Die Haltung der hochgewachsenen Frau im Sommerkleid und des sich an sie schmiegenden Mädchens laden zum Verweilen ein. Bildfüllend und im Verhältnis zum Kind fast übergroß ist die Mutter dargestellt. Barfuß steht sie auf dem Boden, die rechte Hand so in die Hüfte gestemmt, dass diese zum Kind hin kippt und von hinten den Stuhl stützt, damit dieser unter dem Gewicht ihrer Tochter nicht kippt. Mit der anderen Hand hält sie locker die Stuhllehne. Ihren Kopf hat sie ihrer Tochter zugeneigt und schaut sie aus den Augenwinkeln liebevoll an, als wollte sie sagen: „Seht mal, meine Tochter!“
Diese sitzt im weißen Kleid keck auf der Rückenlehne des Stuhls. Sie lehnt sich in kindlicher Versunkenheit an die mütterliche Schulter, sich nur mit der rechten Hand am Arm der Mutter festhaltend. In der anderen Hand hält sie eine gelbe Frucht. Mit freundlichem Blick schaut das Mädchen den Betrachter an.
Eine gelöste Zufriedenheit geht von dieser innigen Zweisamkeit aus. Ihre Verbundenheit und Zuneigung zueinander hat die Künstlerin zum einen durch einen cyanfarbigen Farbfluss verstärkt, der von der rechten Hand der Mutter ausgehend sich über ihren Gürtel und die andere Hand auf die Schienbeine des Kindes und einen Teil des Stuhls ergießt. Zum anderen bildet der angewinkelte Unterarm der Tochter mit dem Gürtel der Mutter zusammen die Horizontale eines Pluszeichens, dessen Vertikale die vereinten Arme von Mutter und Tochter sind. Denn eins und eins geben durch den tiefen Frieden und die Herzenseinheit eben mehr als zwei.
Faszinierend ist auch die Transparenz, welche die Künstlerin durch Überzeichnungen und übermalte Zeichnungen (Pentimenti) erreicht. Diese bringen eine spielerische Ungezwungenheit ins Bild, deuten frühere Positionen (wie die andere Position des Fußes) an und lassen andere Welten durchscheinen. So kann im blauen Hintergrund die kindliche Zeichnung eines Tieres entdeckt werden, das einen Stab mit einem rechteckigen Gegenstand am oberen Ende vor sich hält. Ob es einen Seelöwen, einen übergroßen Vogel oder gar ein Fabelwesen darstellt, ist der Fantasie des Betrachters überlassen.
Räumlich sind Mutter und Kind in einem zeitlosen Ambiente dargestellt. Das einzige Requisit ist der Stuhl, auf dem die Tochter in erhöhter Position thront. Durch die Andeutung von Brettern und den hellblauen Hintergrund gleicht der Bildraum einer Freiluftbühne mit Blick in den Himmel. Dadurch wirken die wortlose Übereinstimmung, die Harmonie und Vertrautheit zwischen Mutter und Tochter paradiesischer oder auch in einen anderen Kontext entrückt, der weitere Assoziationen ermöglicht.
So fürsorglich stark wie die Mutter an der Seite ihrer Tochter steht, ihr Halt und Schutz gibt, sie aber auch ihre Eigenständigkeit ausprobieren lässt, könnte die Mutter symbolisch auch für Gott Vater stehen, der wohlwollend auf seinen Sohn schauend sagt: „Seht, das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ (Mt 3,17) Auf dem Stuhl erhöht mag man auch an den zwölfjährigen Jesus denken, der im Tempel durch sein Zuhören und Fragenstellen die Gelehrten Gottes Weisheit erfahren ließ. Der Gedanke an eine moderne Darstellung der Sedes sapientie, des Stuhls der Weisheit, den Maria für ihren Sohn bildet, mag auf den ersten Blick vielleicht abwegig erscheinen, aber die Reduktion der Bildelemente legt eine Verbindung nahe. Ikonografisch erinnert die Haltung des Kindes durch viele Vorbilder zudem an den Jesusknaben, wie er auf dem Schoß Mariens thront und die Frucht der Versuchung Evas in der Hand hält als Hinweis auf die Erlösung von allen Sünden durch seinen Tod.
Die träumerisch-selbstvergessene Darstellung der beiden vermag also weit über sich hinauszuweisen. Sie zeigen uns einen himmlischen Augenblick, weil sie einen tiefen Frieden, eine stille Freude, ein inniges Glück, eine selbstverständliche Hingabe und einen unerschütterlichen Glauben an den Anderen ausstrahlen, die nicht alltäglich sind und auch nicht für viel Geld gekauft werden können. So künden sie von der unsichtbaren Gegenwart eines Dritten, dem sie sich geöffnet haben und der sich ihnen mit seinen Gaben schenkt.
Diese Arbeit von Isabelle Roth war 2018 in der Galerie der Stiftung S BC – pro arte in ihrer Ausstellung “Bemuttert – Die Darstellung von Mutter und Kind in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts” zu sehen. Spannend ist dabei der Blick über die traditionellen Darstellungen von Maria mit Jesuskind hinaus, bzw. wie sich das Erbe dieser religiösen Tradition in der Jetztkunst manifestiert.