Warten auf den Aufbruch

Ausnahmsweise finden wir keine mächtige Leuchtgestalt oder einen beschützenden Engel vor. Klein und beinahe verloren kauert er auf der Kante eines Bootes, das im Vergleich zu den anderen kleineren Booten wie ein Luftschiff in großer Höhe anmutet. So wie das Boot perspektivisch von oben gezeigt wird, müsste der Engel eigentlich seitlich herunterfallen. Doch er sitzt mit seinen angezogenen Beinen seelenruhig da und schaut von seinem „Adlerhorst“ auf das Wasser unter ihm.

Wartend, die ungewöhnlichen Zeichen beobachtend: den das Bild horizontal durchquerenden Fischzug, der in das weite Meer aufgebrochen ist, rechtwinklig dazu den mit Wassertropfen angedeuteten Regen, der aus einer prall gefüllten Wolke senkrecht durch das Bild ins Boot am unteren Bildrand fällt. „Tauet Himmel, den Gerechten, Wolken regnet ihn herab, rief das Volk in bangen Nächten“, kommt einem unwillkürlich in den Sinn. Gottes Verheißung, einen Retter zu senden, scheint nicht mehr weit von seiner Erfüllung entfernt zu sein. Es lohnt, sich vorzubereiten und sich Zeit zu nehmen, um das Kommen des Herrn nicht zu verpassen. Auch in der Nacht, denn man weiß nicht, zu welcher Uhrzeit er kommen wird.

Dem Engel gegenüber taucht das Segment eines großen Kreises auf mit labyrinthähnlichem Muster, das an eine Stadt erinnert, gleichzeitig den Verlötungen auf elektronischen Schalttafeln gleicht. Ob es als Symbol für den unermesslich großen Gott gedeutet werden darf, dessen Gedanken unserem Verständnis und unserer Einsicht verborgen sind? Der Ausschnitt dieses unerhört Anderen und Größeren strahlt ein Geheimnis aus, aber auch kommunikative Nähe. Dadurch geschieht etwas, scheint ein fruchtbarer Aufbruch stattzufinden, der das Eis teilt und schmelzen lässt. Der von diesem Aufbruch ausgehende Strom wird mit den vielen Fischen voller Leben gezeigt. Bereits erscheinen die Silhouetten von Häusern und Bäumen beidseits dieses Flusses, als wollten sie auf das paradiesische Bild anspielen, das dem Propheten Ezechiel (47,1-12) gezeigt wurde: auf den vom Tempel ausgehenden Strom, der immer mächtiger wurde. Und Gott erklärte ihm: „Wohin der Fluss gelangt, da werden alle Lebewesen, alles, was sich regt, leben können und sehr viele Fische wird es geben. Weil dieses Wasser dort hinkommt, werden (die Fluten) gesund; wohin der Fluss kommt, dort bleibt alles am Leben.“ (V 8) Das Wasser macht auch das salzige Wasser gesund, ebenso werden an seinen Ufern Bäume wachsen, die nie ohne Früchte sein werden und deren Blätter nicht verwelken, sondern als Heilmittel dienen.

Hier wird endzeitliches, göttliches Heil im Aufbruch gezeigt. Gott ist dabei, einzugreifen, sich den Menschen sehr nahe zu zeigen. Und überall Boote, auch auf den Flügeln des Engels. Ein augenzwinkerndes Wortspiel mit Bote und Booten? Die Boote sind leer, als wollten sie bestiegen werden. Sie verheißen keinen sicheren Untergrund, verlangen Geschicklichkeit und Vertrauen. Wer die Bootsfahrt wagt, wird sich auf die Strömung einlassen müssen, setzt sich dem Wind und dem Wetter aus. Die Boote sind nicht größer als Nussschalen. – Ob solch ein Wagnis nicht zu gefährlich ist? Kann ER genug Sicherheit geben? Noch ankern die Bootspaare allein auf dem Wasser. Die Flügel des Engels könnten aber andeuten, wie schnell die Wasseroberfläche mit Booten bedeckt sein könnte, wenn alle sich aufmachen würden auf das Wasser des Lebens.

Eine doppelte Erfahrung würde sie begleiten. Erstens, dass sie im Wagnis, Gott zu glauben, getragen werden. Getragen von Gott selbst, der sich als Quelle, ja als Strom des Lebens offenbart. Zweitens, dass solch ein Aufbruch nicht in die Einsamkeit, sondern in eine Gemeinschaft führt, in der sich die Menschen nahe stehen und auf dem unsicheren Untergrund des Lebens eine sichernde Solidargemeinschaft bilden.

Aus der Mitte heraus

Bekannte Elemente wie die sitzende Christusgestalt oder die altmeisterlich vollendete Malweise vermitteln den Eindruck, vor dem Werk eines alten Meisters zu stehen. Der fliegende Fischschwarm zur Linken oder die fallende Skulptur des Gekreuzigten zur Rechten verwirren jedoch und geben Rätsel auf. Auch die beiden Messer und die Lanze, die auf den Sitzenden zufliegen, sind ungewöhnlich und wecken die Sinne, sich intensiver mit diesem Bild auseinander zu setzen, um seiner Geschichte vielleicht etwas auf die Spur zu kommen.

In der Mitte meinen wir unserer Wahrnehmung noch trauen zu können. Der Thronende lässt sich aufgrund der Wundmale als der auferstandene Christus identifizieren. Als Salvator mundi, als Retter der Welt, segnet er die Schöpfung zu beiden Seiten. Dass er nicht wirklich sitzt, sondern vielmehr als Weltenrichter zwischen Tag und Nacht vor dieser mit geheimnisvollen Zeichen versehenen Rückwand und auf diesem erhebenden Sockel erscheint, stört noch nicht weiter. ER steht im Mittelpunkt – in der Mitte des Bildes und betont auf dem roten Kreis des Podests. Dass Christus allerdings die Gesichtszüge des Künstlers trägt, bringt einiges durcheinander. Die Gott zugesprochenen Attribute werden nun gewissermaßen vom Künstler vereinnahmt und machen deutlich, dass auch er die Macht hat, Welten zu erschaffen.

Dabei ist sein Schaffen kein Erschaffen aus dem Nichts. Das Zusammenfügen und Anordnen der verschiedenen Bildzitate stellt vielmehr eine Ordnung dar, die neuen, eigenen Gesetzen gehorcht. Der Bildtitel weist in Anlehnung an das gleichnamige Gedicht von Eduard Mörike auf die schiedsrichterliche Funktion des Künstlers hin. Er steht immer zwischen zwei Zeiten und hat es in der Hand zu entscheiden, was er aus dem Fundus der Vergangenheit nehmen will, um die Zukunft zu gestalten. Was durch ihn geschieht, hat durchaus Auferstehungscharakter, wie die drei sich öffnenden, weißen Blüten der sogenannten Osterlilien in Anspielung auf die drei österlichen Tage andeuten. Nicht nur die Macht der Nacht wird gebrochen – links überflutet schon das Licht der Morgensonne die Berggipfel –, auch die Macht des Todes. Am Fuße des Baumstammes, der durch die herabfallende Figur des Gekreuzigten zum Kreuzesstamm wird, wächst wie in der Geborgenheit einer Bauchhöhle, dem Uterus, ein Kind heran – neues Leben. Die stürzende Jesusgestalt muss dabei nicht blasphemisch gemeint sein, sondern kann Zeichen sein, dass er nicht am Kreuz geblieben, sondern von seinen Freunden begraben worden ist. In diesem schwebenden Dazwischen ist er einerseits mit der Kopfneigung in einem eindrücklichen Dialog mit dem Embryo, über den er wie schützend den Arm auszubreiten und ihn zu umarmen scheint, andererseits steht er mit dem linken Arm und dem wehenden Lendentuch in direkter Verbindung zum Auferstandenen. Darauf, dass der Leib des irdischen Lebens der Vergänglichkeit anheimfällt und etwas Neues an seine Stelle getreten ist, können die wie abgehackt wirkenden Armstümpfe und der fehlende Unterleib hinweisen.

Auf der linken Bildseite schweift der Blick in die Weite, aber auch in die Tiefe auf einen Fluss mit starker Strömung, der durch das Tauwasser (gut über und unter der Speerspitze zu sehen) des ewigen Schnees gespeist wird. Was lange Zeit gefroren war, wird durch die Wärme des „neuen Tages“ lebendig und zu einem Quell des Lebens. Die Fleischmesser und die Lanze stehen dazu im Widerspruch. In ihrer Ausrichtung auf „Christus“ und die unmittelbare Nähe zu ihm fühlen sie sich eher bedrohlich an, tragen den Tod in sich. Indirekt haben aber auch sie mit der Auferstehung zu tun. So bat der Auferstandene den ungläubigen Thomas, seine Hand in die durch eine Lanze geöffnete Seite zu legen, um sich zu überzeugen und gläubig zu werden (Joh 19,34; 20,27). Die Bedeutung der Messer erschließt sich mir noch nicht wirklich, sie könnten aber ein Hinweis sein, dass Christus als Lamm Gottes sein Blut für die Vergebung der Sünden vieler vergossen hat.

Zuletzt bleibt uns noch die Deutung der wunderbar gemalten und ganz unterschiedlichen Fische. Dass sie nicht im Wasser schwimmen, stört uns in der neuen Ordnung des Künstlers nicht mehr. Auffallend ist ihre Christus-Orientierung, ihre Ausrichtung auf den Auferstandenen. Ob der Künstler hier die Erzählung vom wunderbaren Fischfang nach einer ergebnislosen Nacht neu ins Bild bringen wollte (Joh 21,1-14)? Die Hundertdreiundfünfzig Fische wurden in der Bibelauslegung immer wieder als Symbol für die gesamte Menschheit gedeutet. Sie könnten aber auch zeichenhaft für die an Christus Glaubenden stehen, diejenigen Menschen, die sich im Glauben Christus zugewandt, ihr Leben aus dem Glauben heraus auf ihn ausgerichtet haben.

Nun könnte die Frage auftauchen, ob der Künstler durch sein Bild vielleicht beabsichtigte, dass ihm eine ähnliche Aufmerksamkeit zuteil würde wie dem Auferstandenen. Das wäre anmaßend. Aber seine Mittlerfunktion, auf die dieses Stilmittel hinweist, hat uns die Auferstehung Christi und ihre Bedeutung durch die verschiedenen Symbole hindurch neu erfahren lassen. Nach der anfänglichen Irritation ist der Künstler im Verlaufe der Betrachtung wieder hinter sein Vorbild zurückgetreten, damit Er aus der Mitte heraus für alle Menschen auch Quelle des Lebens sein kann.

 

Gelassen stieg die Nacht an Land,
lehnt träumend an der Berge Wand;
ihr Auge sieht die goldne Waage nun
der Zeit in gleichen Schalen stille ruhn.
Und kecker rauschen die Quellen hervor,
sie singen der Mutter, der Nacht, ins Ohr
vom Tage, vom heute gewesenen Tage.

Das uralt alte Schlummerlied –
sie achtet’s nicht, sie ist es müd;
ihr klingt des Himmels Bläue süßer noch,
der flücht’gen Stunden gleichgeschwungnes Joch.
Doch immer behalten die Quellen das Wort,
es singen die Wasser im Schlafe noch fort
vom Tage, vom heute gewesenen Tage.
(Eduard Mörike)

Abraham

Einsam stünde dieser Mensch in der leeren Wüsten- oder Steppenlandschaft, wäre ihm am Himmel nicht der Mond zugewandt und ginge am Boden nicht ein Flammenteppich von ihm aus, würde er nicht links und rechts von Symbolen flankiert.

Geerdet ragt dieser Mensch mit seiner aufrechten Haltung in den Himmel hinein. Doch sein Geist scheint von den himmlischen Sphären derart berührt und inspiriert, dass er sich in der Weite der Landschaft nicht mehr allein erfährt. Da ist ein Du, das ihn wie der blau-rote Mantel umgibt und segnet. Ein personales Du, das zu ihm spricht und ihm das Potential eines Weizenkorns offenbart. Ein Du, das ihn mit Leben erfüllt und wie ein brennendes Feuer führt.

Er scheint in Gedanken versunken vorwärtszuschreiten. Was er in der Begegnung mit seinem Gott erfahren hat, bewegt ihn vom Kopf übers Herz bis zu den Füssen und weist ihm seinen Weg. Vielleicht denkt er gerade über die Verheißung nach, dass er, der Kinderlose, Vater einer unzählig großen Menschenmenge werden wird. Ob das Flammenmotiv zu seinen Füßen auf diese Vielzahl hinweisen will? Wie ein Feuer breitet es sich von ihm ausgehend, wegweisend vor ihm aus. Unwillkürlich mag der eine oder andere auch an den brennenden Dornbusch denken, in dem sich der gleiche Gott in einer anderen Zeit dem Moses in der Wüste offenbart und erfahrbar gemacht hat.

Abraham hat der Zusage Gottes Vertrauen geschenkt, trotz des Unfassbaren. Er hat das Gehörte als Wahrheit geglaubt und danach gehandelt. Das hat ihn zum Vater aller Glaubenden gemacht und lässt die Vertreter der drei großen monotheistischen Religionen sich auf ihn berufen. Deshalb steht er im Bild in der Mitte von Menora, Halbmond und Kreuz, der Symbole für das Judentum, den Islam und die Christenheit. Er schreitet vor dem nächtlichen Himmel, der als Zeichen für Gott gedeutet werden darf, der ihn gesandt hat, im Vertrauen zu gehen.

Abraham schreitet auch vor unseren Augen – als Vorbild des Glaubens und als Gesegneter mit einer großen Ausstrahlung. Umgeben von den Symbolen der drei großen monotheistischen Weltreligionen, ihre Glaubensgemeinschaften und -traditionen gleichsam im Rücken habend, scheint er uns zu ermutigen, auch in der heutigen Zeit, ja heute – im Hören und Vertrauen auf Gottes Stimme in uns – aufzubrechen, uns von alten Bindungen zu lösen und unseren Weg in die Zukunft zu gehen. Um unsererseits zu einem Glaubenszeugen für Gott und einem Segen für eine Vielzahl von Menschen zu werden.

Aufnahme in den Himmel

In einer wunderbar starken Bewegung senkt sich der blaue Raum auf den dunkelgrauen Figurenkomplex nieder und berührt beinahe die stehende Gestalt. Sie trägt ein Kind auf ihren Armen und steht an einem Bett. Der Silhouette nach beugt sich links eine weitere Person über die im Bett Liegende. Ob sie schläft, krank oder gar gestorben ist, lässt sich aus den wenigen Hinweisen nicht ableiten.

Allerdings erscheint die Figurengruppe zwischen zwei Welten dargestellt. Bröckelt nicht die Erde unter dem Bett weg, verweigert sie nicht den nötigen Halt, um sicher darauf stehen und leben zu können? Durch diese feinen gestalterischen Veränderungen des Hintergrundes befindet sich die Figurengruppe in einer Übergangszone zwischen Erde und Himmel, die sich grau und gegenstandslos gibt. An seiner engsten Stelle scheint das Bett mit den Personen zu schweben und wenn sich der Himmel weiter herunterneigt, bald von ihm umgeben zu sein.

Diese Hinweise deuten darauf hin, dass die im Bett liegende Person gestorben sein muss. Die intensive blaue Farbe und die Herkunft der Figurengruppe aus dem Marientod von Giotto di Bondone (1310) verbinden das Bildgeschehen letztlich mit Maria und ihrer Himmelfahrt, wie in der Umgangssprache ihre Aufnahme in den Himmel bezeichnet wird.

In diesem Bild wird nicht mit Engelscharen, Pauken und Trompeten ihre glorreiche Himmelfahrt gefeiert. Still neigt sich der Himmel wie in einer großen ehrenden Verneigung über das Sterbebett Mariens, um ihr ewige Heimat bei Gott zu geben. In Christus ist Gott selbst an das Sterbebett Mariens herangetreten, um sie persönlich zu sich zu holen. Bildhaft ist dies bereits mit dem Kind auf seinen Armen geschehen, welches die Seele von Maria darstellt, die bereits bei Gott weilt.

Was für eine gewaltige Vision, dass Gott uns Menschen im Tod nahe ist und diejenigen zu sich holt, die während ihrer Erdenzeit mit ihm gelebt haben, ja ihn aufgenommen und ihm das Leben und ihre liebende Zuwendung geschenkt haben.

Die kraftvolle und blauschwere Weite des Himmels laden zum Meditieren dieses Glaubensgeheimnisses ein. Wenn die Erde uns ihren nährenden Boden entzieht, dann bietet die Weite des Himmels einen neuen Halt. Oder bildlich gesprochen, wenn die Kräfte der Erde schwinden und sie austrocknet, wird der Himmel sich öffnen und lebenspendende Wasser regnen lassen.

Diesbezüglich erinnert das Bild an das adventliche Kirchenlied „Tauet, Himmel, aus den Höhn, tauet den Gerechten, … Wolken regnet ihn herab!“ (GL 104; KG 313) Was verdorrt ist, soll unter seinem Segen aufblühen, heißt es da. Und in der dritten Strophe wird sehnsüchtig gerufen: „Komm, du Trost der ganzen Welt, rette uns vom Tode. Komm aus deiner Herrlichkeit, komm uns zu erlösen.“

An Maria hat sich die Verheißung Gottes, „den Mittler selbst zu sehen und zum Himmel einzugehen“ (KG 303,1) bereits erfüllt! Als Glaubende leben wir in der Hoffnung, dass Gottes Verheißung auch uns gilt und unser irdisches Leben durch sein Kommen vollendet.

Vom Geld schenken

In beschwingter Bewegung füllt der Dollar-Schein das Bildfeld. Von links nach rechts aufsteigend findet die horizontale Bewegung im farblich hervorgehobenen Bild eines Mannes ihren Höhepunkt, um dann in die Vertikale zu gehen und in der rechts unten angedeuteten Person ihren Abschluss zu finden. Mit wenigen Strichen lenkt der Künstler damit unsere Aufmerksamkeit auf den „am Boden“ liegenden, durch seine violette Farbe auch als leidend charakterisierten Menschen. Er scheint unter dem Geldschein Schutz gefunden zu haben und von der Person über ihm begünstigt zu werden.

Mit seiner runden Brille, den kurzen Haaren und dem gepflegten Aussehen ist letzterer unschwer als Bill Gates zu identifizieren, der Gründer von Microsoft. Mit Computersoftware wurde er zu einem der reichsten Männer der Welt. Die schwungvolle Bewegung der Banknote unterstreicht seinen wirtschaftlichen Aufstieg, seine Positionierung neben George Washington stellt ihn als einen für Amerika und damit für die ganze Welt äußerst einflussreichen Mann dar. Dies geschieht einerseits durch die von ihm vertriebene Software, die unsichtbar weite Bereiche unserer Gesellschaft steuert, andererseits durch das Geld.

Die raumfüllende Banknote lässt die Dominanz des Geldes spüren. Ihre schwebende Darstellung suggeriert, dass es leicht verdient werden kann. Der Umstand, dass die Farbe des „Greenback“, wie der Geldschein aufgrund seiner Farbe genannt wird, zur Hintergrundfarbe geworden ist und das ganze Bild beherrscht, visualisiert zudem die Macht und den Einfluss des Geldes: So transparent und leicht die Banknote erscheint, so bedeutungsschwer durchdringt und beherrscht das Geld das Denken und Tun vieler Menschen – im Guten wie im Schlechten.

Dieser Gedankenansatz ist weiterzuverfolgen. Die rote, herunterhängende Krawatte von Bill Gates legt eine Verbindung zu der Person unter ihm nahe, die im Gegensatz zu ihm „gesichtslos“ und haltlos dargestellt ist. Der rote Schlips weist mit seiner Form zudem auf das Solidarisierungssymbol der Anti-Aids-Kampagne hin, so dass der Liegende als Aidskranker interpretiert werden darf. In seiner für viele stehenden Person schließt sich der Kreis. 1999 haben Bill und Melinda Gates die weltweit größte Privatstiftung gegründet, die heute mit den Zinsen des über 37 Milliarden US-Dollar großen Grundkapitals so umfassend wie keine andere Institution infektiöse Krankheiten wie Malaria, Tuberkulose und vor allem auch Aids bekämpfen kann. Darauf weist die Dollar-Note hin. Sie ist die Grundlage dieser einzigartigen Initiative und all des Guten, was damit gemacht wird.

Dass der Künstler sein Bild allerdings in den Zusammenhang mit dem Almosen-Geben und Jesu Bergpredigt (Mt 5-7) bringt, muss uns stutzig machen. Almosen ist ein altertümliches Wort, das an kleine Geldbeträge erinnert, an die Münzen, die wir verschämt in den Hut eines am Straßenrand Sitzenden oder in den Klingelbeutel der Kirche werfen, aber nicht an Bill Gates und seine Riesenstiftung. Auch die Überlieferung der Worte Jesu aus der Bergpredigt – der Zusammenfassung der Maximen christlichen Verhaltens im Leben – will nicht zur Stiftung von Bill Gates und den Aids-Kranken passen. Sind das nicht heutige Probleme?

Jesus sagt: „Hütet Euch, Eure Gerechtigkeit vor den Menschen zur Schau zu stellen, sonst habt ihr keinen Lohn von eurem Vater im Himmel zu erwarten. Wenn du Almosen gibst, lass es also nicht vor dir her posaunen, wie es die Heuchler in den Synagogen und auf den Gassen tun, um von den Leuten gelobt zu werden. Amen, das sage ich euch: sie haben ihren Lohn bereits erhalten. Wenn du Almosen gibst, soll deine linke Hand nicht wissen, was deine rechte tut. Dein Almosen soll verborgen bleiben und dein Vater, der auch das Verborgene sieht, wird es dir vergelten.“ (Mt 6,1-4)

Was für Gegensätze in der Zeit, in der Sprache und sicher auch in der Geldmenge! Kann denn eine Milliardenstiftung verborgen bleiben, so dass nur Gott davon weiß? Geht es nach Jesu Aussage wirklich darum, dass Geldspenden nur im Verborgenen gemacht werden dürfen? Jesus lebte und lehrte in einem sozialen Umfeld, in dem die Bedürfnisse der Hungernden und Dürstenden, der Obdachlosen und Kranken vom „Nächsten“, das heißt von der Familie, Verwandtschaft und Nachbarschaft abgedeckt wurden. Da lag es nahe, in den kleinen Gemeinschaften mit seinen Guttaten zu prahlen, um Anerkennung und Lob zu erhalten und sich gegenseitig zu übertreffen.

War das nur damals? Sind uns diese menschlichen Verhaltensweisen nicht auch bekannt? Vor aller Augen Gutes zu tun, um mit seinem Vermögen zu imponieren, Wählerstimmen zu gewinnen, den Steuerfreibetrag zu erhöhen usw.? Dieses Verhalten prangert Jesus an. Ihm geht es um die Transparenz des Einsatzes. Wer etwas Gutes tun will, der muss es uneigennützig machen, voll und ganz für den Bedürftigen. Alles andere ist unehrlich und ungerecht. Diesbezüglich gilt das Wort Jesu für seine Zeitgenossen wie für moderne Wohltäter, für kleine wie unermesslich große Almosen. Bill Gates steht stellvertretend für jeden von uns, der mit einem Teil seines Vermögens Gutes tut, der Dollar-Schein für jeden Geldbetrag und Zeitwert, den wir teilend einsetzen, um die vielgestaltigen Nöte anderer Menschen zu lindern und ihr Leben lebenswerter zu gestalten.

Gerade wer viel Geld spendet, wer viel Gutes tut, kann dem Medieninteresse und -rummel schwer entgehen. Das Verbreiten eines guten Werkes kann ja auch Gutes bewirken und z.B. andere Menschen anregen, auf ihre Weise Ähnliches zu tun. Entscheidend wird die Herzensbewegung des Gebers sein. Diesen in der Tiefe des Herzens verborgenen Grund wird nur Gott einsehen und bewerten können … Aber ist das überhaupt nötig, wenn man mit einem reinen Herz schenkt?

 

Diese Arbeit stammt aus dem sehr schönen und mit 34 anregenden Bildern gestalteten Buch „Die Bergpredigt. Evangelium nach Matthäus, Kapitel 5-7″. Weitere Informationen sowie eine Bestellmöglichkeit finden Sie auf der Website des Fütterer-Verlags.

Wahr-Nehmung

Ein sanftes Farbenspiel bewegt dieses Bild. In feinen Pinselstrichen sind Farbpigmente aufgetragen worden, die sich in den Linien kreuzen, überlagern und dadurch Dichte vermitteln, Vernetztheit, Zusammengehörigkeit. Die Farben sind hier nicht Attribute von irgendetwas, sondern haben ihren Sinn in sich selbst: Sie wollen aus sich heraus die Fantasie anregen, Stimmungen und Gefühle hervorrufen.

Als Ganzes, als Farbkanon nehmen sie das sich tief in sie hineinsenkende Licht auf und reflektieren es mit jeder „Faser“, mit jedem Strich. Durchdrungen, ja geradezu trunken von diesem Licht in ihrer Mitte, entfalten die Farben ihre feine Leuchtkraft.

Im Vergleich zu den Darstellungen der anderen Jahreszeiten (Frühling, Herbst, Winter) vermitteln die Farben Kraft- und Lebensfülle. Weder ein Sehnen und Werden ist herauszuspüren, noch ein Vergehen oder Entschwinden. Es herrscht Ruhe in diesem Sein, starke Gegenwart.

Assoziativ mögen die Farben an Eindrücke aus der Natur denken lassen. An das Lichtspiel im Wald zum Beispiel, wenn die Sonne zwischen den Bäumen hindurchscheint und eine versteckte Blumenwiese zum Leuchten und Funkeln bringt. Oder umgekehrt an die gleißende Hitze, welche die Farben zum Flimmern bringt und ihnen ihre Intensität zu entziehen scheint. Die Farben erinnern auch an Früchte des Sommers und lassen deren Aroma und Süße ahnen.

Weitergehend können die Farben und Schwingungen als physikalischer Ausdruck unserer Körperenergie oder Geisteskraft gesehen werden. So wie wir umgangssprachlich sagen: „Ich fühle mich beschwingt, es geht mir gut“, „ich spüre eine große Ruhe in mir“ oder „ich bin voller Energie …“ Wer sich also in das Bild „hineinsieht“, vermag sich unter Umständen wie in einem Spiegel selbst zu entdecken und in einer neuen Art und Weise wahrzunehmen.

Dabei kann das sanft bewegte Farbenspiel auch als Bild der Seele empfunden werden. Voll von den unterschiedlichsten Gefühlen und Eindrücken, die sich im Laufe der Zeit überlagern und immer mehr verdichten, sehnt sich unser Innerstes nicht nur nach Sonne und Licht, welche sie bis in die Tiefen ihres Wesens hell und warm macht, sie ist darüber hinaus auch auf das alles durchdringende und verwandelnde Licht aus einer anderen Welt ausgerichtet, das sie mit allen Fasern ihres Seins erwartet. Denn erst dieses Licht macht die Farben – stellvertretend für die ganze Welt – wahrnehmbar und lässt sie unser Ich erreichen, unsere geistige Mitte und Seele. Das gibt zu Denken und lässt die intensiven Farben des Sommers in einem anderen Licht sehen.

Schrift-Bild

Auseinandersetzung
Schriftzeichen begegnen uns im Alltag überall: meist schwarz auf weiß transportieren sie in den Printmedien, der Werbung, dem Straßenverkehr und an anderen Orten Informationen. Kontrastreich und linear geordnet dienen sie der guten Lesbarkeit. Der Sinn der Buchstaben und Worte soll schnellstmöglich erfasst werden können. Wenn ein Künstler die Schrift selbst gestaltet, lässt er sie zu einem Bild, zu einem Schriftbild werden. Diese Schriftbilder wollen keine Illustration, sondern ein Durchdringen und Vertiefen des Wortsinns zum Ausdruck bringen. Durch die Gestaltung der Buchstaben und Worte sowie des Hintergrunds wird der Wortsinn verstärkt, die Schrift selbst zu einem sprechenden Bild.

Worte aus dem Buch Jeremia (1,17-19) haben Samuel Buri zu einem farbenfrohen, geradezu kunterbunten Bild inspiriert. Die gleichmäßig großen, handgeschriebenen Buchstaben füllen das ganze Bildfeld aus. Auf dem vielfarbigen Hintergrund heben sie sich durch ihre eigene Farbigkeit mehr oder weniger kontrastreich ab. Manchmal wechselt die Farbgebung der Buchstaben mitten in einem Wort. Durch diese plötzlichen Wechsel entstehen Irritationen. Ein äußerst lebendiges Geschehen voller Veränderungen wird deutlich. Intensive Farben und klare Abgrenzung zwischen Schrift und Hintergrund vermitteln im oberen Teil ebenso gegensätzliche Positionen wie Nachdruck im Gesagten. In der unteren Bildhälfte werden die Farben sanfter und die beiden Ebenen gleichen sich einander an. Doch die Auseinandersetzung bleibt spürbar.

Einzelne Worte springen dem Betrachter wie Schlagworte in die Augen und vermitteln das Wichtigste in Kürze: „Du aber gürte … sage ihnen alles, was ich dir gebiete. Erschrick nicht … Schrecken … sieh, ich … Könige … Priester … bekämpfen werden … Herrn, um dich zu retten. Jeremias“.

Da erhält ein „Du“ den Auftrag aufzustehen und entschlossen ein vielsagendes („alles“) Wort furchterregenden Menschen zu verkünden („erschrick nicht vor ihnen“). Die Aufzählung lässt ahnen, dass er mit seiner Botschaft allein gegen ein ganzes Land stehen wird, angefangen von den Machthabern über die Priester bis hin zum einfachen Volk. Aus dem Wortlaut geht hervor, dass er eine unbequeme Botschaft verkünden muss, eine Botschaft, die niemand hören will. Deswegen werden sie ihn bekämpfen und versuchen ihn mundtot zu machen. Doch der Beauftragte soll nicht erschrecken, wenn sie ihn angreifen, denn sein Auftraggeber hat ihn mit einer Widerstandskraft ausgestattet, die einer befestigten Stadt gleicht. Denn Gott selbst, der Herr, wird mit ihm sein. Wie eine beglaubigende Unterschrift steht am Ende des Textes der Name Jeremias.

Jeremias
Die Worte richten sich an den jungen Jeremias auf der Suche nach seiner Aufgabe im Leben. Er war Sohn eines Priesters aus dem heutigen Anata und muss um 650-625 v. Chr. geboren sein. Seine Zeit war von politischen Machtkämpfen im ganzen vorderasiatischen Raum geprägt. Das assyrische Reich beherrschte damals das Gebiet zwischen Nil und Tigris. Die judäischen Könige waren Vasallen von Assur und mussten Tribut zahlen. Babylon, Medien und Ägypten erhoben sich gegen die assyrische Herrschaft, wodurch Judäa immer wieder zum Kriegsschauplatz wurde. Dementsprechend schlecht war der sittlich-religiöse Zustand in Judäa. Öffentlichem Götzendienst standen die Priester meist hilflos gegenüber, ebenso der Verrohung und dem Verfall der Sitten im privaten und öffentlichen Leben.

In diesem Milieu hatte Jeremias ein starkes inneres Erlebnis. Er spürte deutlich den Auftrag Jahwes, sein Volk wachzurütteln und zur Umkehr zu bewegen. Und er solle dies nicht in den Fußstapfen seines Vaters inmitten der versagenden Priesterschaft tun, sondern als Wanderprediger und Weissager. Damit war er mit der Weisung, dem Auftrag Jahwes zu folgen, und dem Versprechen, dessen Schutz und Beistandes sicher sein zu können, ganz auf sich allein gestellt. Dieses innere Erlebnis stellt das Buch Jeremias mit dem zu dieser Zeit üblichen Stilmittel der wörtlichen Rede in Dialogform lebensecht dar. Im Schriftbild von Samuel Buri wird der Höhepunkt dieser Auseinandersetzung zwischen Jahwe und Jeremias, der sich der ihm zugedachten Aufgabe entziehen will, weil er sich ihr in seinen jungen Jahren nicht gewachsen fühlt, miterlebbar veranschaulicht.

Auftrag und Entscheidung
Geradezu unheilvoll haben sich im oberen Bildteil die Farben zu einem dunklen Gewitterhimmel zusammengebraut. Ungewissheit, ratloses Hinundhergerissensein sind herauszuspüren. Die wechselnden Farben geben alle Phasen eines inneren Kampfes wieder: soll ich, soll ich nicht; kann ich, kann ich nicht; will ich, will ich nicht; muss ich dem Ruf folgen oder kann ich mein Leben so gestalten wie ich will? Warum verspüre ich ein so starkes Gefühl der Sicherheit von Jahwes Auftrag und seinem Schutz und andererseits Angst und Unsicherheit? So geht der Auftrag, der eigentlich in klaren weißen Buchstaben dasteht, durch die emotionale Einfärbung an manchen Stellen beinahe in den brodelnden Gefühlen und widerstreitenden Gedanken unter, die er auslöst. Erst im unteren Viertel des Bildes ist mehr Gleichmaß, mehr Ruhe, als habe sich der Entschluss gefestigt, den Auftrag in der Hoffnung auf Jahwes Beistand anzunehmen.

Eine Widmung am rechten Bildrand stellt eine Brücke zur Gegenwart dar: „für FB von SB“. Der Künstler hat das Bild seinem Vater, dem evangelischen Theologen Fritz Buri gewidmet. Im Entstehungsjahr des Bildes wäre er hundert Jahre alt geworden. In jungen Jahren hat er diesen Text von seinem Professor als „Weisung“ auf den Weg als Theologe und Pfarrer erhalten. Gott beruft zu jeder Zeit Menschen in ihre je eigenen Lebensaufgaben, im weitesten Sinn also in Seinen Dienst. Jeder steht einmal oder wiederholt in diesem vom Künstler so anschaulich dargestellten Entscheidungsfeld und muss sich entscheiden. Insofern sind und bleiben das anfängliche „Du“ Anspruch und Auftrag an jeden Menschen, die weiteren Worte Gottes Ermutigung.

 

Dieses Bild entstammt der Zürcher Bibel – Kunstbibel 2007. Einspaltige Ausgabe mit 25 Schriftbildern von Samuel Buri 2007, ca. 2000 Seiten, 14,2 x 22 cm, Hardcover, ISBN 978-3-85995-243-0, CHF 60,00 / EUR 38,00

Prospekt zur Zürcher Bibel 2007 mit allen Aquarellen von Samuel Buri

Dieser Bild-Impuls wurde in der Ausgabe 1/2008 der Zeitschrift „das münster“, Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft erstveröffentlicht.

Bedeutungsschwerer Dialog

Sie sind unschwer zu erkennen, die beiden menschlichen Gestalten. Auch wenn von ihnen nur die Umrisse und Flächen von Brust und Kopf gezeigt werden. Hell zeichnet sich ihre Silhouette vor dem dunklen Hintergrund mit einem flächen- und raumfüllenden Gewirr an Linien ab.

Begegnung. Nebeneinander abgebildet scheinen sich die beiden Personen doch zugewandt. Denn während bei der rechten Gestalt ganz schwach in grün-schwarzer Farbe Gesichtszüge wahrzunehmen sind, erweckt die linke Gestalt den Eindruck, von hinten bzw. von der Seite dargestellt zu sein und sich zur rechten Person hin zu drehen. Da ihre Körper nur mit wenig Farbe betont sind, erschiene ihre Begegnung farblos und leer, wenn sie nicht durch die vielen weißen Linien wie mit Kabeln verbunden wären.

Kommunikation wird sichtbar. Austausch in der ihren Körpern eigenen Farbe und Sprache. Wie eine Aura umgeben diese unzähligen „Sprachrohre“ ihre Gestalten, vernetzen die beiden und füllen den dunklen Freiraum mit der den Körpern eigenen Art der Äußerung. Der Dialog verbindet und bildet ein sich stets verdichtendes Netz, das Halt und Sicherheit schenkt und den einen oder anderen im Fallen aufzufangen vermag.

Die Bedeutung des persönlichen Gesprächs wird in diesem Bild auf sehr schöne Weise sichtbar. Viele Worte können Verstrickungen sein, manchmal sind es der Worte zu viele, so dass man zu ersticken droht. Doch die liebevolle Zuwendung und Aufmerksamkeit ist allenthalben etwas Wunderbares und Stärkendes, das uns nicht in ein dunkles Loch gleiten lässt, weil ein anderer da ist, der im dialogischen Ausloten die Veränderungen spürt und dadurch reagieren und aufzufangen vermag. Noch stehen beide Personen, noch sind sie im Lot. Aber einst wird ihnen das Gesprochene und miteinander Erlebte inneren Halt geben müssen, werden sie von den wertvollen Stunden der Vergangenheit zehren und ihren geistigen Lebensunterhalt damit bestreiten. – Vorsorge in den erfüllten Augenblicken begegnenden Seins, damit es in einsamen Stunden nicht farblos und leer ist.

umsichtige Präsenz

Hart und scheinbar zusammenhanglos begegnen uns die drei hochformatigen Teile dieses Triptychons. Mit einer expressiven Farbgestaltung zieht vor allem die mittlere Paneele den Blick auf sich. Warme Braun- und Rottöne deuten den Leib einer menschlichen Gestalt an, von der nur der Kopf deutlich erkennbar ist. Strahlenförmig scheinen sie von einer dunkleren Mitte nach oben und nach unten zu gehen. Dabei bilden sie so etwas wie einen Schild und erwecken den Eindruck, als schaue der Kopf aus dem einzigen freien Winkel über diese „Farbwand“ hinaus in eine undefinierte Weite.

Die beiden Seitenteile sind als gegenstandslose, graublau-weißsilbrig schimmernde Flächen gestaltet. In der pastos aufgetragenen Farbe sind Kerbspuren feststellbar, oben mehr diagonal auslaufend, in der unteren Hälfte in Form von Augen.

Eine Verbindung zwischen Mittel- und Seitentafel ist auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar. Doch über das Ganze gesehen lässt sich durch die Schattierungen eine leichte, diagonal nach rechts aufstrebende Struktur erkennen. Dadurch werden der nach links schauenden Gestalt gewissermaßen Flügel verliehen. Ob sie einen Engel darstellt? Einen Cherub wie in Ezechiel 1,4-21 oder aufgrund der roten Gestalt gar einen Seraphen, jenes himmlische Wesen, das von seiner brennenden oder entzündenden Eigenschaft geprägt ist und oft mit vielen Augen am Leib dargestellt wird?

Wie dem auch sei, es geht etwas Behütendes und Beschützendes von dieser Gestalt aus. Zwischen kühlen Farben der beiden Seitentafeln vermittelt sie erdige Wärme und angenehme Gegenwart. Als farbiger Lichtblick taucht sie wie eine sinnlich wahrnehmbare Erscheinung aus einer anderen Welt vor unseren Augen auf, unnahbar entrückt und doch Zuversicht ausstrahlend. Aus der Mitte lebend verändert und integriert sie die Umwelt, lässt sie zu Flügeln werden, die ihr die Schönheit eines Pfaus verleihen, der gerade sein Rad schlägt.

Von diesen Augen hat man nichts zu befürchten. Sie verweisen nicht auf die allgegenwärtigen Kameralinsen von „Big Brother“, sondern lassen vielmehr umsichtige Wachsamkeit des Dargestellten spüren, seine „gemittete“ Präsenz. Ob Bote des Himmels oder Sinnbild für uns – wer er auch sein mag – er ist ganz da, erfüllt von einer warmen, guten Kraft, die wohl tut und von der man sich gerne anstecken lässt. Mit seinen inneren und äußeren, sichtbaren und unsichtbaren Augen nimmt er seine Umgebung wahr und kann so umsichtig handeln, Gefahren ausweichen und zum richtigen Zeitpunkt das Richtige tun.

Begeisterter Aufbruch

Kann eine Osterbegegnung bereits ein Pfingstereignis sein? Das Bild von Manfred Hartmann suggeriert dies und lässt uns die Emmaus-Erzählung (Lk 24,13-35) in einem neuen Licht sehen. Seine Bildfläche ist horizontal in eine dunkle und eine helle Hälfte geteilt. In ihrer Anordnung erinnern sie unwillkürlich an Tod und Auferstehung. Zwei Tage ruhte Jesus im Grab. Am dritten Tag erstand er von den Toten. Ob der Bildträger deswegen au drei Teilen zusammengesetzt ist?

Aus der Dunkelheit des Todes und des Grabes ragt das lichte Kreuz weit nach oben. Es trägt keine Merkmale der Folter mehr. Hell und freundlich scheint in seiner Mitte eine aufgehende Sonne zu leuchten, die beiden Kreuzarme können freundschaftlich die beiden gelben Menschengestalten umarmen: Erscheinung des Auferstandenen inmitten der beiden Jünger! Wie er den Lobpreis sprach und das Brot brach, haben sie ihn erkannt (vgl. Lk 24,30f). Ihm zugeneigt, sind die beiden dargestellten Jünger der äußeren Form des Brotes ähnlich geworden. Wie zwei Klammern ( ) umgeben sie das geteilte Brot. Sie sind auch von der warmen Farbe des Brotes erfüllt. Jesus endgültig gleichförmig und gleichfarbig geworden können sie nun nach Jerusalem zurückkehren und bezeugen, dass Jesus sie auf ihrer Reise begleitet hat und sie ihn als Auferstandenen, als Lebenden erkannt haben.

Im Nachhinein haben sie erst das Brennen ihrer Herzen deuten können, das ihnen die Gegenwart Jesu signalisiert hatte. Allein sie weilten in der Dunkelheit der fehlenden Erkenntnis. Ihre dunklen, von Traurigkeit und Niedergeschlagenheit erfüllten Gestalten sind links unten neben dem Herz und in der Mitte der rechten Bildtafel zu erkennen. Wie Jesus von der Dunkelheit des Grabes umschlossen war, so waren ihre Herzen von den unbegreiflichen Eindrücken der vergangenen Tage umgeben und brauchten einen äußeren Impuls, um zu erkennen und von neuem lichterloh für die Sache Jesu zu brennen.

So sehr sich das Bild im Gesamtaufbau von unten nach oben entwickelt, von der Dunkelheit zum Licht, so kann gleichzeitig eine Kreisbewegung im Uhrzeigersinn beobachtet werden, die ihren Anfang rechts unten, in der kleinsten Bildtafel, hat. Zwischen den beiden roten Flächen können auf der einen Jüngergestalt auch die Umrisse einer Schrifttafel gesehen werden, welche an die Darstellungen der beiden Gesetzestafeln des Mose erinnert. Sie könnte auf Jesus verweisen, der von Mose und den Propheten ausgehend, den ihn begleitenden Jüngern dargelegt hatte, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht. Die linke rote Fläche mag deswegen pfeilförmig in den oberen Teil hineinragen. Andererseits können die beiden Flächen auch als die Herzen der Jünger gedeutet werden, zweigeteilt, uneinig, unförmig. Und es wäre dann die in dieser symbolischen Steintafel verborgene geheimnisvolle Gegenwart Jesu, welche die Jünger unsichtbar zusammenhalten würde. Durch seine Worte werden sie unterwegs immer mehr zu einer neuen Einheit geformt und mit neuem Leben erfüllt, dem Auferstandenen gleich. Wie im linken unteren Bildteil dargestellt, brennt diese neue Lebensfülle ähnlich der einem Samenkorn innewohnenden Kraft alle einengenden Grenzen durch und eröffnet dadurch neue Erkenntnisse und daraus resultierende neue Handlungsweisen, die sich ganz am Auferstandenen orientieren.

Vom Geist des Auferstandenen befreit und von Gottes Geist bewegt, werden sie von nun an immer wieder von diesem prägenden Ereignis erzählen. Sie werden in der Nachfolge Jesu selbst das Brot in die Hand nehmen, den Lobpreis sprechen und das Brot brechen, um allen Menschen seine hingebende Gegenwart zu offenbaren und lichtvolle, begeisterte Gemeinschaft mit ihm zu ermöglichen.

Freudiger, dankbarer Ausdruck

Das erste, was wir von diesem Kunstwerk wahrnehmen, sind wahrscheinlich die wohltuend warmen Farben, verteilt auf dreizehn kreisrunde Formen, und das sie überlagernde und zusammenfassend verbindende bunte Liniengeflecht. Dann spüren wir vielleicht etwas Anziehendes, etwas Lockendes, als wäre hier Wunderbares ausgedrückt, das zu ergründen sich lohnt und das Sehnsucht weckt, teilhabend dabei sein zu dürfen.

Ohne den Hinweis des Künstlers, dass es sich hier um den Lobpreis nach dem Abendmahl handelt, käme man jedoch kaum auf die Idee, in den bunten Kreisen Symbole für eine Mahlgemeinschaft zu sehen. Man muss allerdings wissen, dass Thomas Werk in seiner Bildsprache die menschliche Gestalt häufig auf eine Kreisform reduziert und so das Allgemein-Menschliche vor die Individualität stellt, die er, wenn überhaupt, nur in ganz subtilen Andeutungen zeigt.

Es handelt sich also um eine Szene aus dem Passahfest, das die Israeliten jedes Jahr zur Erinnerung an die Befreiung aus der ägyptischen Knechtschaft nach einem uralten, im Buch Exodus festgelegten Ritual (Ex 12ff) feierten. Darin spielt der Lobgesang – das große Hallel – den der Hausvater mit seiner Mahlgemeinschaft anstimmte, eine wichtige Rolle. Psalmen wurden gesungen, Texte, die längst zu den Kostbarkeiten der Weltliteratur gehören, weil sie über den historischen Ausgangspunkt hinaus zeitlose Gültigkeit haben. Ein Beispiel:

Lobsinget dem Herr! Denn er ist gut:
Ja, ewig währt sein Erbarmen. …
Rief ich in der Bedrängnis „O Herr“,
So hat der Herr mich erhört, dass ich frei ward.
Wenn der Herr für mich ist, so fürchte ich nichts.
Was kann ein Mensch mir dann antun?…
Besser ist’s, sich zu bergen beim Herrn,
als auf Menschen Vertrauen zu setzen.
(Ps 118,1.5-6.8)

Genau diesen Inhalt hat Thomas Werk ins Bild gesetzt: diese tiefe, dankbare Freude, diese Sicherheit gebende Geborgenheit, dieses umfassende Gefühl des Wohlergehens. Doch wie kann ein so komplexer Eindruck vermittelt werden, der durch die Psalmenzitate nur verdeutlicht, aber nicht hervorgerufen wird? – Betrachten wir die Kreisformen noch einmal näher: In warmem Gelb bis Dunkelbraun sind sie in einem einzigen breiten Pinselstrich aufgetragen. Anfang und Ende sind klar erkennbar, ebenso die Spuren der Pinselhaare, die ursprünglich Schöpferisches andeuten. Die Kunstformen vermitteln solide Festigkeit, individuelles Leben, das einen inneren Freiraum umschließt.

Wen die Kreise wohl darstellen? Ob die dreizehn Kreise wohl Symbol für das sogenannte „Letzte Abendmahl“ sind, das Jesus mit seinen Freunden gefeiert hat? Vielleicht. Aber dann würden wir einen großen Kreis für Jesus erwarten. Hier sind jedoch drei Kreise deutlich größer dargestellt. Wenn wir allerdings auf den Adressaten des Lobgesanges schauen, dann könnten sie ein Hinweis auf Gott sein: Gott in der Dreiheit seines Wesens, Gott, der verheißen hat, bei uns zu sein, wenn wir in seinem Namen beisammen sind.

Bleibt die Deutung des frohen Liniengeflechts, das über der Ansammlung der runden Elemente einen luftigen, spielerischen Kontrast bildet. Ungeplante Spontaneität spricht aus diesen farbigen Linien: so, wie die Farbe auf das Papier gefallen ist, wurde sie belassen, was sich an Mustern ergab, war gut so. Die feinen Linien blieben unbearbeitet und behielten so ihre zufällige Ursprünglichkeit. Sie erinnern in ihrer formalen Leichtigkeit und Bewegungsvielfalt an die fotografisch festgehaltenen Bewegungen von in der Luft geschwungenen Leuchtkörpern. Wie ein luftig-transparentes Gewölbe breiten sie sich über den Kreisen aus, bewirken Zusammenhang und verbinden zu einer bunten Gemeinschaft. Jeder Kreis behält seine Identität, aber jeder steht in Zusammenhang mit den anderen, die mit ihm zum Fest, zum Lobgesang beisammen sind – wirklich, oder auch in übertragenem Sinn. Denn das gemeinsame Erleben, das gemeinsame Mahl verbindet zu einer Zusammengehörigkeit, die tiefer ist und tiefer bindet, als äußere Bande es sein können.

Soweit der Blick auf diese Arbeit von Thomas Werk. Weiter in die Tiefe mag ein Wort von Jehuda Baccon führen, einem großen zeitgenössischen israelischen Künstler, der einmal sagte: „Selbstverständlich gibt es Künstler verschiedenster Art: die einen schaffen mit ihrem Verstand und andere sind „ein Werkzeug“ in der Hand des Schöpfers. Das ist das Höchste, was wir im Leben erreichen können.“ Und so kann ein Kunstwerk entstehen, das ohne eine einzige „religiöse“ Chiffre auskommt, aber eine Offenbarung vermittelt.

Erlösung

Feuer, und mitten drin blass wie ein Geist der Gekreuzigte. Er neigt den Kopf nach rechts, das Leiden scheint vollbracht. Er schwebt und hängt dennoch mit den Armen am horizontalen Kreuzbalken. Eigenartig, wie er mitten in diesem Flammenmeer steht. In diesen Flammen, die nach längerem Betrachten zu einer blutroten Menschenmenge werden kann, die mit erhobenen Armen zu rufen scheint: Ans Kreuz mit ihm, kreuzige ihn! In ihrem Zorn wollen sie ihn verbrennen, vernichten – doch er wird ihnen ans Kreuz entzogen.

Ihr Schreien und Rufen scheint sich nach oben hin in Luft aufzulösen. Je länger der Blick auf der unteren Bildhälfte ruht, verschwindet auch der Eindruck einer aufgebrachten Menschenmenge zugunsten einer zurückbleibenden. Erhöht und erhaben steht Christus über dem Geschehen. Kreuzigung, Auferstehung und Heimkehr zum Vater werden hier in einem Bild thematisiert. Gott wird dabei als weißlich-gelbes Licht angedeutet, das seinen Sohn umfängt und ihn gewissermaßen in seine ursprüngliche, ungeschaffene Lichtgestalt zurücknimmt.

Zu denken gibt, dass von Jesu Wunden kein Blut ausgeht. Es ist nicht sein Blut, das auf dem Bild die Menschheit oder die Schöpfung erlöst. Wie kann das wohl gedeutet werden? Hat Jesus sich ausgeblutet, ging seine Hingabe bis zum letzten Blutstropfen? Oder hat der Künstler ihn ganz in Weiß dargestellt angedeutet als den, der frei ist von jeder Schuld? („Von der Jungfrau geboren“, besagt ja in der antiken Mythensprache genau das, und zwar rückblickend auf sein Leben!)

Diese Schuldlosigkeit zog die Menschen an und brachte sie zum Staunen und zur Bewunderung, war den Priestern und den römischen Besatzern aber unerträglich. Darum wurde ihm Schuld angehängt: er habe gegen das Gesetz des Moses verstoßen, z.B. am Sabbat geheilt, mit Zöllnern Dirnen und öffentlichen Sündern Umgang gepflogen, Völlerei getrieben, sein gewollt wie Gott, den römischen Kaiser nicht geehrt, Gott gelästert und ein nach ihrem Verständnis völlig überzogenes, skandalöses Selbstverständnis gehabt – „ich aber sage Euch, …“

Schließlich wurde die Kreuzesstrafe über ihn verhängt, weil er Gesetze des Tempels nach ihrem Sinn hinterfragte und sie entsprechend ihrer tieferen Notwendigkeit, ihrem eigentlichen Sinn nach anwandte. Dies trieb ihm Menschenscharen zu, die mit dem Herzen verstanden, wie er mit der Schuld anderer umging, des Zöllners, der Ehebrecherin … und die auch mit dem Herzen seine Schuldlosigkeit erfassten. Das gefährdete in den Augen der geistlichen und weltlichen Obrigkeit die öffentliche Ordnung, passte nicht ins öffentliche Leben, und wurde nicht als höchster Wert anerkannt, sondern als Konkurrenz aufgefasst, die beseitigt werden musste.

In dieser Einzigartigkeit stellt ihn der Künstler nach seinem Tod dar. Jesus hat alle Schuld, die man ihm nachgesagt hat und dazu die Schuld der ganzen Menschheit auf sich genommen und gelöscht. Im Bild steht er, der sein Werk erfüllt und damit Erlösung gebracht hat, als Wegweiser, der die Botschaft hinterlässt, wie wir von nun an mit Schuld umgehen können. Das Weiß in dem der Künstler Jesus dargestellt hat, ist eigentlich gar keine Farbe. Wenn weißes Licht durch ein Prisma zerlegt wird, entsteht ein farbiges Spektrum von Rot bis Violett, in allen Farben des Lebens, auch den dunklen. Ist das ein Hinweis darauf, dass die Frohe Botschaft dazu verhelfen kann, alle Farben jedes Lebens letztendlich in Weiß zu bündeln? In schuldfreies Weiß?

Jedes Osterfest sollte bei aller Osterfreude auch diesem Aspekt Raum geben, in wie weit wir diese Wegweisung zulassen.

Kreuze zum Leben

Kann man nur mit Kreuzen Leben darstellen, Veränderung? Ist es möglich, allein mit dem Kreuz einen Weg zu gestalten, der nicht nur Kreuzweg, sondern auch Lebensweg ist? Über mehrere Jahre hat sich Peter Burkart mit diesem Thema auseinandergesetzt. Dabei ist dann und wann aus dem Leben heraus ein neues Blatt zu diesem Thema entstanden: ein vom Leben gezeichneter Weg mit dem Kreuz, ein vom Kreuz gezeichneter Lebensweg (Übersicht). Auch wenn die einzelnen Blätter auf der Rückseite datiert sind, die Farben und Formen der Kreuze geben keine eindeutige Zuordnung zu einzelnen Kreuzwegstationen wie etwa die römischen Zahlen. Jede Reihenfolge ist daher individuell, persönlich.

Dieser Kreuzweg gibt dem Betrachter keine weiteren Anhaltspunkte als das Kreuz, die Hintergrund- oder Umfeldgestaltung und das in Großbuchstaben geschriebene Wort LEBEN. Der Künstler hat das Leben gleichsam in die Gestaltung eines jeden Blattes eingearbeitet, wie es die drei ausgewählten Blätter veranschaulichen.

In der linken Arbeit steht das Kreuz senkrecht in der Blattmitte und berührt mit seinen Armen weder den seitlichen noch den oberen Bildrand. Dadurch wirkt es trotz seines hoch angesetzten Querbalkens recht gedrungen und statisch. Die rote Farbe des Kreuzes vermag die Erinnerung an das schreckliche Blutvergießen zu wecken, aber auch an die umfassende Liebe dessen, der sich am Kreuz für uns Menschen hingegeben hat. Vor dem bewegten Hintergrund erhält das Kreuz durch seine dichte Farbe Festigkeit. Obwohl haltlos in den Himmel ragend, lädt es ein, inmitten größter emotionaler Ergriffenheit bei ihm Halt zu suchen. Die Bewegtheit des Hintergrundes vermittelt im Lila einerseits gegenwärtigen Schmerz, deutet im verdeckten Licht andererseits das kommende Heil an. Das Wort Leben ist in zwei Teilen neben das Kreuz geschrieben. Diese „Kreuzwegstation“ macht alles in allem einen äußerst aktiven, mit starken Emotionen beladenen Eindruck. Dem Kreuz kommt in diesem unruhigen, geradezu turbulent wirkenden Leben eine bestimmende, tonangebende Rolle zu.

Die mittlere Arbeit mutet an, als wäre das Kreuz perspektivisch festgehalten worden. Durch die leichte Neigung erhält es einen dynamischen Charakter und scheint sich nach rechts zu bewegen. Hell leuchtend setzt es sich vom dunklen Umfeld ab. Hier scheint der Lebensweg von starker Gegensätzlichkeit geprägt, doch es ist keine farbliche Klarheit wie in den Blättern links und rechts zu beobachten. In der Art und Weise, wie das Kreuz teilweise mit blauer Farbe übermalt wurde, ist hier Kampf herauszuspüren. Von Innen heraus leuchtet schon die neue Freiheit, doch die finsteren Mächte lassen sie noch nicht zu. Trotz aller Leuchtkraft kann sich die Farbe des Kreuzes nur schwer in die dunkle Umgebung mitteilen.

In der rechten Arbeit ist das Kreuz fast nicht mehr zu sehen. Gelb auf gelbem Hintergrund vermittelt es erlöste Ruhe und Freude. Wiederum ist das Kreuz zentral ins Bild gemalt worden: Doch dieses Mal in breiten Balken, die Waagrechte nur wenig über der Bildmitte, mit allen Armen deutlich den Bildrand berührend. Trotz seiner massiven Malweise wirkt das Kreuz lebendig: Die Horizontale ist leicht schräg, mit aufstrebender Tendenz platziert, die Umrisse sind unregelmäßig, lebendig gestaltet. Leichte Schattierungen geben ihm zudem eine plastische Gestalt, durch die es sich vom leicht helleren Hintergrund abhebt, aber auch mit ihm verbunden wird. Feine rötliche Punkte könnten an das vergossene Blut denken lassen, evozieren aber doch mehr die froh machenden Farbtupfer einer bunten Blumenwiese. LEBEN steht in frischen grünen Buchstaben vor dem Kreuz. Alle Dunkelheit ist weg, auch die starre Form des Kreuzes scheint sich immer mehr in seiner Umgebung aufzulösen. Harmonische Ruhe, gelassene Heiterkeit sind der vorherrschende Eindruck. Das Kreuz wirkt in das Leben, dem es seine Prägung zu geben scheint, integriert.

Geschichte der Erlösung durch das Kreuz. In jedem Menschenleben wird sie ihre eigenen Farben und Formen, ihren eigenen Ausdruck finden. So wird der Weg zur Erlösung, wie mit den Beispielen angedeutet, von unterschiedlichen Erfahrungen geprägt sein. Jesu Kreuzweg legt sich diesen Erfahrungen wie eine haltgebende Matrix zugrunde. Und seine Auferweckung wird auch all unsere dunklen und schweren Kreuzerfahrungen umfassen und in lichte Freude und aufblühendes Leben verwandeln. Leben, das gerade vom Kreuz her seine Helligkeit und seine Kraft bezieht. Österliches Leben ist aus der Auferweckung entstanden. Ohne dieses Vorzeichen wäre es nie so hell und stark. Aber in dieser Hoffnung ist das Leben umso schöner, stärker, wunderbarer.

Unendliche Sehnsucht

Fragmente prägen diese Arbeit, die eine Kreuzwegstation sein will. Von links nach rechts sind waagrecht aneinandergereiht zuerst ein Bildzitat, dann ein Schriftzitat mit zwei großen Zierbuchstaben oben und unten. Es folgen eine Stoffapplikation mit Häkelspitze, ein Röntgenbild sowie waagrechte Schriftzitate in spanischer Sprache. Sie alle sind akkurat auf einem feinen Tuch aufgetragen und durch Linien aus Nadelstichen verbunden.

Die linke Begrenzung bildet ein Ausschnitt aus der Beweinung Christi von Botticelli (1490/92). Auf Goldgrund herausgehoben sind die Brust Jesu mit dem herabhängenden Arm zu erkennen, darüber zwei verschränkte Hände und ein verhüllter Kopf. Dazwischen steht waagrecht „la IIIa caída“ (span. der dritte Fall) geschrieben. Ein Hinweis auf das Thema dieser Kreuzwegstation und gleichzeitig, das zweite Fragment kreuzend, zu einem auf grünem Grund applizierten Stofffragment führend. Die Kreuzbordüre verweist auf seine Herkunft als Altartuch. Die Vertikale des Kreuzes liegt genau auf einer das Bild durchquerenden Linie und wird durch eine kaum lesbare Inschrift nach oben verlängert: “Nada deseo más que a mi propio desco.“ (Ich sehne mich nach nichts mehr als nach meiner eigenen Sehnsucht.) Rätselhafte Worte, die wir für’s Erste stehen lassen müssen.

Rechts schließt sich die Radiographie einer stark gekrümmten Wirbelsäule an. Hell zeichnet sich der Brustkorb ab. Schmerz ist spürbar, Aufbäumen, Kampf, hinten Hinunterfallen. Die Dynamik und Dramatik des Bildfragmentes aus Botticellis Beweinung wird hier fortgesetzt. Die gelblichen Spuren suggerieren große Mengen auslaufender Körperflüssigkeit: Entweichendes Leben, Erschöpfung, Kraftlosigkeit. Quer durch das Kreuz hindurch verbindet ein Pfeil aus Nadelstichen die Wirbelsäule mit dem Brustkorb Jesu: Das Leben ist am Entweichen.

Die beiden waagrechten und senkrechten Linien, die in den meisten anderen Kreuzwegstationen durch ihren Abstand eine Kreuzform bilden, sind hier in Schieflage geraten. Steil führen die Linien von rechts oben nach links unten, sie überschneiden und kreuzen sich in der Mitte. Hier ist kein Platz mehr für Leben, es geht dem Ende zu.

Ebenfalls mit Goldfarbe geschriebene Worte in spanischer Sprache verstärken diesen Eindruck. Sie stammen aus dem Buch Infarto del Alma (Seeleninfarkt) der chilenischen Schriftstellerin Diamela Eltit. In der Übersetzung von Ursula Varchmin lauten sie: „Wir werden nie wieder gehen, keine Wiese mehr überqueren. / Mit dir erlosch mein Schicksal und es blieb mir die Last meiner unendlichen Sehnsucht. / Wie außergewöhnlich die Verwandlung in einen von Mitleid erfüllten Gott.“

Die Grundlagen für die Meditation dieser Kreuzwegstation wären ohne das Offenlegen des Textfragmentes auf der linken Seite unvollständig. Es stammt aus einem deutschen Erste-Hilfe Buch und gibt die Anweisung: „Nach Möglichkeit sollten stark blutende und entstellende Wunden umgehend abgedeckt werden.“

Die vielfältigen Gestaltungselemente fordern die Wahrnehmung heraus. Äußeres wird mit Innerem verbunden, Körperliches mit Geistigem. Begegnung und Auseinandersetzung sollen geschehen, ähnlich wie an einem Krankenbett, aus dessen Laken der Grundstoff stammt und dessen Grundform durch das Längsformat angedeutet wird. Vom Leidensweg ausgehend, führt dieser Kreuzweg Jesu zu den Leiden eines jeden Menschen. Dabei erzählen die einzelnen Bilder auf eigene Weise „Leidensgeschichten“ – indem sie in Bild und Poesie starke Impulse geben.

Die Ausweglosigkeit des Leidens wird hier in Sprachform gebracht. Der Leidende hat den Boden unter den Füßen verloren, er wird „nie wieder gehen können“ und befindet sich gewissermaßen im freien Fall. Haltlos klammert er sich an seine unendliche Sehnsucht nach Heilung und Erlösung, die ihm angesichts der Ausweglosigkeit allerdings Last ist.

Der altertümlich formulierte Rat aus dem Erste-Hilfe Buch zeigt die Notwenigkeit auf, dem Klagenden beizustehen und erste Hilfe zu leisten. Der Rat mag der Situation nicht wirklich angepasst sein. Aber macht er nicht deutlich, dass wir das Leiden nicht entfernen, sondern den Leidenden durch unsere Teilnahme allenfalls trösten, den Schmerz lindern können?

Der Mensch kann den physischen und psychischen Beschwerden nicht entfliehen. Er muss sie aushalten und lernen, mit ihnen umzugehen, wie aus dem Textfragment aus dem Buch Infarto del Alma hervorgeht. Seine einzige Hoffnung bleibt das schier Unglaubliche: ein mitleidender Gott. Das sich zwischen den Texten befindliche und optisch leicht in den Vordergrund gerückte Stück Altartuch versucht diesen Gedanken zu visualisieren. Auf ihm wurden Tod und Auferstehung desjenigen gefeiert, der am Kreuz seine Sehnsucht nach Leben durchlitten hat, stellvertretend für alle, die ihm ihre Lasten und Leiden anvertraut haben. Jesus verbindet. So kann die Altartuchreliquie zu einer symbolischen und zeitlosen Einladung werden, alles Sehnen und alles Bedrückende, ja das ganze Sein in Gottes Hand zu legen, damit in seiner Liebe das Außergewöhnliche geschehen kann: unverhoffte Auferstehung, ungeahntes Leben.

Diese Arbeit war im Rahmen der Ausstellung VIA DOLOROSA im März 2008 in der Kirche St. Bonifaz in München ausgestellt. Ein Katalogbuch mit den Abbildungen und Texten zu allen 14 Stationen ist bei der Künstlerseelsorge in München zum Preis von 15,- Euro + Porto erhältlich. Email: kuenstlerseelsorge@ordinariat-muenchen.de

Identitätssuche

Ein seltsames Bild, eine geheimnisvolle Erscheinung: Ein kopfloser Mann steht uns mit verschränkten Armen gegenüber. Sein Unterleib ist nackt, sein Oberkörper mit einem eng anliegenden T-Shirt bedeckt. Das dornengekrönte Haupt von Jesus ziert die Brust dieses unbekannten Mannes. An der Stelle seines Kopfes befinden sich drei Ballons, die an seinem Glied befestigt sind und es in die Höhe ziehen.

Hilflosigkeit macht sich beim Betrachten dieser Arbeit breit. Was will der Künstler mit diesen ungereimten Darstellungen aussagen? Will er verwirren? Wieso hängt er die Ballone am männlichen Glied auf? Will er anstößig sein – oder gar dessen Potenzprobleme in den Vordergrund rücken? Und ist der bloßgestellte Intimbereich im Zusammenhang mit dem Gekreuzigten nicht völlig unangebracht, verletzt er damit nicht religiöses Empfinden? „Erklärende Begriffe wie absurd, merkwürdig, eigenartig, erotisch oder pervers tauchen genauso schnell auf wie sie auch wieder verschwinden …“(Dorothea Strauß).

Stephan Melzl sagt von seinen Bildern, dass sie am ehesten Aphorismen gleichen. Er bringt seine Gedanken also pointiert, von der üblichen Auffassung abweichend, ins Bild. Folglich müssen wir genau schauen und nachdenken, was die Bildsprache ausdrücken kann.

Seine Arbeit zeigt drei Bildebenen. Die untere stellt das Naturhaft-Menschliche dar, unverhüllt als Zeichen seiner fundamentalen Bedeutung. Die mittlere Ebene, das Herzstück der Gestalt, zeigt den Oberkörper mit dem T-Shirt in klaren Konturen und Farben. Und oben finden sich anstelle des Kopfes drei schwebende Luftballons, die mit Schnüren mit dem unteren Bereich verbunden sind.

Blickfang ist der mittlere Bereich. Das Jesusgesicht auf dem T-Shirt ist gleichsam eingebettet in die gekreuzten Unterarme. Das mit der Dornenkrone angedeutete Kreuzthema wird dadurch verstärkt. Das Gesicht ist zudem von einem auf der Spitze stehenden gelben Quadrat hinterfangen, das an einen Heiligenschein erinnert. Sein Licht scheint die obere Hälfte des Gesichts erhellend und verklärend zu durchdringen.

Als Kontrast zum menschlichen Gesicht darüber das kopfähnliche Gebilde der Luftballons, dreifach überhöht. Es ist, als wollten sie die Realität des Lebens verlassen und den Kopf mit seiner ratio ersetzen. „Mit uns sind Sie im Himmel zuhause“ verspricht eine Werbefirma für Luftballons. Schwereloses Glück und luftige Kinderträume werden mit Luftballons verbunden, permanent von der alles vernichtenden Zerstörung durch einen Nadelstich bedroht. Und wenn das Gas keinen Auftrieb mehr gibt, sinken und schrumpfen die Ballons … So könnten sie für kurzlebige, aber auftriebstarke Phantasien stehen, welche nicht nur heranwachsende Menschen so richtig kopflos werden lassen. Andererseits wird die Dreizahl, hier zudem noch schwebend, gerne mit dem Göttlichen oder gar der Dreifaltigkeit verbunden. Deshalb können die drei Luftballons mit ihrer dünnen Plastikhaut auch das ganz Andere, das Geistige, das Gewohnte Übersteigende, umhüllend und verhüllend darstellen.

Die Fragen bleiben: Um was geht es hier wirklich? Wer wird hier Schicht um Schicht dargestellt? Die Farben des T-Shirts und die Haltung des Mannes verweisen zum einen auf die Phantasiefigur Superman. Er möchte anscheinend groß dastehen, über sich hinauswachsen, doch noch sind seine Arme tatenlos verschränkt, abwartend, suchend. Zum andern nehmen auch Jesus und das, wofür er steht, im Leben dieses Mannes einen zentralen Platz ein. Hinzu kommen die luftigen, aber verborgenen Wünsche in seinem Kopf, die seinem Leben geheimnisvoll Auftrieb geben.

Dieser Mann scheint noch nicht zu wissen, was er will. Der verwirrende Eindruck, den das Bild bei uns Betrachtern hinterlässt, ist die Situation des Dargestellten. Als Suchender ist er ob der vielen Vorbilder und Möglichkeiten verwirrt und tut er sich mit der eigenen Identitätsfindung schwer. So sehr die Gedanken an seine Träume ihm Glücksmomente zu bescheren scheinen wie bei sexueller Erregung, ist er auf der Suche nach seinen Potenzialen, nach seinen schöpferischen und identitätsbildenden Kräften.

Dieser Eindruck wird durch die Hintergrundgestaltung verdichtet. Eine mandelförmige Lichterscheinung umgibt geheimnisvoll die Gestalt des jungen Mannes. So eine Gloriole oder Aura findet sich vor allem bei Christusdarstellungen, bei denen es u. a. darum geht, seine Herkunft und die Würdigung seines Lebenswerkes zum Ausdruck zu bringen. Mit der umfassenden Lichterscheinung auf dem Bild kann also eine göttliche Schaffenskraft angedeutet sein, die der junge Mann hinter sich spürt. So wie sein Unterkörper in ein magisches Licht getaucht ist, scheint diese Energie ihn zu erfüllen und seine Schöpferkraft zum Finden der ganz eigenen Fähigkeiten seiner Persönlichkeit zu wecken.

Unser Vater

In intensiven Farben präsentiert sich uns ein altbekannter und vielen wahrscheinlich auch vertrauter Text: das Gebet zum Vater im Himmel, das Jesus seine Jüngern gelehrt hat. Mit diesen Worten wurde ein Bild gestaltet, das auf Illustration verzichtet, um „das Wort transparent werden zu lassen“ (Samuel Buri). Mit graphischen Mitteln hat er die Bedeutung des Wortes hervorgehoben und den alten Worten durch die frischen Farben Fröhlichkeit und neue Aktualität verliehen. In dem Gebet ist Lebenskraft.

Durch die Schrifttypen und -größen lassen sich zwei Bildebenen unterscheiden. Auf der unteren befinden sich die drei Wörter „unser Vater“ und „AMEN“, die durch ihre Größe visuell im Vordergrund stehen. „unser Vater“ steht in himmelblauen Buchstaben oben. Bei betrachtendem Verweilen fällt erst die Mischung von Groß- und Kleinbuchstaben auf. „UnSer VaTer“ steht da. Was das wohl zu bedeuten hat? Ist das kindlich-unbedacht so hingeschrieben? Oder dient es der graphischen Gestaltung? Oder können wir an ein Passwort aus der Computerwelt denken, das aus verschiedenerlei Zeichen zusammengesetzt den Zugang zu einem gewünschten Bereich öffnet? Wie dem auch sei, es ist jedenfalls keine steife, förmliche Anrede, die obenan steht, sondern eher eine vertraute. Von Natur aus schauen wir zum Vater auf. Seit Jesus dürfen wir Gott Vater nennen, ist Gott als Schöpfer unser aller Vater.

In großen Buchstaben steht „AMEN“ in feurigem Orange unten an der Basis dieses Schriftbildes. Ein bekräftigendes Ja von uns Menschen, ja, so geschehe es und so sei es, was der Lesende in diesem Gebet bekennt. Durch viele Jahrhunderte hat sich dieser Akklamationsruf erhalten – einst das einzig aktive Mittun der Gemeinde – heute noch in den Gottesdiensten der Juden, Christen und Muslime beheimatet. Die freie Schreibweise dieser drei Wörter lassen sie in ihrem Auf und Ab geradezu melodiös klingen: fröhlich beschwingt oben, fest und feierlich unten. Zusammen mit dem mit luftigen Farbfeldern gestalteten Hintergrund vermitteln sie Lebendigkeit und Individualität. Das Herrengebet erscheint so als ein starkes und sehr persönliches Gebet.

Die obere Ebene ist im Unterschied zur unteren streng linear gestaltet. Auf dem freien Untergrund erscheint das in zwei Farbblöcke geteilte Rechteck mit den regelmäßigen Zeilen und der kleinen Schrift in ebenso regelmäßigen Großbuchstaben wie eine Bekanntmachung im öffentlichen Raum. Hier wurden Worte in einen festen Rahmen gebracht. Nüchtern, ohne Gewichtung, ohne Spielraum. Nur die Farben wechseln ab: blau, gelb, blau, gelb … wie die beiden Farbhälften, die dem Gebet, das aus unserem menschlichen Leben kommt – die vielen Horizontalen deuten dies an – eine klare vertikale Ausrichtung geben.

Die beiden Farben Blau und Gelb bilden auch die Farbe der Schrift. Die Buchstaben sind auf dem jeweiligen Hintergrund gut lesbar, weil die Schrift durch orangefarbene und dunkelblaue Balken hervorgehoben wird. Durch diese Farbsprache entsteht eine lebendige Beziehung zwischen dem himmlischen „unser Vater“ und dem irdischen „Amen“, die das Gebet zu einer breiten Treppe zum gemeinsamen Vater werden lässt.

Die plakatähnliche Darstellung von Samuel Buri gibt sich als farbenfrohe Einladung an uns Betrachter, dieses Gebet Wort für Wort, Stufe um Stufe zu „beschreiten“, um so die Größe und die Tiefe dieses Gebetes zu erfahren – die befreiende und stärkende Kraft, die aus dem Vertrauen zum Vater im Himmel kommt.

Dieses Bild entstammt der Zürcher Bibel – Kunstbibel 2007. Einspaltige Ausgabe mit 25 Schriftbildern von Samuel Buri 2007, ca. 2000 Seiten, 14,2 x 22 cm, Hardcover, ISBN 978-3-85995-243-0, CHF 60,00 / EUR 38,00

Prospekt zur Zürcher Bibel 2007 mit allen Aquarellen von Samuel Buri

Per sempre ti rivedo

Die große weiße Gestalt irritiert. Sie ist da und erscheint doch als flüchtiger Anblick, als durch das Bild huschende Existenz. Wer ist sie, wovor flieht sie? Drei Kreisflächen sind wie bei einem Schneemann übereinander angeordnet und durch eine darunterliegende weißere Form miteinander verbunden. Die roten, den obersten Teil der Figur berührenden Worte suggerieren eine menschliche Gestalt, auch wenn keine konkreten, individuellen Züge zu erkennen sind. Mit den horizontal nach links „verwehten“ Farbläufen vermittelt sie Bewegung, Entschwinden einer Erscheinung oder Verflüchtigen eines Geistes, als hätte ein gewaltiger Sturm sie erfasst. Vergänglichkeit wird spürbar, Getriebenwerden, wohin man nicht will.
Da Weiß von Künstlern oft als Farbe des Übergangs verwendet wird, als Farbe „der ersten und der letzten Dinge“ (Otto Zech), könnte man das Weiße als Wesen, Geist, oder Seele im Aufbruch in eine andere Existenz verstehen, während die drei festen Kugeln in der linken Bildhälfte – gehalten durch luftige Schutzräume – für das stehen können, was Geist, Wissen und Können an Spuren zurücklassen.

Der Hintergrund aus akkurat aufgetragenem Blattgold bildet zu dieser unförmigen und flüchtigen Erscheinung einen eigenartigen Kontrast. Er erinnert an den Goldgrund auf Ikonen und mittelalterlichen Altarbildern und bringt in dieser Tradition Transzendentes, Gott zur Sprache, wie er ähnlich einem Netz oder einem Gitter jeden auffängt und ihm Halt verleiht. Gott ist der kostbare Hintergrund allen Lebens, er erhebt das Vergängliche zu etwas Einmaligem und Beständigem.

Sechs rote Farbgebilde vollenden den farblichen Dreiklang. Je drei sind beiderseits der weißen Figur übereinander angeordnet und bilden durch Farbe, Größe und Anzahl einen wohltuend lebendigen Kontrast zur Hauptgestalt. In der Art und Weise, wie sie aufgetragen sind, wohnt ihnen in der linken Bildhälfte etwas Unvollendetes, Vergängliches inne. Ihre unterschiedlich gestalteten Formen erinnern durch ihre schwache Farbdeckung an Lippenstiftspuren. Ob sie als Abschiedsküsse, als Zeichen der Zuneigung, der herzlichen Verbundenheit und der Nähe gelesen werden dürfen? Andererseits lassen ihre diffusen roten Formen an schwimmende Kleinlebewesen denken, die im „Aquarium“ der kostbaren Erinnerungen von der Kraft des Lebens künden. Tatsächlich hat der Künstler mit einem farbgetränkten Tuch gearbeitet, bewusst die Spuren des Stoffes hinterlassend, von der Berührung erzählend und dem Kleid, das jetzt keine Rolle mehr spielt und deshalb zurückgelassen wird.
Die rundlich geformten Zeichen der rechten Seite erscheinen dagegen in ihrer kompakten Form als Markierungen oder Anhaltspunkte, die Werte des Lebens, Stabilität und Überdauern versprechen.

Inmitten dieses flüchtigen Geschehens laden vier in Schriftform festgehaltene Worte zum Nachdenken ein. Durch den unmittelbaren Bezug geben sie sich als gedanklicher Ausdruck der weißen Gestalt, erscheinen sie wie ein mit letzter Kraft gemaltes Vermächtnis des Davoneilenden: per sempre ti rivedo. Obwohl die Zeichen wackelig geschrieben sind und ein erbärmliches Bild abgeben, geht durch die rote Farbe und ihre verbindende Lage eine besondere Kraft von ihnen aus. Und durch den Farbunterschied und die zwei Zeilen werden die einzelnen Worte zusätzlich hervorgehoben:

per sempre ti rivedo
– für immer seh ich dich wieder

Diese wenigen Worte nehmen der gewaltsamen Trennung die Endgültigkeit. Aus ihnen spricht eine Zuversicht, die, alle irdischen Begrenzungen hinter sich lassend, neue Perspektiven setzt: für immer seh ich dich wieder. Nicht endgültiger Abschied, sondern nie endende Gemeinschaft wird in diesen Worten zum Ausdruck gebracht. Hier kommt ein Glaube zum Ausdruck, der alle irdischen Gebundenheiten außer Kraft setzt und gleichzeitig über das vordergründige Ende von uns Menschen hinaus einen neuen Lebensabschnitt erhofft und verkündet.

Die letzten Worte – ein Neuanfang
Die vom Künstler verwendeten Worte stammen aus einem Gedicht von Giuseppe Ungaretti, das er am 24. Mai 1959 in Rom geschrieben hat. Es sind die letzten vier Worte eines persönlichen Glaubensbekenntnisses, der Höhepunkt eines Gedankens, der hier in der deutschen Übersetzung von Ingeborg Bachmann wiedergegeben wird:

Ganz ohne Ungeduld werde ich träumen,
Ich werde mich an die Arbeit machen,
die nie enden kann,
Und nach und nach, gegen Ende,
Kommen Arme den Armen entgegen,
Öffnen sich wieder hilfreiche Hände,
Licht geben die wiederauflebenden Augen
In ihren Höhlen,
Und du, plötzlich unversehrt,
Wirst auferstehen, nochmals
Wird deine Stimme mir Lenkerin sein,
Für immer seh ich dich wieder.

Im Bild wie im Gedicht wird der Betrachter in den Dialog zweier Liebender hineingenommen. Er sieht Vergehen, Entschwinden, spürt den Erinnerungen und Liebesbezeugungen nach und muss ebenfalls loslassen. Durch den Goldgrund und die letzten Worte wird ihm aber eine gewaltige Hoffnung vermittelt. So kurz das Leben, so flüchtig seine Lebensspuren auch sind, er ist in einem größeren Ganzen, das wir personalisierend Gott nennen, gehalten und aufgehoben. ER schenkt uns die Perspektive des nie endenden geistigen Lebens und des nie endenden Wiedersehens.

Dieser Bild-Impuls wurde in der Ausgabe 3/2007 der Zeitschrift „das münster“, Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft erstveröffentlicht.

Leuchtendes Kreuz

Wie ein einfaches Gewand mag einem die rote Fläche erscheinen. Durchsetzt mit schwarzen Bereichen vermittelt sie den Eindruck eines gebrauchten Kleidungsstücks. Unten und seitlich wird sie vom Bildrand beschnitten, oben kann der leichte Einschnitt in der Mitte als Kragen gedeutet werden.

Doch das von oben eindringende Licht und der lebendige Pinselduktus verleihen dieser T-förmigen Fläche etwas Körperhaftes, Menschliches. Das weißgelbe Licht, das von außerhalb in das Bild hineinfließt, sich in das Gewand und über das Gewand bis zur helleren Mitte ergießt, befindet sich an der Stelle des Kopfes. In der Art und Weise wie es den dunkleren Hintergrund überdeckt erscheint es als erleuchtetes Gesicht, das leicht zur Seite geneigt Vergeistigung und Transzendenz ausstrahlt.

Dieses weißgelbe Gebilde hat etwas Hinweisendes und zugleich Mitteilendes an sich: aus der Höhe kommend deutet es auf den Brustbereich des Gewandes hin. Die dort leuchtende Kreuzform mit einem Herz in seiner Mitte mag andeuten, dass die Herzmitte des Menschen nicht nur anatomische Bedeutung hat, sondern ebenfalls spirituelles Aufnahmeorgan für Immaterielles und Transzendentes ist.

Links neben dem Licht können zwei weitere Kopfformen gedeutet werden: eine weiß Schraffierte links, eine weitere in violetter Farbe in der Mitte. Ob dadurch in dem ganz von Licht erfüllten oder verhüllten, zur Seite geneigten Kopf das letzte Stadium einer Entwicklung gesehen werden soll? Nun ist es vollbracht. Was sein musste, ist geschehen. Alles an ihm ist von den vergangenen Stunden, Tagen und Wochen gezeichnet.

Die T-Form lässt eine Person mit ausgebreiteten Armen wahrnehmen: einen Menschen, dessen Innerstes von einem Licht erfüllt ist, das auch Schmerz und Kreuz aufhellen kann. Und sie bringt im feurigen Rot die Begeisterung dieses Menschen zum Ausdruck, die weder durch das Leid noch den Tod gebrochen werden konnte. Ein Heiliger?

Vor dem unbestimmbar grauen Hintergrund nimmt das starke Rot eine klare Position ein, legt ein deutliches Bekenntnis zum Leben ab, trotz der in der schwarzen Farbe erkennbaren Bedrängnis. Wie ein Blick in sein Innerstes offenbart sich das leuchtende Kreuz als zentrale Kraftquelle. In der Art und Weise wie es das kleine Herz umgibt ist es auch Schutz und erweiterter Lebensraum. Damit könnte zum Ausdruck kommen, dass der vom Herzen ausgehende Glaube die tragende und alles verwandelnde Kraft ist.

So sehr das Bild als symbolische Darstellung für den gekreuzigten und auferstandenen Herrn gedeutet werden kann, ist es vor allem Ausdruck für jeden Christen, dessen Gedanken und dessen Tun von unfassbarem Licht umgeben sind. Ihm wohnt eine zum Guten wandelnde Kraft inne, die wie bei Jesus zum Vorbild für viele wird, sich für die Liebe und das Leben einzusetzen, Zeit und Leben für den anderen hinzugeben. Damit alle das Leben haben und es in möglichst großer Fülle erfahren dürfen.

Glaubensfrage

Der erste Blick auf das Bild mag verwirren. Das Auge sucht nach Halt und irrt doch vielmehr in der Vielfalt von Strichen und unbekannten Formen wie in einem Labyrinth umher.

Im Großen und Ganzen erscheint das Bild hell und freundlich. Der weiße, leicht ins Gelbliche changierende Hintergrund deutet einen undefinierten Raum an und lässt den einzelnen Formen und Gestalten viel Platz und Bewegungsfreiheit. Mal stärker, mal schwächer durchziehen die roten und blauen Linien die Bildfläche, keine Tiefe oder Perspektive gebend, die einzelnen Elemente wie Adern verbindend und zu einem Ganzen zusammenfügend, ihm aber auch ein fragiles Erscheinungsbild verleihend.

Unter den beiden kräftig blauen Farbeinbrüchen am oberen Bildrand erscheint – auch durch die sich gegen den „ transzendenten Himmel“ abzeichnende Silhouette – das Liniengewirr wie eine großer Organismus. Sein „Herzstück“ ist ein klar umschriebenes Gebilde, das mit seinen dicken Begrenzungen Festigkeit und Unumstößlichkeit vermittelt. Man kann diese Form als Gebäude sehen und mit Berücksichtigung des angedeuteten Turmes auch als Kirche. Das himmlische Blau scheint wie ein Segen einen Teil des Daches zu bilden. Anstelle aber beide Gebäudeteile zu bedecken, ragt es seitlich weit über das Kirchengebäude hinaus, um einem kleinen Haus und weiter unten auch menschlichen Gestalten Schutz zu geben. Das stimmt nachdenklich … Andererseits kann die Bildmitte auch als aufgeschlagenes Buch gesehen werden. Seine Größe und Position geben ihm eine zentrale Bedeutung, die vielen kleinen weißen Rechtecke, die wie verkleinerte Seiten oder „Flugblätter“ durch das Bild flattern und an manchen Stellen haften, vermitteln den Eindruck, dass sein Inhalt für alle wichtig ist,

Rund um diesen Mittelpunkt herum ist ein vielfältiges Leben zu beobachten. Vor allem im unteren Bildabschnitt sind mehrere menschliche Gestalten und ihre mögliche Beziehung zur Mitte angedeutet. Links außen begegnen wir zwei eher „stacheligen“ Gestalten, von denen sich eine abkehrt, die andere dem zentralen Objekt zuwendet. Daneben sitzt ebenerdig eine junge Frau in einen Text versunken vor einem stelenartigen Gebilde, das ebenso einen Menschen mit erhobenen Armen darstellen könnte. Von hinten scheint sie das Böse mit ausgestrecktem Bein treten zu wollen. Das Böse, weil anstelle eines Oberkörpers ein Dreizack den Eindruck der Bosheit verstärkt. Ganz rechts steht einer mit ausgestrecktem Arm da. Er scheint gebunden oder gefesselt zu sein. So könnte er einen Verletzten oder Kranken darstellen, der wieder aufstehen kann und nun dankbar auf seine Kraftquelle hinweist, sie vielleicht sogar zu berühren versucht.

Ob die verschiedenen Gestalten stellvertretend für uns stehen, die wir jeder anders mit einer unumstößlichen Wahrheit in unserer Mitte umgehen? Wird in diesem Bild nicht unsere Lebenssituation dargestellt? Unsere Existenz in einer vielfach verwirrenden Welt, in der wir uns zurechtfinden müssen und nach Ordnung suchen?

Jeder, der bewusst lebt, sucht sich einen Platz, der seinem Wesen und seinen Möglichkeiten entspricht. Er muss sich fragen, wie er sein Umfeld wahrnimmt und wie er wahrgenommen wird, ob er auch verwirrte Dinge lösen und ihnen einordnend einen Sinn abgewinnen kann. Er muss im Wahrgenommenen seine Wahrheit herausspüren oder -hören, das, was ihm wichtig, was ihm Lebensmitte und Kraftquelle ist. Letztlich geht es um das oder den, woran zu glauben sich lohnt auf der Suche nach Orientierung, Ordnung und Halt in dieser verwirrenden Welt. Die im zentralen Gebäude angedeutete Gemeinschaft, die im aufgeschlagenen Buch signalisierte Frohbotschaft stellen zwei Angebote dar, in denen Antworten auf Glaubensfragen gefunden werden können.

Nacht-Landschaft

Das Auge schweift über eine Ebene oder einen See, findet noch Halt an einem schwarzen Hügelzug – oder ist es ein Wald? Ebenfalls am Horizont künden in weiter Ferne einsame Lichter von bewohnten Häusern. Darüber breitet eine unendliche Himmelslandschaft ihren Zauber aus. Helle Wolkenfetzen spiegeln das Licht einer fernen Stadt, und darüber – wie in einer anderen Dimension – funkelt eine Vielzahl von hellen Punkten: leuchtende Sterne, die von fernen Sonnensystemen künden.

Wenn wir versuchen, uns in die Stimmung dieser Nachtlandschaft hineinzufühlen, stehen wir ganz klein unter diesem unermesslichen und unerreichbaren Firmament. Die Landschaft wirkt klein und gibt weder Halt noch Schutz. Auch die Dunkelheit macht uns unsicher – das menschliche Auge ist ja nicht für sie geschaffen. Ohne das Licht des Tages bekommt alles, was uns bedrückt und bedroht zusätzliche Schwere. Andererseits fällt viel alltäglicher Kleinkram ab, weitet sich das Herz für Wesentliches und lässt beim Anblick des Himmelszeltes tiefer atmen.

Spiegelung nennt Bernd Zimmer sein Bild. Warum – können wir nur ahnen. Dag Hammarskjöld fordert in seinem Nachtgedicht dazu auf, jeden einzelnen Tag als ein einmaliges, besonderes Stück des Lebens anzusehen. Das Leben vergleicht er mit einer Schale, die täglich neu gefüllt wird, „denn was vorher war, soll sich nun spiegeln in ihrer Klarheit, ihrer Form, ihrer Weite.“

Aber nicht immer oder nur selten wird die Bilanzierung eines Lebenstages voll zufriedenstellen. Und wir spüren – gerade unter dem nächtlichen Himmel, dass uns die Sehnsucht ins Herz gelegt ist: die Sehnsucht nach Mehr, nach einem gelingenden Leben, den Drang, zu neuen Ufern aufzubrechen, die Sehnsucht nach Wahrheit, nach Liebe und Ganzheit – letztlich nach Ewigkeit. Und da sie uns allen ins Herz gelegt ist, können wir wohl auf Erfüllung hoffen.

Spiegelt sich diese Sehnsucht, diese Hoffnung vielleicht in den großen, weißen Gebilden, die schräg nach oben weisen und eine eigenartige Lebendigkeit ausstrahlen? Sind es große Flügel, einer davon wie mit Herzblut getränkt? Spiegelt das Bild das wider, was Joseph von Eichendorff vor langer Zeit in seinem Gedicht „Mondnacht“ zeitlos so ausdrückte: „Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.“