Transitus

Langgezogen schwebt das Stück Holz über dem Boden. Braunschwarz hebt es sich von den hellen Steinfliesen ab. Seine unregelmäßigen Ränder erinnern an die Bewegung von Wasser und lassen es wie ein Boot dahinfließen.  Dunkel umgibt es seinen hellen Passagier – eine Hinterlassenschaft wie das Holz selbst. Abgestreift, liegengelassen, liegengeblieben. Im Fluss der Zeit gestrandet und übriggeblieben.

Das Tuch auf der Mooreiche ist hingeworfen wie ein Bettlaken nach dem Aufstehen. Auf der einen Seite hängt es von der Eiche wie auf den Boden herabfließend. Auf der anderen Seite – abgesondert – liegt ein ordentlich zusammengelegtes Tuch als Referenz auf das gefaltete Schweißtuch im Grab Jesu und verweist auf den Morgen seiner Auferstehung (vgl. Joh 20,6-7).

Es überrascht, dass das, was weich und stoffig aussieht, doch fest und fast wie versteinert ist, denn beide Tücher bestehen aus Gips. Aber weil die langgestreckte Draperie die Formen einer liegenden Person aufnimmt, tastet der irritierte Blick immer wieder sich vergewissernd darüber, ob sich nicht doch jemand unter dem Tuch befindet. Auch von der Seite betrachtet wirkt das teilweise herunterhängende Tuch wie ein im Meer Treibender, der sich mit letzter Kraft auf ein sicheres Stück Holz hat retten können und nun wie in Kreuzform zerflossen und ermattet darniederliegt.

Das Holz ist das Fragment einer Eiche, das Jahrhunderte in einem Moor oder einem feuchten Kiesbett lag und dessen Eisengerbstoffe den Stamm von innen heraus dunkel verfärbt und verhärtet haben. Auf diese Weise hat es als eine Art Fossil seinen Verfall überdauert und seine Energie in sich bewahrt. Das Holz wirkt wie eine Kapsel oder Hülle, in der das Tuch überfließendes Licht und Leben andeutet – ein Leben, das der Tod nicht vernichten konnte.

Die Skulptur erinnert an die Vergänglichkeit des Lebens, ans Sterben, den Tod, den Abschied durch das Zurückgeben an die Erde und das Einbetten in sie. Holz und Tuch erinnern an die letzte Liegestätte, in die wir unsere Lieben für ihre letzte Reise betten. Das helle Tuch atmet mit seinen bewegten Falten Licht und Lebendigkeit in der Dunkelheit des Sterbens und des Todes. Als Relikt des Übergangs erzählt es von der Entfaltung des Lebens von der Geburt bis über den Tod hinaus in ein unsichtbares, erneuertes Leben. So wird aus dem Faltenwurf des stofflichen Seins ein gefalteter Entwurf der neuen Wirklichkeit.

In der Ritterkapelle des Heilsbronner Münsters bildet die Skulptur mit ihren vielfältigen inhaltlichen und räumlichen Bezügen einen besonderen Kraftort. Inmitten der schweren rechteckigen Grabsteine der Ritter lässt sie – erst recht im Licht der Sonne leuchtend – leicht und bewegt, kraftvoll und lebendig die österliche Auferstehung spürbar gegenwärtig werden.

 

Das besprochene Kunstwerk war 2020 Teil der Ausstellung “bewegt – beflügelt – bewahrt” im Münster Heilsbronn und dem Religionspädagogischen Zentrum Heilsbronn.