Verborgene Gegenwart

Tastend klettert der Blick über das dunkle Gebüsch in das Bild hinein. Der Himmel ist verhangen, neblig, diffus. Schwaches Licht erhellt minimal die urwüchsige Landschaft, die sich im Gehölz im Vordergrund konkretisiert.

Das Bild gibt sich bedeckt. Es zeigt eine geheimnisvolle Atmosphäre, undurchsichtig und rätselhaft wie wir sie von nebligen Herbsttagen kennen. Die dunkle Wolkenseite schafft eine spannungsvolle Stimmung, bei der nicht klar ist, ob sie vom aufgehenden oder untergehenden Licht erzeugt oder durch ein sich bald entladendes Gewitter verursacht wird. Wie auch immer stehen sich Licht und Dunkelheit gegenüber. Sie scheinen um die Vorherrschaft zu ringen und nehmen den Betrachter in diese Auseinandersetzung zwischen Verhüllung und Offenbarung hinein.

Dabei leuchtet das Licht mystisch in der Finsternis und lässt sich von der Dunkelheit nicht verdrängen (vgl. Joh 1,5). Trotz oder gerade wegen der dunklen Bereiche um es herum lässt das Licht eine wohltuende Kraft und Beständigkeit spüren. Gerade in dunklen und unsicheren Zeiten gibt Licht Orientierung und Halt, so wie Gott.

Das Bild lebt von der verhüllten Gegenwart. Gott als der Unbegreifbare wird in der Bibel an mehreren Stellen als naher Gott beschrieben, der sich in einer Wolke verbirgt. So führte Gott die Israeliten in einer Wolkensäule beim Auszug aus Ägypten (Ex 13,21) und in der Apostelgeschichte (1,9) wird überliefert, dass der Auferstandene bei seiner Aufnahme in den Himmel von einer Wolke aufgenommen und den Blicken der Apostel entzogen wurde.

Wenn im Bild die Wolken und mit ihm das Licht nicht weit oben am Himmel, sondern wie Nebel unmittelbar in Berührung mit der Erde dargestellt werden, so kann das als nahe Gegenwart des unsichtbaren Gottes in dieser Welt gedeutet werden. Gott ist physisch nicht greifbar da, doch zeichenhaft im Licht und den Wolken wahrnehmbar und spürbar. Wer sich Ihm nähern will, dem wird im Bild ein beschwerlicher und mit Anstrengung und Zweifeln verbundener Weg angedeutet. Ein wie im Nebel tastender Lebens-Weg, der aber dennoch aus der glaubenden Verbindung mit Ihm seine Kraft schöpft. Ein lebenslanger Weg aus der Zuversicht, dass Er sich in Sternstunden und ganz gewiss am letzten Tag unverhüllt dem Suchenden, Wartenden, Erwartenden und Ihm Vertrauenden als sein Gott und Lebenslicht offenbaren wird.

„Stückwerk ist unser Erkennen, Stückwerk unser prophetisches Reden; wenn aber das Vollendete kommt, vergeht alles Stückwerk. […] Jetzt schauen wir in einen Spiegel und sehen nur rätselhafte Umrisse, dann aber schauen wir von Angesicht zu Angesicht.“ (1 Kor 13,9b-10, 12)

Dieses Kunstwerk von Daniel Sigloch und Arbeiten weiterer Künstler*innen waren im November 2020 in der Themenausstellung „Bewölkt. Der Himmel in der Kunst – vom Goldgrund zum Wolkenberg“ in der Galerie der Stiftung S BC – pro arte in Biberach im Original zu sehen.

Lebenslinien

Ordnung und Chaos begegnen sich in dieser Zeichnung gleichermaßen. Der helle Grund weist gewebte oder zumindest gleichmäßig verdichtete Strukturen auf, während einzelne Fäden sich nach vorne und nach oben in freier Bewegung davon ablösen.

Die durchaus konkreten Linien wirken andeutend, raumschaffend, durchlässig. Der faserige Strich deutet einen Faden an und lässt ein textiles Gewebe erkennen. Soll damit eine textile Verwicklung oder vielmehr eine sich in Freiheit entwickelnde Bewegung gezeigt werden? Eine sich in die Freiheit hinausbewegende Entwicklung? Aus dem festen Grundgewebe hinaus in haltlosen Freiraum? Eigene Wege suchend, eigene Bewegungen, eigene Farben und Strukturen? – Die Möglichkeit besteht.

Der Ausreißer hinterlässt im Grundgewebe eine Lücke, eine Ausdünnung oder Schwachstelle. Darüber erhebt sich der sich lösende und immer dunkler werdende Strich in freier Bewegung … und hinterlässt eine chaotische, ungeordnete, nicht einzuordnende Spur. So wird der Ausreißer zum Außenseiter, zu einem schwarzen Schaf. Der Ausbruch hat einen Schaden angerichtet, beim einen wie dem anderen.

Aber der Faden scheint nicht getrennt zu sein. Da besteht noch eine Verbundenheit mit dem Ursprung oder der Herkunft. Eine Nabelschnur zur „Mutter“ oder dem „Vater“. Es ist eine aus dem festen Gefüge ausgebrochene Lebenslinie, die eigene Wege sucht, eigene Bereiche erkundet, Welten entdeckt und sich da einbringt.

Entwicklungen und Veränderungen im familiären Sozialgefüge können hier gesehen werden. Eltern geben eine Lebensgrundlage. Doch Kinder brauchen eine fast grenzenlose Ungebundenheit und Freiheit von ihren Eltern, um ihren eigenen Lebensentwurf gestalten zu können. Im Bild kann das so gedeutet werden, dass zum Betrachter hin und am oberen Bildrand Freiräume sind, also „Luft nach oben“ besteht. Ist das Loslassen der Eltern nicht ein Vertrauensbeweis in ihre Kinder und deren Fähigkeiten, der diesen über Raum und Zeit hinweg wieder Verbundenheit und Halt gibt?

Die Arbeit von Karl Schleinkofer mutet wie eine grafische Darstellung des Gleichnisses vom Verlorenen Sohn an, der mit dem Einverständnis seines Vaters und seinem ganzen Erbe in die Ferne gezogen ist und später, als dieses verbraucht war, als Armer wieder zum Vater zurückkehrte, weil doch eine Verbundenheit geblieben ist.

Ebenso kann durch die Hervorhebung einzelner Fäden in der Zeichnung sehr schön ein Grundprinzip unseres Glaubens meditiert werden: Der Glaube bildet im Leben des Gläubigen eine haltgebende Grundlage, die ihm ermöglicht, individuell seiner Berufung nachzugehen und diese in das Gesamtgefüge der Gesellschaft einzubringen. Die Linienführung macht deutlich, dass es ein Suchprozess und damit kein einfacher Weg ist, der auch dunkle und schmerzvolle Zeiten kennt. Die Interaktion der verschiedenen Linien machen aber auch deutlich, dass gerade dadurch eine Tiefe und Spannung ins Bild kamen, die dem „Lebens-Bild“ wie einem guten Essen eine besondere Würze geben.

Diese und viele unveröffentlichte Arbeiten von Karl Schleinkofer waren im Februar 2020 im Museum Moderner Kunst Wörlen in Passau in der Ausstellung „Arnulf Rainer und Karl Schleinkofer“ zu sehen.

Sich in den Frieden retten

Bilderrätsel haben es so an sich, dass ihre Elemente für den Betrachter nur Vermittler zur wesentlichen Botschaft sind. Diese ist unter den Zeichen verborgen und wird erst durch das Enträtseln des Symbols sichtbar.

In der vorliegenden Arbeit bildet der Bildausschnitt eines wie zufällig unter einem Fluchtwegschild an die Wand gelehnten Blindenstocks den Anreiz, dem Bildrätsel nachzugehen und die eigenartige Erscheinung zu ergründen. Zuerst mag auffallen, dass die Zeichen auf dem Schild verändert worden sind. Anstelle des rechteckigen Symbols für die Tür ins Freie hat der Künstler das Symbol für „peace“ – Frieden gesetzt. Die Botschaft des Schildes heißt jetzt in etwa „Suche den Frieden“ oder „Dein Fluchtweg ist der Frieden“, „Rette dich in den Frieden“.

Dass diese Suche des Friedens, dieses aus den mit Unfrieden angezündeten und brennenden Häusern, Räumen und Gemeinschaften Flüchten nicht so einfach ist wie auf dem Schild dargestellt, darauf weist der Blindenstock hin. Der Friede ist da, doch wie Blinde sehen wir ihn meistens nicht. Wir vermögen ihn oft nicht zu erkennen und suchen ihn wie Blinde mit den verschiedensten Hilfsmitteln, vor allem in Notsituationen, eben wenn Unfrieden im Haus ist und sein zerstörerisches Unwesen treibt.

Und doch ist der Frieden so nah. Er könnte bei mir beginnen. Es liegt in meiner Hand, es gehört zu meinem Vermögen, Frieden zu stiften. Ja, ich kann Friedensstifter sein, doch gleichzeitig ist es schwer, den Frieden zu bewahren und nach einem Bruch wiederherzustellen. Er ist so zerbrechlich …, gerade bei großer Unzufriedenheit und starken Zerwürfnissen scheint der Frieden oft eine Sehnsucht zu bleiben. Und obwohl die Sehnsucht nach Frieden grenzenlos ist, obwohl man ihn sich wie nichts anderes wünscht, tappt man bei der Suche oft im Dunkeln.

Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb u.a. die katholischen Gottesdienste wesentlich vom Erbarmen Gottes geprägt sind, das in allen Beziehungen Vergebung und Versöhnung ermöglicht. Jesus ist der Friedensstifter, der durch seine Hingabe alles Trennende wegnimmt und die Basis schafft für neue Beziehungen. Er sagt den Gläubigen zu: „Frieden hinterlasse ich Euch, meinen Frieden gebe ich euch,“ und „Gehet hin in Frieden.“

Im Gleichgewicht mit Gott und sich selbst kann das Kunststück gelingen, rücksichtsvoll zu all jenen in unserer Gesellschaft zu sein, die nicht der Norm entsprechen, ja ihnen sogar zuvorkommend zu begegnen. Frieden beginnt im zwischenmenschlichen Bereich in der gegenseitigen Achtung, im behutsamen Umgang miteinander, im Bemühen, niemanden zu verletzen, usw. Der Blindenstock erinnert uns daran, dass wir dafür immer wieder unsere Umgebung nach „Hindernissen abtasten“ und ihnen gegebenenfalls ausweichen müssen, damit der Friede bewahrt wird und niemand zu Schaden kommt. Es liegt an uns, den Frieden zu „retten“ und ihn Tag für Tag „in Sicherheit zu bringen“ vor allen zerstörerischen Kräften. Gott hat uns alle Fähigkeiten dazu gegeben.

Transzendenz suchen

Stabat, aus dem Lateinischen übersetzt, heißt: „er, sie oder es steht“. Und da stehen sie nun tatsächlich, zwei Bildtafeln auf massiven Holzblöcken, einfach an die Wand gelehnt und sich so dem Kirchenraum und damit auch dem Betrachter noch einmal auf andere Weise öffnend als an der Wand fixierte Bilder. Ist es diese Anspielung oder die durch den Titel hervorgerufene Erinnerung an den Beginn des mittelalterlichen Gedichtes Stabat mater dolorosa (Es stand die Mutter schmerzerfüllt), die unsere Gedanken führt?

Zweimal 78 kleine, querformatige Bildelemente füllen als Collage zusammengefügt den Fond der beiden Bildtafeln als Idee einer frühlingsjungen, lindgrün bis steinkieselfarbenen Landschaftsanmutung, die keinen Horizont, keine Begrenzung kennt.

In diesen Landschaftsräumen, der eine in seinem Charakter heller und freundlicher als der andere, stehen bildfüllend zwei gegen jegliche Unbill des Wetters vermummte Gestalten. In Rückansicht gegeben verschmelzen sie im scheinbaren Gegenlicht zu kompakten Formen, die eine in ein dunkles Grau, die andere in ein dunkles Rot getaucht. Wie von einer geheimnisvollen Regieanweisung zu einem spiegelsymmetrischen Verhalten angeleitet, stellen sie ihre Kameras auf. Die Beine der Stative überkreuzen sich in diesem Pas-de-deux, so dass inmitten des Bildes auf diese Weise fast eine Form entsteht, die an den Davidsstern erinnert.

Die Personen blicken in die Ferne, nehmen etwas gemeinsam ins Visier, das indes unbestimmt bleibt. Sie stellen die Objektive scharf, schärfen zugleich ihre Aufmerksamkeit. Drei Kreisformen über ihren Köpfen erinnern an Zielscheiben. Ein roter Punkt glimmt in einem der Bilder auf, als sei die Videoaufnahmefunktion der Kamera eingeschaltet. Das Gegenüber, die andere Bildtafel, antwortet darauf mit einem erloschenen grauen Punkt. Gleich einem Diptychon beziehen sich die Bilder aufeinander.

Diese Bildanlage, insbesondere auch die angedeutete Kreuzstruktur des Fonds, wie auch die bildsymmetrische Anordnung der Figuren auf jeder der beiden Tafeln, die vage an die Positionierung der Assistenzfiguren Maria und Johannes unter dem Kreuz Jesu Christi erinnert, lässt die Schilderung der Expeditionssituation zu einer Zeit und Raumgrenzen überschreitenden Positionierung zur Transzendenz werden.

Dieser Text wurde von Dr. Simone Husemann erstveröffentlicht in „Positionierung zur Transzendenz“. Worte aus der Zumutung Gottes. Das Buch zur Ausstellung „Hier stehe ich! … Standpunkte, die bewegen“. Katholische Erwachsenenbildung Wiesbaden-Untertaunus und Rheingau, 2017, S. 72.

Das Buch ist für 10 € (+ 3 € Porto) über diese Mailadresse info@standpunkte2017.de zu erwerben.

Suchen und Finden

Kontrastreich steht die glatte lichte Gebäudehülle in einem feingliedrigen dunklen Umfeld. Ihre Vorderseite ist offen, lädt zum Eintreten ein. Doch kein Weg führt durch die unwirtliche Umgebung zu ihr hin. Ringsum dieser fellartig dichte Stangenwald, schwarz verkohlte Baumstümpfe vielleicht, ast- und blattleer, ganz ohne Leben.

Mitten in dieser Einöde also das Gebäude: „hausartig, einräumig, selbst wie hineingelandet – oder herausgewachsen? Über die Maßen hoch; über den dunkelrestigen Stämmen steht es; fremd, ein Leuchtbau, ein Lichtort. Groß und große Stille. Dreiwandig; die vierte, die vordere Seite nur Öffnung. Ein Dastehen, wartendes Geschehnis, aus dem Zentrum gesetzt und doch die Mitte der Installation. Im Fundament schon erhaben: Anwesenheit. Ruhend. Mysterienhaus, ein Geheimes. Von irgendwoher beleuchtet? Aus sich selber strahlend? Ringsum dicht gereiht Stecken, ein verschwiegener Platz (Seitenansicht).

Eine anziehende Entdeckung. Dabei einfaches Material: Schwarze Drahtstücke sind in die Holzunterlage gesteckt, das Haus ist aus hellem, ausstrahlendem Kunstharz entstanden; schön und märchenhaft; ein Haus für Poesie und Musik. Und für die Feier, eine große, seltene, vielen noch unbekannte Feier müsste das sein. Und es hieße darin: Erhebet die Herzen. Für ein Kommen, für die Ankunft, die noch gar nicht ersehnte …

Der Raum erwartet, er empfängt zum Fest, zum Hören, er ist Atmen. Er lädt zur Musik. – Aber die Arbeit von Alois Achatz ist kein Traumstück, vielmehr ein Bild der Realität: Denn es steht wie im Versengten. Wie abgefackelt die Pfosten, Bäume oder was sie auch waren; eine Dunkelwelt, in der sich mühsam das Leben neu zu organisieren hat.

Wenn ich in die Stämme hineintreten will, finde ich mich am Dickichtgewirr, im Baumrestbestand. Ich suche um die Stöcke herum ins Innen. Mein Jahr in der Niemandsbucht von Peter Handke fällt mir ein: Wie der Icherzähler sucht, nach Pilzen und nach mehr, nach viel mehr. Und wie er Sucher erlebt. Wie die Menschen durch den Wald suchen, nach Pilzen. Nicht nach mehr? Handke fragt, wie man ein guter Sucher wird: Indem man nebenbei sucht, sich nicht verkrampft in lauter Absicht, auch im Unscheinbaren sucht, in Licht und Gegenlicht. Und in der Ruhe, voller Stille. Bereit für die Überraschung (vgl. Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht, suhrkamp taschenbuch 3887, S. 522- 525).

Alois Achatz hat mit dieser Installation eine Suchersituation, eine Suchlockung gebaut. Und die Chance des Findens, des Mehr-Findens. Und nochmals erinnert mich sein Kunstwerk an eine Erzählung von Peter Handke: Der große Fall: Ein Schauspieler geht und läuft den Tag lang in die große Stadt, von außen her, durch die Ränder, in den Abend, zu einer Veranstaltung, zu seinem Leben. Durch das Land, an Menschen vorbei. Es überkommt ihn der Hunger, ein riesiger: Ein Hunger nach Speisen; nach der Frau; nach mehr; nach viel mehr … nach dem Geist. Der hungernde Stadteinwärtsgeher, Vorbeigeher, Menschenseher meint sterben zu müssen, wenn er nicht sofort den Geist findet. Und die Mehr-als-Speise. Veni, Creator Spiritus, so erfüllt es ihn. Glocken hört er, dem Klang geht er nach; er findet eine kleine Kirche. Und die ist offen. Und es ist Messe. Und eine Heiterkeit geht von der Eucharistiefeier aus in sein Weitergehen (vgl. Peter Handke, Der große Fall, Suhrkamp 2011, S. 173 f). Ähnlich stellt Alois Achatz uns das Suchen ins Bild. Und das Finden des Lichthauses. Er baut uns die Einladung zum Hunger, zum Hören der Glocke, zum Betreten seines Werkes. Zum Suchen des Mehr, des Noch-viel-Mehr.“ (Textzitate und -änderungen mit freundlicher Genehmigung von Josef Roßmaier aus dem Buch Gegenüberstellung, S. 42, siehe unten)

Dabei verkörpert das weiße Gebäude einen Ort der Sehnsucht, der Unversehrtheit und Reinheit, gerade für Menschen, die von Unruhe erfüllt oder bereits innerlich ausgebrannt sind. Es schützt und gibt gleichzeitig neuen Bewegungsraum. Es bildet einen Kraftort, in dem die Sehnsucht nach Leben durchatmen kann. Und allen anbietet, in den unendlich größeren Lebensgeist Gottes einzuatmen.

Gegenüberstellung – Brücke zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem. Hrsg. vom Bischöflichen Ordinariat Regensburg anlässlich der Ausstellungen zum 99. Deutschen Katholikentag. Regensburg 2014, 112 S., 88 Abb.,  ISBN: 978-3-7954-2895-2

Stiller Klang

Still und zurückhaltend gibt sich dieses Bild dem Auge des Betrachters. Erste Orientierung geben zwei schwarze vertikale und eine horizontale Linie sowie ein rotes Quadrat. Um sie herum ein Spiel von pastellfarbenen Vertikalen.

Doch dann vermag man im durchgehenden rosafarbenen Band über dem roten Quadrat, geradezu behütet von den zwei schwarzen Vertikalen, eine schwebende Mandelform zu erkennen. Ihre Präsenz gibt sich geheimnisvoll in dem nach oben offenen Gefäß in der Mittelachse. Durch seine ungleich geformten Seiten hat es etwas Lebendiges an sich. Wie zwei lange Fühler durchqueren sie das Bild und assoziieren etwas Horchendes und doch auch Tastendes, das genauso flüchtig ertönt wie der Ton aus den Schwingungen der beiden Zinken einer überdimensionalen Stimmgabel.

Gehalten, ja zusammengehalten beziehungsweise stabilisiert werden die beiden Senkrechten zum einen durch den quadratischen Block, zum anderen durch die Waagrechte, die einem wie eine Balancierstange eines Seiltänzers vorkommen kann.

Doch scheint es im Bild weniger darum zu gehen, über etwas zu schreiten, als vielmehr mitten in einem feinen Geschehen, manchmal rätselhaften Geschehen Orientierung zu erhalten. Die seitlichen Waagrechten könnten auch für Episoden, für kleinere oder größere Abschnitte im Lebenslauf stehen. So wie sie die seitlichen Vertikalen kreuzen, vermitteln sie das Gefühl, dass hier ein Rhythmus durchdrungen und erspürt wird. Von der Mitte aus, vom roten Quadrat, das allein von seiner Farbe und Position her als Sitz des Lebens und der Liebe gedeutet werden darf.

Wenn sich darüber und zwischen den beiden schwarzen „Wahrnehmungsfühlern“ die Mandorla manifestiert, dann gleichsam als geistiger Raum, als wunderbare Erscheinung von etwas Unfassbarem und Erhabenen in der Mitte des Erspürenden und Wahrnehmenden selbst.

Identitätssuche

Ein seltsames Bild, eine geheimnisvolle Erscheinung: Ein kopfloser Mann steht uns mit verschränkten Armen gegenüber. Sein Unterleib ist nackt, sein Oberkörper mit einem eng anliegenden T-Shirt bedeckt. Das dornengekrönte Haupt von Jesus ziert die Brust dieses unbekannten Mannes. An der Stelle seines Kopfes befinden sich drei Ballons, die an seinem Glied befestigt sind und es in die Höhe ziehen.

Hilflosigkeit macht sich beim Betrachten dieser Arbeit breit. Was will der Künstler mit diesen ungereimten Darstellungen aussagen? Will er verwirren? Wieso hängt er die Ballone am männlichen Glied auf? Will er anstößig sein – oder gar dessen Potenzprobleme in den Vordergrund rücken? Und ist der bloßgestellte Intimbereich im Zusammenhang mit dem Gekreuzigten nicht völlig unangebracht, verletzt er damit nicht religiöses Empfinden? „Erklärende Begriffe wie absurd, merkwürdig, eigenartig, erotisch oder pervers tauchen genauso schnell auf wie sie auch wieder verschwinden …“(Dorothea Strauß).

Stephan Melzl sagt von seinen Bildern, dass sie am ehesten Aphorismen gleichen. Er bringt seine Gedanken also pointiert, von der üblichen Auffassung abweichend, ins Bild. Folglich müssen wir genau schauen und nachdenken, was die Bildsprache ausdrücken kann.

Seine Arbeit zeigt drei Bildebenen. Die untere stellt das Naturhaft-Menschliche dar, unverhüllt als Zeichen seiner fundamentalen Bedeutung. Die mittlere Ebene, das Herzstück der Gestalt, zeigt den Oberkörper mit dem T-Shirt in klaren Konturen und Farben. Und oben finden sich anstelle des Kopfes drei schwebende Luftballons, die mit Schnüren mit dem unteren Bereich verbunden sind.

Blickfang ist der mittlere Bereich. Das Jesusgesicht auf dem T-Shirt ist gleichsam eingebettet in die gekreuzten Unterarme. Das mit der Dornenkrone angedeutete Kreuzthema wird dadurch verstärkt. Das Gesicht ist zudem von einem auf der Spitze stehenden gelben Quadrat hinterfangen, das an einen Heiligenschein erinnert. Sein Licht scheint die obere Hälfte des Gesichts erhellend und verklärend zu durchdringen.

Als Kontrast zum menschlichen Gesicht darüber das kopfähnliche Gebilde der Luftballons, dreifach überhöht. Es ist, als wollten sie die Realität des Lebens verlassen und den Kopf mit seiner ratio ersetzen. „Mit uns sind Sie im Himmel zuhause“ verspricht eine Werbefirma für Luftballons. Schwereloses Glück und luftige Kinderträume werden mit Luftballons verbunden, permanent von der alles vernichtenden Zerstörung durch einen Nadelstich bedroht. Und wenn das Gas keinen Auftrieb mehr gibt, sinken und schrumpfen die Ballons … So könnten sie für kurzlebige, aber auftriebstarke Phantasien stehen, welche nicht nur heranwachsende Menschen so richtig kopflos werden lassen. Andererseits wird die Dreizahl, hier zudem noch schwebend, gerne mit dem Göttlichen oder gar der Dreifaltigkeit verbunden. Deshalb können die drei Luftballons mit ihrer dünnen Plastikhaut auch das ganz Andere, das Geistige, das Gewohnte Übersteigende, umhüllend und verhüllend darstellen.

Die Fragen bleiben: Um was geht es hier wirklich? Wer wird hier Schicht um Schicht dargestellt? Die Farben des T-Shirts und die Haltung des Mannes verweisen zum einen auf die Phantasiefigur Superman. Er möchte anscheinend groß dastehen, über sich hinauswachsen, doch noch sind seine Arme tatenlos verschränkt, abwartend, suchend. Zum andern nehmen auch Jesus und das, wofür er steht, im Leben dieses Mannes einen zentralen Platz ein. Hinzu kommen die luftigen, aber verborgenen Wünsche in seinem Kopf, die seinem Leben geheimnisvoll Auftrieb geben.

Dieser Mann scheint noch nicht zu wissen, was er will. Der verwirrende Eindruck, den das Bild bei uns Betrachtern hinterlässt, ist die Situation des Dargestellten. Als Suchender ist er ob der vielen Vorbilder und Möglichkeiten verwirrt und tut er sich mit der eigenen Identitätsfindung schwer. So sehr die Gedanken an seine Träume ihm Glücksmomente zu bescheren scheinen wie bei sexueller Erregung, ist er auf der Suche nach seinen Potenzialen, nach seinen schöpferischen und identitätsbildenden Kräften.

Dieser Eindruck wird durch die Hintergrundgestaltung verdichtet. Eine mandelförmige Lichterscheinung umgibt geheimnisvoll die Gestalt des jungen Mannes. So eine Gloriole oder Aura findet sich vor allem bei Christusdarstellungen, bei denen es u. a. darum geht, seine Herkunft und die Würdigung seines Lebenswerkes zum Ausdruck zu bringen. Mit der umfassenden Lichterscheinung auf dem Bild kann also eine göttliche Schaffenskraft angedeutet sein, die der junge Mann hinter sich spürt. So wie sein Unterkörper in ein magisches Licht getaucht ist, scheint diese Energie ihn zu erfüllen und seine Schöpferkraft zum Finden der ganz eigenen Fähigkeiten seiner Persönlichkeit zu wecken.