Steh auf …

In dieser textilen Arbeit sprechen den Betrachter eine Fülle von Worten gleichzeitig an. Die meisten sind mit Bleistift geschrieben, einige aber auch mit schwarzem oder goldgelbem Garn gestickt und dadurch betont hervorgehoben. All diese Worte wetteifern um die Aufmerksamkeit des Betrachters, so dass dieser zwischen den verschiedenen Aussagen hin- und hergerissen ist und Zeit braucht, einen ruhigen und geordneten Überblick zu erhalten.

Das quadratische Seidengewebe präsentiert sich als Lebensbild: vielschichtig, mehrdeutig, verbindungsreich. Eindeutige Transparenz steht im Wechsel mit mehrschichtiger Intransparenz oder Verdunkelung, freie Stellen stehen im Dialog mit den durch die Schrift oder Stickerei verdichteten Bereichen. Die Wörter und Sätze lassen den Betrachter teilhaben an einem sehr persönlichen Dialog zwischen einem nicht genauer definierten ICH und einem DU. Aus den neun mal neun Wortblöcken geht hervor, dass es sich bei den „Meine“-Aussagen um menschliche Lebens- und Grenzerfahrungen an Körper, Geist und Seele handelt: Unfähigkeiten, Unbeweglichkeiten, Ängste, Zweifel, Abgründe und Leiden. Diese Belastungen machen unfrei, fesseln und machen zum Gefangenen im eigenen Ich. Da braucht es immer wieder einen Mit-Menschen (oder auch einen von außerhalb des eigenen Ichs kommenden Impuls), der sagt: “Steh auf, ich bin da, ich höre dir zu, ich stehe dir bei, mache dir Mut und schenke dir Hoffnung. Hab Vertrauen, dass es gut wird, ich helfe dir, Schweres abzulegen, damit du wieder aufstehen kannst. Steh auf – Talita kum!“ (Elisabeth Paul) 28 mal leuchtet dieses „DU“ dem Betrachter entgegen, umgeben von den ebenfalls goldgelb hervorgehobenen Mutmachern: STEH AUF, TALITA KUM, ICH BIN DA, TALITA KUM.

Die 81 Wortbilder bieten vielfache Dialogmöglichkeiten. Man kann sie horizontal Zeile für Zeile, Wort für Wort im Wechsel von MEINE und DU lesen, aber auch vertikal Spalte für Spalte, diagonal oder in freier Folge. Hervorgehobene bzw. dunkel vertiefte Worte bilden stichwortartig eine weitere Lesevariante zu den goldgelb erhöhten DU-Wörtern. Spielerisch lässt sich auch der „Anfang“ links oben im Bezug zum „Ende“ rechts unten lesen. Dann stehen MEINEN GESCHLOSSENEN TÜREN im ersten Feld dem DU ÖFFNEST MEINE AUGEN im letzten Feld gegenüber und der FURCHT VOR DEM MORGEN im zweitletzten Feld antwortet ein DU BIST ZUKUNFT, DU BIST ZUKUNFT im zweiten Feld links oben.

Diese Beispiele wollen eine Einladung sein, das Lebensgewebe in alle Richtungen zu erkunden und zu erspüren, durch welche Äußerungen man mehr angesprochen wird. Vielleicht ist es ja auch die kreuzförmige Leseart, bei der MEINE ZWEIFEL MEINE im Zentrum und an den Kreuzenden vier Aussagen des Vertrauens gegenüberstehen: MEINE UNERFÜLLTEN TRÄUME TRÄUMEN – DU HILFST MIR WENN ICH IN NOT BIN DU HILFST DU – DU DEINE HAND MEIN LEBEN – DU ZEIGST MIR DEN HIMMEL. Beim Durchstreifen und Ausloten des eigenen ICHs wird man sowohl über die Wort- oder Satzdoppelungen stolpern als auch die Gruppe der Aussagen mit positiven Wörtern erstaunt wahrnehmen und auf sich wirken lassen: Meine Abhängigkeiten LÖSEN – Meine Vergangenheit ANNEHMEN – Meine Seele BEWAHREN meine Seele – Meine unerfüllten Träume TRÄUMEN. Immer wieder wird man die zentrale Erfahrung machen, dass jemand für mich da ist (ICH BIN DA) und mir befreienden Zuspruch schenkt (STEH AUF).

Ein sehr bewegter Hintergrund spiegelt auf seine Weise unser Angewiesen-Sein auf menschlichen und göttlichen Beistand angesichts der eigenen Zerrissen- und Verlorenheiten. Neun Handkonturen stehen für die hilfesuchenden Hände vieler Menschen als auch die ihnen dargebotenen Hände der Mit-Menschen. Eine weitere Strukturierung bilden senkrechte Striche hinter den Ich-Aussagen. Sie wirken wie ein Auf und Ab des Lebens, wie ein Gefängnis und stehen für Unbeweglichkeit und Erstarrungen. Dagegen sind die Felder hinter den DU-Aussagen und ausnahmsweise hinter der Mitte leer und frei gelassen. Sie deuten Freiheit und Leben an.

Die Künstlerin hat die Arbeit für die Ausstellung „Talita kum – steh auf“ im Kloster Hegne geschaffen. Der Bericht der Heilung der Tochter des Jairus (Lk 8,41-56) bildet den Hintergrund für die künstlerische Arbeit, die Rückkehr ihres Lebensatems, ihr Aufstehen, Umhergehen und Essen waren real erfahrbare Beweise für das außerordentliche Geschehen. Dieser Geist des Wortes, der Geist der Auferstehung und des Lebens atmet in der textilen Arbeit aus Kette und Schuss. Er atmet pulsierend in jeder helfenden Hand und spricht durch jedes gute Wort. Er atmet belebend im Dialog zwischen den menschlichen Endlichkeiten und dem Vertrauen in den Gott des Lebens. Er atmet in unserem Ein- und Ausatmen, im Auf- und Ab unseres Brustkorbes – als Geschenk Gottes an alle Lebewesen.

 

Die Arbeit von Elisabeth Paul war bis zum 18. Oktober 2022 in der Theodosius Akademie im Kloster Hegne am Bodensee ausgestellt.

Ausschnitt des Gottesdienstes Offener Himmel der Klinikseelsorge Singen vom Mai 2022, in dem explizit auf das besprochene Kunstwerk eingegangen wird.

Anspruch und Zuspruch

Worte. Nur wenige, aber starke Worte finden sich auf diesem Triptychon. Es sind Wortbilder, Worte, die ins Bild gesetzt wurden, grafisch inszeniert ihre Wirkung entfalten. Es ist ein Dialog, der sich kurz und bündig auf Wesentliches beschränkt. Durch den Verzicht auf eine bildliche Darstellung wird der Betrachter unmittelbar zu einem Beteiligten dieses Dialogs. Das Sehen und Lesen verwickelt ihn in das Geschehen, macht ihn zum Adressaten der Botschaft.

DU!
Was für eine Ansprache: Du bist auserwählt und angesprochen, niemand anders. Das Du, das der Engel an Maria adressiert hatte, ist hier anonymisiert. Beinahe flüchtig steht es groß und einfach in die Bildmitte geschrieben. Es ist nicht zu erkennen, wer es spricht, noch wer der Empfänger ist. Das Du, das in diesen ansonsten leeren Bildraum hineingestellt wurde, kommt damit von einem Unbekannten, der sich nicht weiter zu erkennen gibt. Und es richtet sich an jeden, der das Triptychon betrachtet.

ICH?
Wieso ich? Vor dem mächtigen Du steht das Ich ganz klein auf dem nächsten Bild. Fragen tauchen auf. Muss das sein? Ausgerechnet ich? – Ich möchte mich drücken. Mache mich ganz klein. Vielleicht sieht er mich dann nicht oder vertraut mir nicht mehr – und wählt jemand anderen. Aber das große und mächtige Du bleibt bestehen, es bleibt unausweichlich an mich gerichtet, an den, der es sieht und liest. (Ob mich abwenden und weggehen etwas verändern würde?)

Ja!
Ja! steht auf der gegenüberliegenden Bildseite. In der gleichen blauen Farbe wie das ICH. Im Vergleich zum kleinen ICH groß und stark auf einer neuen Zeile stehend. – Wie wurde aus dem großen Fragezeichen diese klare Bejahung? Was bewirkte die Trendwende vom Sich-Wegducken- und Verschwinden-Wollen zur standhaften Zusage?

Zwischen dem ICH und dem Ja ist handschriftlich, im Vergleich zu den anderen vier Stichworten aber klein und schwach, jedoch wortreich geschrieben: Der Heilige Geist wird über dich kommen und die Kraft des Höchsten wird dich überschatten;. Die graue Farbe lässt eine Verbindung zu dem zu, der auch das DU in meine Welt hineingebracht hat. Stärkung wird zugesprochen. Ganz leise, unscheinbar. Aufmerksamkeit wird verlangt, gutes Hinsehen, um die entscheidende Zusage nicht zu übersehen. Dabei wird „der Heilige Geist“ und „die Kraft des Höchsten“ farblich hervorgehoben, verstärkt, betont. Derjenige, der sich an mich wendet, mir etwas zutraut, wird mich mit nicht weniger als der „Kraft des Höchsten“, dem „Heiligen Geist“ stärken, damit ich Ja sagen kann.

Zu was ja gesagt wird, geht aus den wenigen Worten nicht hervor. Dafür muss man wissen, dass das Wort vom Heiligen Geist aus der Verkündigung des Engels an Maria stammt (Lukas 1,57) und dass dem anspruchsvollen „Du“ die Verheißung eines Kindes folgte, das niemand geringerer sein sollte als der „Sohn des Höchsten“! Hieraus erklärt sich das kleine fragende ICH genauso wie danach das große Ja! aus der Zusage der „Kraft des Höchsten“.

Halleluja!
Dieser Jubelruf steht quer über das dritte Bild. Das Wort steht erhöht, in gleicher Farbe wie das ICH? und das Ja!. Er stammt von der mit der Farbe Blau charakterisierten Person. Der hebräische Jubelruf sagt wörtlich übersetzt: „Lobt Jah(we) – Lobt und verherrlicht Gott!“ Jahwe ist der Gott, der sich Israel als sein Volk erwählt hat, der es über alles liebt und unter anderem aus der Gefangenschaft in Ägypten in die Freiheit geführt hat. Neben ihm gibt es keine anderen Götter – er ist der Höchste (Ex 20,2-3)! Nun ummantelt die braune Farbe – symbolisch die Kraft des Höchsten – die blauen Buchstaben. Seine Kraft ließ nicht nur ein starkes Ja! sagen, sondern bewegte darüber hinaus zum Lobpreis dessen, der diese übermenschliche Kraft geschenkt hat – damit das Unfassbare wahr wird: Gott wird Mensch. – In mir … denn mit dem Du! bin ja ich angesprochen! (vergl. dazu auch Angelus Silesius) Gott traut auch mir Großes zu!

Wir sind da

Bescheiden stehen die drei Worte auf einer großen weißen Wand. Wer nicht achtgibt, läuft an ihnen schlichtweg vorbei. Bei diesen von Hand mit Fineliner auf die Wand geschriebenen Worten könnte es sich ja auch um eine Wandschmiererei handeln, um eine in jugendlicher Unbekümmertheit oder Frechheit angebrachte Botschaft. Dieses „Wir sind da“ steht im Zeitgeist von „Wir sind Deutschland“, „Wir sind Papst“ (Bildzeitung 20. April 2005) und einem „Yes, we can“ des amerikanischen Volkes. Doch wer ist „wir“? Geht es dabei um ein Volk? Und wo „sind“ diejenigen, die „da“ sein sollen? Auch derjenige, der geschrieben und diese geheimnisvolle Spur hinterlassen hat, ist nicht mehr da.

Mit diesen drei Worten werden gleichzeitig Anwesenheit und Abwesenheit angesprochen. Die Worte zeugen von einer Gegenwart, von einer spürbaren Präsenz. Aber sie verbirgt sich namenlos hinter den drei Worten „Wir sind da“. Dennoch geschieht hier Offenbarung. Offenbarung, die einerseits an die Selbstkundgebung Gottes in der Wüste erinnert, als sich Gott dem Mose aus dem brennenden Dornbusch heraus als „Ich bin der ICH BIN DA“ mitgeteilt hat (Ex 3,14).

Andererseits mag der Schriftzug in seiner mysteriösen Erscheinung an die Warnung Gottes an den König Belschazzar (mene mene tekel uparsin) erinnern, die der Prophet Daniel übersetzen muss, damit der König sie versteht (Dan 5). Allerdings wird in unserem Fall kein drohendes Unheil verkündet. Vielmehr kann das „Wir sind da“ als ein Statement gelesen werden, als eine Einladung. Wir sind da. Du kannst nun kommen. Du bist herzlich willkommen.

„Ganz offensichtlich ist dieser Schriftzug nicht die Präsenzfanfare aus dem Munde eines Pluralis Majestatis, sondern die Bekundung auf einer Art Notizzettel in einem sehr vertrauten Kontext.“ (J. Rauchenberger) Diese Präsenz ist für alle da, gerade auch für die kleinen Leute (vgl. Mt 5,3-12).

Es bleibt die Frage nach dem „Wir“ in dieser Kundgebung. Geschah die Ich-Aussage Gottes zur Zeit Mose in einem polytheistischen Umfeld, in dem es darum ging, den einen wahren Gott zu manifestieren? Entstand die Wir-Aussage zu Gott im Rahmen eines Kunstwettbewerbs, in dem neue künstlerische Positionen zum Thema Trinität gesucht wurden? Im „Wir“ fasst der Künstler Markus Wilfling die vor gut 2000 Jahren sich herauskristallisierende christliche Glaubenserkenntnis zusammen, dass der eine Gott sich uns als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart und für uns da ist. So steht das „Wir sind da“ voll und ganz in der christlichen Tradition und verkündet doch hochaktuell den mit keinem unserer Sinne fassbaren Gott, obwohl er in seinem Wesen durch und durch dem Menschen zugewandt ist.

In seiner radikalen Einfachheit hört sich das „Wir sind da“ auch wie ein Werbeslogan an. Ganz schlicht tönt er, ohne bildliche Darstellung und ohne in die Augen springende Farbe. Die drei Worte werben nicht für etwas Materielles, das man kaufen kann, sie kommen auf einer tieferen Ebene an. Sie scheinen einen Widerhaken zu haben, der sich im Gedankengut des Lesers einnistet zu einer selbstverständlichen, stärkenden Gegenwart. – Doch brauche ich eigentlich diese verborgene Präsenz dessen, der da ist und keine leeren Worte macht, sondern hält, was er verspricht? Brauche ich diesen: „Wir sind da“?