Die Zusammenschau der drei quadratischen Bilder lässt durch Ihre Heterogenität eine Fülle von Assoziationsmöglichkeiten zu. Denn das Grau der Steine und des Wasserglases oder das runde Element in jedem Bild vermögen Verbindungen zu schaffen und den “Trialog” zu beleben. Auf verschiedenen Ebenen entstehen Bezüge, die immer wieder um eine Dreiheit kreisen:
Allen drei Bildern geht es um Ausdehnung und um Irritation. Die Ausdehnung erfolgt um eine runde Mitte herum (auch beim Glas hat die nicht sichtbare Öffnung des Glases in etwa den gleichen Durchmesser wie die beiden zentralen Steine). Die verwendeten Primärfarben Gelb, Rot und Blau bilden die Basis für den ganzen Farbenkosmos. Von links oben bis zum unteren Bild ist zudem eine Steigerung zu beobachten. Während die goldgelben Samen, die auch Wachstum beinhalten, noch geschlossen daliegen, scheint die rote Farbe im zweiten Bild wie Feuer oder vergossenes Blut unter dem dunklen Stein hervorzuspritzen, um dann ganz rechts explosionsartig alles zu sprengen und jede feste Form hinter sich zu lassen bzw. in Seifenblasen eine temporäre Form einzunehmen. Letztere stehen im Gegensatz zu den Versteinerungen in den anderen beiden Bildern, die Überzeitliches versinnbildlichen.
Die Bildtitel zu den in einem trompe-d’oeil-haften Realismus gemalten Arbeiten legen einen Zusammenhang mit alchemistischem Denken nahe. Splendor solis lässt an das gleichnamige illustrierte alchemistische Manuskript aus dem 15. Jahrhundert denken, in dem es um die Herstellung und Wirkungsweise des Steines der Weisen geht. Mit Mercurius wird Quecksilber (keckes oder lebendiges Silber) bezeichnet, von dem angenommen wurde, dass es den flüssigen und festen Zustand überschreitet. Ob es sich bei dem Triptychon um eine Darstellung der Tria Prima der Alchemie handelt? In der Tria Prima beschreibt Paracelsus das Gesetz des Dreiecks: zwei Komponenten kommen zusammen, um eine dritte zu erzeugen. Grundlage sind bei ihm Schwefel, Salz und Merkur. Schwefel ist die Flüssigkeit, die das Hohe und das Niedrige verbindet. Salz gilt als Grundstoff, Merkur ist der allgegenwärtige Geist des Lebens.
Doch anstatt von Schwefel liegen Weizenkörner auf dem runden Stein, anstelle von Salz spritzt Blut über die quadratische Platte und statt Quecksilber schießt blasenbildendes Wasser in die Höhe. Diese Beobachtung und auch der zweite Bildtitel Salz der Erde, der in engem Bezug zu Jesus steht, sorgen für Irritation. Sind hier alchemistische Symbole weiterentwickelt worden und mit neuen Bedeutungen verbunden worden? Dann wäre eine christliche Interpretation der vielleicht unorthodoxen Darstellung von etwas Bekanntem gar nicht so abwegig. Vorzugsweise setzen wir unsere Betrachtung rechts oben fort.
Der viereckige Stein ist ein Symbol für die Erde. Mit Salz der Erde werden die Worte aus der Bergpredigt (Mt 5,13) angesprochen, mit denen Jesus auf die unabdingbare, verantwortungsvolle Aufgabe der Jünger in der Welt hinweist, Gutes zu bewirken, sich für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einzusetzen – Licht der Welt zu sein. Jesus hat sein Leben bis in den Tod hinein dafür hingeben. Er ist DAS Salz der Erde, der mit seinem Leben und seinem Blut zur Vergebung des Unrechts an den Menschen neue Maßstäbe gesetzt hat. So kann das mittlere Bild als eine Art Kreuzigung gesehen werden: Gottes Sohn, erschlagen durch unsere Sünden. Sein Blut ist das Salz der Erde, das bewirken sollte, dass solches Unrecht nicht weiter geschieht. Er ist der Stein der Weisen, der in uns diesen Sinneswandel vollbringt und einen menschlichen Goldstandard etabliert wie es keine alchemistischen Wunder zustande bringen. Blut und Wein verweisen auf die Einsetzungsworte beim Abendmahl: „Trinkt alle daraus, das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ (Mt 26,27f). Der perfekt runde Stein in der Mitte mag die göttliche Natur Jesu andeuten, die Zweiteilung mit der roten Farbe, dass er mit seinem Blut die gespaltene Erde/Materie versöhnt.
Der runde Stein – ohne Anfang und Ende – ist Symbol für die Unendlichkeit und für Gott. Mit seinen Versteinerungen ist er ein Urgestein. Die Weizenkörner sind im Licht und der Wärme der Sonne (Spendor solis = Pracht der Sonne/Sonnenglanz) gereift und als Goldkörner dargestellt. Mit dem Stein in der Mitte wird ihre nächste Wandlung zu Mehl angedeutet, aus dem dann Brot und andere Lebensmittel gemacht werden können. Entsprechend kann hier eine Allegorie Gott Vaters gesehen werden, der der Sonne ihre Pracht verliehen hat und uns das tägliche Brot schenkt.
Auf dem unteren Blatt wird alles Bisherige gesprengt und in eine neue Daseinsform überführt, der etwas für uns Menschen Unfassbares anhaftet. Das versteinerte Wasserglas birst und das Wasser sucht sich nicht den bekannten Weg der Schwerkraft, sondern breitet sich überraschenderweise wie eine in die Freiheit entlassene Materie nach oben aus, die dabei noch fröhliche Luftblasen bildet. Merkur bzw. Hermes war in der griechischen Mythologie der geflügelte Götterbote, der Überbringer von Botschaften. Im christlichen Glauben wird die unsichtbare göttliche Kraft dem Heiligen Geist zugeordnet, der kreativ in der ganzen Schöpfung am Wirken ist: unsichtbar, geheimnisvoll, wunderbar, lebendig.
So liegt die Vermutung nahe, dass Manfred Scharpf in diesem Triptychon über die alchemistische Tria prima hinaus die grundlegende und alles umfassende „Tria prima“ des christlichen Glaubens allegorisch gemalt hat: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Oder anders betrachtet: Das mystische Geheimnis der beiden Hauptsakramente Taufe und Abendmahl (Brot und Wein).