In intensiven Farben präsentiert sich uns ein altbekannter und vielen wahrscheinlich auch vertrauter Text: das Gebet zum Vater im Himmel, das Jesus seine Jüngern gelehrt hat. Mit diesen Worten wurde ein Bild gestaltet, das auf Illustration verzichtet, um “das Wort transparent werden zu lassen” (Samuel Buri). Mit graphischen Mitteln hat er die Bedeutung des Wortes hervorgehoben und den alten Worten durch die frischen Farben Fröhlichkeit und neue Aktualität verliehen. In dem Gebet ist Lebenskraft.
Durch die Schrifttypen und -größen lassen sich zwei Bildebenen unterscheiden. Auf der unteren befinden sich die drei Wörter “unser Vater” und “AMEN”, die durch ihre Größe visuell im Vordergrund stehen. “unser Vater” steht in himmelblauen Buchstaben oben. Bei betrachtendem Verweilen fällt erst die Mischung von Groß- und Kleinbuchstaben auf. “UnSer VaTer” steht da. Was das wohl zu bedeuten hat? Ist das kindlich-unbedacht so hingeschrieben? Oder dient es der graphischen Gestaltung? Oder können wir an ein Passwort aus der Computerwelt denken, das aus verschiedenerlei Zeichen zusammengesetzt den Zugang zu einem gewünschten Bereich öffnet? Wie dem auch sei, es ist jedenfalls keine steife, förmliche Anrede, die obenan steht, sondern eher eine vertraute. Von Natur aus schauen wir zum Vater auf. Seit Jesus dürfen wir Gott Vater nennen, ist Gott als Schöpfer unser aller Vater.
In großen Buchstaben steht “AMEN” in feurigem Orange unten an der Basis dieses Schriftbildes. Ein bekräftigendes Ja von uns Menschen, ja, so geschehe es und so sei es, was der Lesende in diesem Gebet bekennt. Durch viele Jahrhunderte hat sich dieser Akklamationsruf erhalten – einst das einzig aktive Mittun der Gemeinde – heute noch in den Gottesdiensten der Juden, Christen und Muslime beheimatet. Die freie Schreibweise dieser drei Wörter lassen sie in ihrem Auf und Ab geradezu melodiös klingen: fröhlich beschwingt oben, fest und feierlich unten. Zusammen mit dem mit luftigen Farbfeldern gestalteten Hintergrund vermitteln sie Lebendigkeit und Individualität. Das Herrengebet erscheint so als ein starkes und sehr persönliches Gebet.
Die obere Ebene ist im Unterschied zur unteren streng linear gestaltet. Auf dem freien Untergrund erscheint das in zwei Farbblöcke geteilte Rechteck mit den regelmäßigen Zeilen und der kleinen Schrift in ebenso regelmäßigen Großbuchstaben wie eine Bekanntmachung im öffentlichen Raum. Hier wurden Worte in einen festen Rahmen gebracht. Nüchtern, ohne Gewichtung, ohne Spielraum. Nur die Farben wechseln ab: blau, gelb, blau, gelb … wie die beiden Farbhälften, die dem Gebet, das aus unserem menschlichen Leben kommt – die vielen Horizontalen deuten dies an – eine klare vertikale Ausrichtung geben.
Die beiden Farben Blau und Gelb bilden auch die Farbe der Schrift. Die Buchstaben sind auf dem jeweiligen Hintergrund gut lesbar, weil die Schrift durch orangefarbene und dunkelblaue Balken hervorgehoben wird. Durch diese Farbsprache entsteht eine lebendige Beziehung zwischen dem himmlischen “unser Vater” und dem irdischen “Amen”, die das Gebet zu einer breiten Treppe zum gemeinsamen Vater werden lässt.
Die plakatähnliche Darstellung von Samuel Buri gibt sich als farbenfrohe Einladung an uns Betrachter, dieses Gebet Wort für Wort, Stufe um Stufe zu “beschreiten”, um so die Größe und die Tiefe dieses Gebetes zu erfahren – die befreiende und stärkende Kraft, die aus dem Vertrauen zum Vater im Himmel kommt.
Dieses Bild entstammt der Zürcher Bibel – Kunstbibel 2007. Einspaltige Ausgabe mit 25 Schriftbildern von Samuel Buri 2007, ca. 2000 Seiten, 14,2 x 22 cm, Hardcover, ISBN 978-3-85995-243-0, CHF 60,00 / EUR 38,00
Prospekt zur Zürcher Bibel 2007 mit allen Aquarellen von Samuel Buri