche Hände,
Licht geben die wiederauflebenden Augen
In ihren Höhlen,
Und du, plötzlich unversehrt,
Wirst auferstehen, nochmals
Wird deine Stimme mir Lenkerin sein,
Für immer seh ich dich wieder.

Im Bild wie im Gedicht wird der Betrachter in den Dialog zweier Liebender hineingenommen. Er sieht Vergehen, Entschwinden, spürt den Erinnerungen und Liebesbezeugungen nach und muss ebenfalls loslassen. Durch den Goldgrund und die letzten Worte wird ihm aber eine gewaltige Hoffnung vermittelt. So kurz das Leben, so flüchtig seine Lebensspuren auch sind, er ist in einem größeren Ganzen, das wir personalisierend Gott nennen, gehalten und aufgehoben. ER schenkt uns die Perspektive des nie endenden geistigen Lebens und des nie endenden Wiedersehens.

Dieser Bild-Impuls wurde in der Ausgabe 3/2007 der Zeitschrift “das münster”, Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft erstveröffentlicht.

Verlassen?

Ein ungewöhnlicher Kreuzweg: Nur aus sieben Stationen bestehend, zeigt er nicht Jesus auf seinem Leidensweg, sondern einen einzelnen Menschen zwischen geometrischen schwarzen und roten Farbfeldern. Die Bedeutung der einzelnen Elemente ergibt sich durch ihre Veränderung von Tafel zu Tafel, der Sinn dieses besonderen Kreuzwegs aus der Gesamtschau.

Da ist der Mensch. Seine Darstellung mit wenigen flüchtigen Strichen erinnert an seine Vergänglichkeit. Am Anfang hat er noch den Arm erhoben, die Worte andeutend, die neben ihm zu sehen sind: „Mein Gott, mein Gott …“. Er lebt noch unbeschwert – seine Füße haben keine Bodenhaftung –, unbedrängt und mit freier Sicht. Sein Scheitel überragt gerade noch die Wand in seinem Rücken und vor ihm bleibt genügend Abstand zur erst hüfthohen schwarzen Wand.

Und nun beginnt der Weg der Veränderung. Die Gestalt wird von Bild zu Bild kleiner, als wüchse sie in den Boden hinein. Die rechte Wand wird höher und höher, bis sie die linke überragt. Beide Wände rücken immer näher zusammen, bedrohlich den Lebensraum einengend, kein Entkommen mehr ermöglichend, die Luft zum Atmen abschnürend.

Im ersten Bild kann man den dünnen Kontraststreifen am rechten Bildrand leicht übersehen. Er ist ebenso rot wie das kleine Quadrat auf dem Brust- oder besser Herzbereich der menschlichen Gestalt. Beide roten Flächen verändern sich: Der anfangs rote Strich wird immer breiter und dient als Grundlage für sechs weitere Elemente, mit denen er Schicht für Schicht aufgestockt wird. Ebenso wenig wie der Mensch anfangs Bodenhaftung hatte, berühren sich die einzelnen Schichten nicht, sondern scheinen im Reich des Möglichen zu schweben. Das Rote im Menschen verändert sich anders: Je mehr ihn die Wände bedrohen und einengen, erfüllt es den noch verbleibenden Lebensraum zuerst nach unten und wächst dann nach oben weit über die Gestalt hinaus.

Wofür stehen die Farben? Das tiefe Schwarz wohl für Bedrohung, Bedrängnis, Not, Leid und Verlassenheit – darum die Frage der Verzweiflung, die sich handschriftliche über der rechten Wand durch die ersten vier Bilder zieht: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2; Text unter den Bildern ist Anm. d. Autors). Die Gegenfrage im fünften Bild: Ist sie in dieser Situation nicht eine maßlose Provokation? Sicherlich für den Betroffenen. Aber für uns „Außenstehende“ erklärt sie den Sinn der roten Kontrastfarbe, die offenbar für Gottes oft so verborgene und dennoch existierende Anwesenheit in unserem Leben steht: Für seinen Beistand, seine Hilfe und Rettung, vor allem aber für Vertrauen und Liebe. Damit wird seine Frage eine trostvolle Frage.

Aus der sechsten, unbeschrifteten Tafel spricht großes Schweigen. Die Bedrängnis ist am größten. Man spürt die Stille des Todes, aber gleichzeitig deutet sich kaum wahrnehmbar eine Wende an: Die bis dahin sich nach rechts neigende Silhouette steigt zum ersten Mal wieder an.

Und auf der siebten Glasscheibe dann die Befreiung, die ultimative Antwort Gottes auf Leid und Verzweiflung, auf Hoffnung und Vertrauen. Die roten Farbschichten füllen nun die Hälfte der Bildfläche. Aufgetürmt auf dem Grundstock des Vertrauens sind sie nun zwar auch nicht miteinander verbunden, aber gehalten von dem alles umfassenden orangefarbenen Licht, das den Hintergrund der Bildfläche erfüllt. Eingebunden in dieses warme Licht steht der Mensch größer und fester als je zuvor da, „gekleidet“ in die Wesentlichkeit seines Vertrauens: Gott. Frei von Bedrängnis schaut er – wahrscheinlich voller Verwunderung – auf die sieben roten Balken, die für ihn zuvor verdeckt waren. Als neue Wirklichkeit stehen sie kraftvoll der an den Rand gerückten dunklen Vergangenheit gegenüber und bieten dem Auferstandenen ungekannte Perspektiven …

… und auch uns. Denn dieser auf Glas gemalte Kreuzweg will Durchblicke in existenziellen Fragen geben, Zuversicht und Hoffnung bezüglich des Lebens danach. Vielleicht hat die Künstlerin ihn deshalb auf transparenten Glasscheiben mitten in den Raum gestellt. – Er soll nicht an den Rand gedrängt oder an die Wand gehängt werden, sondern zentral in unserem Leben stehen – wegen seiner Bedeutung für das ewige Leben. Deshalb sollte jeder für sich, für sein Leben und in seiner Situation diese Botschaft vom Kreuzweg zu entziffern und zu begreifen versuchen …