Die eine Hälfte eines Baumes liegt am Boden, die andere Hälfte schwebt aufgehängt im Raum. Eine verkehrte Welt: Außen befindet sich innen und was normalerweise in die Höhe ragt und tragfähig ist, liegt am Boden bzw. hängt an einem Seil in der Luft. Im Wurzelbereich finden sich zudem Schuhe, die mit Stacheldraht befestigt sind. (Großansicht) Sie weisen darauf hin, dass es hier um Menschenschicksale geht, drastisch dargestellt am Beispiel dieses Baumes.
Als Baum hat der Künstler eine Weide gewählt. Diese wachsen bevorzugt am Wasser – am Lebenselixier par excellence. Mit der Wurzel wurde sie ausgegraben und in zwei Teile zersägt in eine absolut fremde Umgebung transportiert: einen Innenraum ohne direkten Wasser- oder Luftkontakt zur Außenwelt. Die Brutalität der Entwurzelung wird gesteigert durch die Überwindung der Schwerkraft und die enge Verbindung mit den Schuhen. Durch den Stacheldraht wird ihr Schicksal untrennbar und lässt sie beide zu Treibgut der derzeitigen gesellschaftlichen Strömungen werden. (Großansicht) Ihnen beiden ist der Boden unter den Füssen weggezogen worden. Ihr Schicksal hängt an diesem „seidenen Faden“. Werden sie gehalten – oder fallen gelassen?
Die Skulptur hält uns einen Spiegel vor Augen, was mit vielen Zeitgenossen geschieht, die durch politische, religiöse oder wirtschaftliche Krisen in die Flucht getrieben werden. Sie nehmen die Entwurzelung von allem, was sie bislang umgeben und gehalten ha,t in Kauf, um ihr Leben und das ihrer Familien zu retten. Der Sprung in die Freiheit verlangt allerdings Ausdauer, er ist wie beim Baum eine lange Durststrecke, bei der in keiner Weise sicher ist, ob der Baum / Mensch je wieder Wurzeln schlagen kann oder ob er ein Entwurzelter / Heimatloser in der Fremde bleiben wird. Das deuten auch die mit Stacheldraht am Baum gefangenen Schuhe an. Diese sind mit Gewalt an den Baum gebunden, so dass ein Weitergehen in den eigenen Schuhen nicht mehr möglich ist.
Der ausgestellte Baum bringt auch schmerzvoll zum Ausdruck, dass die geflüchteten Schutzsuchenden am neuen Ort wohl Schutz erfahren, aber zu sinnloser Untätigkeit verurteilt sind. Sie sind ihrer natürlichen Handlungsfähigkeit weitgehend beraubt und „liegen“ und „hängen“ deshalb tatenlos herum.
Der sich jeder Definition entziehende Werkname „Ohne Titel“ trifft hier den Kern der Sache. Das Erschrecken über die Entwurzelung im Kontext von Flucht, Vertreibung und sozialer Entwurzelung kennt keine Worte.
Das einzig Notwendige sind mutige Entscheidungen und aktives Zupacken von unserer Seite, um Zeichen der Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit zu setzen: Die in unserem Lebensraum Angekommenen zu besuchen und sie nicht länger als „angeschwemmte“ Fremdkörper zu betrachten oder zu behandeln. Die Darniederliegenden sind aufzurichten, den Entmutigten ist Mut zuzusprechen, den Heimatlosen neuer Boden unter den Füßen zu geben, die in den Gesetzesvorschriften Gefangenen sind zu befreien und zu neuer Lebensqualität zu führen. Zu all dem und noch viel mehr kann diese eindrückliche Arbeit von Eduard Winklhofer Anstoß geben.
Die Ausstellung Ich bin da. Kulturelle Perspektiven zum Thema Flucht, Vertreibung und Migration war bis zum 12. Juli 2015 im ehemaligen Kloster St. Klara in Regensburg zu sehen. Sie gehörte zu einem reichhaltigen kulturellen Programm, das mit Ausstellungen, Konzerten, Lesungen, Kino, Exkursion und mehr … offene Blicke auf ein aktuelles Thema freigab.