Bild des unsichtbaren Gottes

Vor einem wellig bewachsenen Hügel des quadratischen Innenbildes steht ein Mensch mit weit ausgebreiteten Armen. Es ist nicht ersichtlich, ob er zum Betrachter hin oder von ihm wegschaut, denn seine Gestalt ist nicht gemalt, sondern ausgespart, so dass er in der Einfachheit und Natürlichkeit des Holzes auftritt. In der Kreuzhaltung erinnert er an Jesus, doch gibt es keine konkret auf ihn hinweisenden traditionellen Attribute.

Zentral positioniert bildet er die vertikale Bildmitte. Anders betrachtet wirkt die Figur wie ein Schlüssel zum Werk hinter ihm, das er wie ein Bild in den Händen hält und oder es gerade an eine Wand hängt. Die nach oben schmaler werdenden, mit Naturpigmenten und Sand gemalten Gras- oder Moosstreifen deuten perspektivisch nicht nur einen Hügel an, ebenso kann durch den gebogenen Horizont auch das Erdenrund in ihm gesehen werden. Letzteres wird durch das Quadrat verstärkt, das symbolisch für unsere sichtbare Welt steht.

Die mittige und das Quadrat sprengende Position lassen in der stehenden Gestalt Christus, den Auferstandenen erkennen. Durch die Aussparung seines Körpers ist er wie abwesend dargestellt, aber mit der klaren Kontur der Silhouette doch greifbar nahe. Die Darstellung erinnert an die Begegnung einiger Jünger mit dem Auferstandenen am See Tiberias. Nach dem wunderbaren Fischfang und dem gemeinsamen Mahl wussten die Jünger plötzlich, dass die Person, die sie so unbegreiflich angerührt hatte, ihr Herr war (vgl. Joh 21,1-14). So mag der Auferstandene wie im Bild dargestellt möglicherweise abwesend erscheinen, aber real-präsent und lebendig ist er durch die Vermittlung des Geistes schon dem, der da glaubt. „Keiner unter den Jüngern wagte ihn zu befragen: Wer bist du? Denn sie wussten, dass es der Herr war.“ (Joh 21, 12) Mit den ausgebreiteten Armen scheint der Auferstandene auch hier zu bekräftigen: Ja, ich bin es!

Erinnert ihr euch, dass ich euch sagte: „Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben. … ihr seht mich, weil ich lebe und auch ihr leben werdet.“ (Joh 14,6.19b)? Jesu Gestalt ist unvoreingenommen und zukunftsoffen. Christus ist eine neue Schöpfung, die Person und der Ort, durch die und an dem neues entstehen kann: neues Leben, Begegnungen, Freude, und vieles mehr. Christus ist der Erstgeborene der neuen Schöpfung, die sich hinter ihm wellenförmig über den Erdball ausbreitet und die Welt neu gestaltend in zartem grün-gelb-gold aufblühen lässt. Als „Bild des unsichtbaren Gottes“ steht er der Schöpfung vor und hat segnend die Hände über sie erhoben.

Paulus bezeugt am Anfang seines Briefes an die Gemeinde in Kolossai: „Er ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. Denn in ihm wurde alles erschaffen im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare, Throne und Herrschaften, Mächte und Gewalten; alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. Er ist vor aller Schöpfung und in ihm hat alles Bestand. Er ist das Haupt, der Leib aber ist die Kirche. Er ist der Ursprung, der Erstgeborene der Toten; so hat er in allem den Vorrang. Denn Gott wollte mit seiner ganzen Fülle in ihm wohnen, um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.“ (Kol 1,15-20)

ZuWendung

Im ersten Bild dieses Stationenweges fordert eine unzählbar große Menschenmenge mit aggressiv erhobenen Armen vehement die Kreuzigung Jesu. Es ist die Macht der Masse und die Ohnmacht des einzelnen Entscheidungsträgers, dass Jesus verurteilt und gekreuzigt wird. Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld, während die schreiende und tobende Menschenmenge Jesus vor sich her in den Tod am Kreuz treibt.

Unterwegs ereignen sich zwischen Jesus und vereinzelten Menschen symbolträchtige Begegnungen: Von der Totale des Getümmels auf der Straße zoomt sich der Bildausschnitt in der vierten Station zu einer Nahaufnahme zweier Köpfe. Alle Farbe ist nach außen gewichen. Der farbige Rahmen bildet einen Schutzraum für die persönliche Begegnung. Durch die einfarbig blau gezeichnete Ausführung und die strahlenförmig angeordneten, feinen Striche erhalten die Gesichter und damit auch die Begegnung etwas Tierhaftes, fundamental Einschneidendes und in der Bedeutung weit über die Einzelbegegnung Hinausweisendes. Das Bild lässt offen, um wen es sich in der Begegnung handelt. In der Volksmenge sind Jesus auch Frauen auf dem letzten Weg gefolgt. Jesus schenkt ihrem Klagen und Weinen Gehör und wendet sich ihnen zu mit den Worten „weint nicht über mich; weint vielmehr über euch und eure Kinder! (vgl. Lk 23,28f).

Auch Maria, seine Mutter, ist Jesus auf dem Weg durch die Gassen gefolgt und könnte aus der anonymen Menge herausgetreten sein, um Jesus ein letztes Mal auf Augenhöhe zu sprechen und zu sehen. Ihr ganzes Leben fokussiert und verdichtet sich in diesem Augenblick. Aber der eindringlich suchende Blick von Maria scheint auch zu fragen: „Warum machst Du das?“ – Die stille Antwort Jesu verweist einmal mehr auf den Willen seines Vaters: „Deinen Willen zu tun, mein Gott, war mein Gefallen und deine Weisung ist in meinem Innern.“ (Ps 40,9).

Die Begegnung von Veronika mit dem leidenden Jesus ist eine weitere Lesemöglichkeit. Doch bildet sich, wenn man das Bild als „hölzernes Tuch sieht“, nicht allein das Antlitz Jesu darauf ab wie auf dem Schweißtuch der Veronika, sondern es zeigt Jesus als den seinem Nächsten Zugewandten. Er schenkt seinem Gegenüber seine ganze Aufmerksamkeit und weitet gleichzeitig den Blick über die vordergründigen Probleme hinaus und zum Reich Gottes hin.

So steht das Bild für die unzähligen Geschichten, in denen Jesus den Menschen begegnet, sie ihn suchen und finden. Damals wie heute. Das Stationen-Bild des sich den Menschen zuwendenden Jesus ist eine Einladung, uns auf unserer Suche nach dem Sinn des Lebens auf die Suche nach der Begegnung mit Jesus zu machen. Auf dass unsere Lebensfrage von ihm eine Antwort erhalte in seiner das Leben erfüllenden und durch alle Höhen und Tiefen hinweg stärkenden Zuwendung: Du bist nicht allein! Ich bin an deiner Seite allezeit mit dir!

Doppeldeutige Last

Weiß gezeichnete Gegenstände verteilen sich auf einem diagonal im Bild stehenden Balken. In der oberen Hälfte als Bild im Bild in völliger Dunkelheit, unten vor einem blau-weiß-kalten, schattenhaften menschlichen Abbild. Still wird die Gewalt thematisiert, die Jesus erfahren hat: seine Dornenkrönung und die Verspottung durch die Soldaten, die Bloßstellung durch die Beraubung seiner Kleider, die Kreuzigung mit den vier Nägeln. Das querliegende Holz, welches das innenliegende Bild mittig teilt, macht die Holzbalken erst zum Kreuz und die gesamte Darstellung zu einer Kreuztragung.

Das Mahn- und Denk-Mal bringt zeichenhaft die Gewalt ins Bild. Wo Gewalt am Menschen angewendet wird, wird er seiner Freiheit und Unversehrtheit beraubt. Seine Würde wird missachtend in den Dreck gezogen und mit Füßen getreten. Auch vorgegebene, starre Strukturen und Rahmenbedingungen, in die sich Menschen vermeintlich zu fügen haben, sind Gewaltanwendungen. Menschen, die Unterdrückung erfahren, erleiden äußere und innere Verletzungen und sind oft nur noch ein Schatten ihrer selbst.

Wer Gewalt anwendet, ist oft ohnmächtig gegenüber der Stärke anderer Menschen und versucht, den anderen durch zerstörerische Aktivitäten zum Schweigen, Nicht-Handeln oder gar zum Tode zu bringen. Jesus hat die Gewalt am eigenen Leib zugelassen und durchlitten. Wir glauben, dass er dies alles erduldet hat, um uns in unseren Leiden nahe sein zu können und uns durch Hingabe seines Lebens von aller Schuld und allen Gebundenheiten zu erlösen. Die rote Farbe am Fuß des Holzes deutet schon auf das Blut, das er für uns vergossen hat zur Vergebung unserer Sünden. (vgl. Röm 3,25; Eph 1,7)

In dieser Einzigartigkeit trägt Jesus seine Königswürde ähnlich der INRI-Tafel mit sich, die über seinem Haupt ans Kreuz genagelt wurde (vgl. Lk 23,38). Anstelle der Inschrift in hebräischer, lateinischer und griechischer Schrift (vgl. Joh 19,20b) ist hier die von einer Königskrone überhöhte Dornenkrone und ein einfaches Kleidungsstück zu sehen. Sie krönen und kleiden gleichsam den hellblauen, gebeugten Schatten am Boden (dessen Farbe gut die himmlische Herkunft und Reinheit Jesu zu symbolisieren vermag) und heben den Namenlosen aus dem Staub. Die kristallin dargestellten Nägel erinnern seinen gewaltsamen Tod und lassen in ihrer stilistischen Nähe zu geschliffenen Edelsteinen auch dessen Überwindung erahnen, was wunderbar im urchristlichen Philipperhymnus in Worte gefasst wurde:

„Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, Gott gleich zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihr Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt: Jesus Christus ist der Herr zur Ehre Gottes, des Vaters.“ (Phil 2,6-11)

Schutzmantel

Das Schriftbild in ungewöhnlicher Form hängt als großes Halbrund im Raum. Es erscheint als sichtbarer unterer Teil einer unsichtbaren oberen Hälfte, die zusammen ein Ganzes bilden. Der Bildraum in wolkigem Grün stellt einen kraftvollen Lebensraum dar, der sich weder definieren noch ausloten lässt. Er bildet einen geheimnisvollen Urgrund mit unendlicher Tiefe.

Darüber schweben klar begrenzte, goldene Schriftzeichen als Ausdruck menschlicher Sprache. Die Großbuchstaben verteilen sich wie ein grafisches Muster gleichmäßig über die ganze Fläche. Fünfmal wiederholen sich die Worte aus Psalm 61,5: „Berge mich in deinem Zelt, Herr, im Schutz deiner Flügel auf ewig.“ Sie geben ein Bitten, ein insistierendes Flehen um Schutz und Geborgenheit wieder, durch das der Beter in seiner Bedrängnis bei Gott Zuflucht sucht. Dabei ist ihm Gott „ein fester Turm“ (Vers 4), ein bergender Schutz in seinem Zelt und ein Zufluchtsort unter seinen Flügeln (Vers 5). Die drei Orte umschreiben das Bedürfnis des von Krankheiten, Unfällen oder Feinden verfolgten Menschen nach einem Schutz, der das menschliche Vermögen übersteigt: Ein Turm, der nicht gestürmt werden kann, das heilige Zelt der Bundeslade, das niemand unerlaubt betreten darf, eine alles übersteigende Geborgenheit unter den Flügeln wie ein Küken bei der Glucke.

Das aufgespannte Halbrund wirkt wie ausgebreitete Flügel, es besteht aus Stoff wie ein Zelt und wird zu einem Mantel und mobilem Turm, wenn es einem Menschen über die Schultern gelegt wird. Der Hilferuf, das Gebet legt sich mit den Goldbuchstaben nach außen leuchtend um den Körper und erzählt vom Vertrauen des darin geborgenen und verborgenen Menschen in seinen Gott. Gottes Antwort ist sein realer Beistand und Schutz. Symbolisch kommt er in diesem Mantel der Hoffnung und des Lebens zum Ausdruck. Doch Gottes Gegenwart übersteigt die wärmenden und vor Wind und Regen schützenden Eigenschaften eines Mantels. Denn wo sich Gott schützend um den fragilen Menschenleib legt, erfährt dieser einen tiefgreifenden, Herz und Seele – also den Menschen in seiner Ganzheit – umfassenden Schutz.

Kraft der Stille

Stille Präsenz strahlt aus den übergroßen Gesichtern der dargestellten Personen. Formatfüllend sind sie einfach da, fokussiert auf die geschlossenen Augen in der Mitte ihrer Gesichter. Das nebulöse Licht und die Unschärfe wirken wie ein Weichzeichner, der den en face Dargestellten etwas Entrücktes oder Numinoses verleiht.

Trotz der individuellen Gesichtszüge und Frisuren spricht aus allen die gleiche Botschaft des verinnerlichten Da-Seins. Sie lassen sich betrachten und abbilden, ohne den Prozess visuell mitzuverfolgen. Weil zur Entstehungszeit der Bilder in den Jahren 2020 und 2021 ihr ganzes Leben durch die verordneten Kontaktbeschränkungen „verinnerlicht“ wurde, sind die geschlossenen Augen und ihre singuläre Darstellung auch Symbol für diese außerordentliche Zeit der Isolation und des Auf-sich-allein-verwiesen-Seins. Sie sind wie ein augenzwinkernder Hinweis auf das englische Wortspiel „look down“ – nach unten schauen und „lockdown“ – Ausgangssperre.

Die geschlossenen Augen verunmöglichen den Blick des Betrachters in die Augen der portraitierten Personen. Weil diese den Betrachter nicht anschauen, befinden sie sich wie in einer anderen Welt. Es ist, als könnte sie nichts ablenken, nicht einmal der atmosphärische Hintergrund. Doch die portraitierten Personen schlafen nicht, sie sind auch keine Träumer. In sich gekehrt sind sie ganz da, wachsam sich erspürend und wahrnehmend. Sie sind durch und durch bei sich: Hörende der Gegenwart. Hörend auf ihre innere Stimme oder vielleicht auf Gott?

Die wie anwesend-abwesend wirkenden Portraits lassen an eine Meditation oder das Gebet denken, an ein geduldig-gelassenes Warten auf aus der Tiefe geborene Antworten. Während der Künstler durch das Malen mit offenen Augen schauen und das Gesehene auf die Leinwand übertragen kann, verharren die Dargestellten in einer äußeren Passivität, innerlich aber in einer kraftvollen Stille. Die geschlossenen Augen sind nicht wirklich verschlossen, sie künden weder von Schlaf noch von Tod, sondern von einer bewussten Konzentration nach innen. Die geschlossenen Augen ermöglichen eine gesteigerte Wahrnehmung der anderen Sinne, der Konzentration auf geistige Impulse, vielleicht auch auf den siebten Sinn. In der Raum- und Zeitlosigkeit einer solchen Stille findet sich die Kraft, um die Augen dann auch wieder entschlossen zu öffnen und der Umwelt mit einer neuen Sicht auf die Dinge zu begegnen.

5 Portraits im Großformat 1 2 3 4 5

Heilige Familie

Schattenhaft, wie im Nebel ist die Figurengruppe im Bildraum verortet. Da der Hintergrund nur vage angedeutet ist, bleibt der Raum unbestimmt. Der Aufenthaltsort dieser Familie könnte überall sein.

Die wenigen Farben weisen auf karge Lebensbedingungen hin, Kälte, Winterszeit, vielleicht auch Nacht. Mittendrin wenige gelb funkelnde und rote Farbtöne. Sie leuchten wie die Glut eines Feuers, umgeben aber das Kind, das zwischen den beiden knieenden Erwachsenen liegt. Von ihm geht das Licht und die Wärme aus, welche auch die Menschen und die trübe Umgebung zu erfassen scheint.

Maria und Josef sind ohne Gesichter in blassblauen Himmelsfarben dargestellt. Ihre Haltung ist entscheidend: Sie beherbergen das Kind in ihrer Mitte. Sie beschützen es mit ihren Körpern. Sie verehren es und beten es an, weil es ihr ein und alles ist und sie Gottes Größe und Gegenwart spüren im Wunder dieser Geburt.

Die minimalistische Malweise lässt die außergewöhnlichen Umstände dieser Geburt spüren, das improvisierte Ambiente, das nur die elementarsten Voraussetzungen für eine Entbindung schuf. Die Bedeutung der Gemeinschaft wird hervorgehoben: Der Beistand des Mannes für die schwangere und gebärende Frau, der bergende Schutz der Eltern für das Neugeborene als auch die neue Mitte und Aufgabe für die Eltern. Die in der Gemeinschaft mit Gott gelebte Beziehung, intensiviert durch die Geburt des Gottessohnes, macht die Familie zur Heiligen Familie.

In schlichter Stille strahlt das zarte Blatt das Heilige dieser Geburt aus und lässt den Segen der Heiligen Nacht spüren Vielleicht begleitet in der Tiefe der Seele das berühmte Weihnachtslied von Joseph Mohr in der Melodie von Franz Xaver Gruber die Betrachtung und erhebt sie in andere Sphären:

 

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
nur das traute hoch heilige Paar.
„Holder Knabe im lockigen Haar,
schlaf in himmlischer Ruh‘,
schlaf in himmlischer Ruh‘!“

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Gottes Sohn, o wie lacht
lieb‘ aus deinem göttlichen Mund,
da uns schlägt die rettende Stund‘:
Jesus in deiner Geburt.
Jesus in deiner Geburt.

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Die der Welt Heil gebracht,
aus des Himmels goldenen Höh’n
uns der Gnade Fülle lässt sehn:
Jesum in Menschengestalt.
Jesum in Menschengestalt.

Stille Nacht! Heilige Nacht!
Wo sich heut‘ alle Macht
väterlicher Liebe ergoss,
und als Bruder huldvoll umschloss
Jesus die Völker der Welt.
Jesus die Völker der Welt.

Heute wie damals

Übergroß strahlt der vielfarbige Stern in dem Rundbogen des flachen Schreins aus Holz. Er hängt dominant über dem heiligen Geschehen, das Hochhaus hinter sich halb verdeckend und überschattend. Es ist Nacht. Alle Fenster sind dunkel und grauschwarz, so dass darin nur schattenhaft Menschen, Katzen oder Pflanzen zu erkennen sind. Das Fenster am linken Rand bildet ein Ausrufezeichen über der erhöhten, aber verschlossen Türe. Neben dieser weist ein Pfeil nach rechts zu einer ebenerdigen Tür, die geöffnet ist und symbolisch über die Treppe in das Untergeschoss des Hauses führt. Weiter unten weist ein zweiter Pfeil wie bei Fluchtweghinweisen nach links auf einen kleinen Rundbogen. Ihn deutend steht in kyrillischer Schrift darüber „Versteck“ oder „Zufluchtsraum“ im Falle eines Angriffs oder Krieges.

Der Stern ist in den Farben der Personen unter ihm gemalt und bildet dadurch mit ihnen eine Einheit. Maria und der mittlere König tragen die Rottöne der kreuzförmigen Sternachsen, Josef und der König auf der Treppe blaue Gewänder, die mit dem blauen Ring um die Mitte des Sterns harmonieren. Die hellweiße Gewandfarbe des Engels und des rechten Königs findet sich nicht im Stern, sondern im eingewickelten Jesuskind wieder, dem Licht der Welt. Die Heiligenscheine der sieben Personen erscheinen wie Satelliten der goldenen Sternmitte.

Die harmonische Feierlichkeit der modernen Ikone lässt beinahe vergessen, dass sich die Geburt Jesu in der Abgeschiedenheit und Dunkelheit eines Luftschutzkellers ereignet. Andächtig, aber auch sorgenvoll stehen Maria und Josef an der Krippe mit dem Jesuskind, das in seiner Ei-Form den Ursprung des Lebens verkörpert. Die Katze daneben ist froh, dass sie in ihrem Katzenkorb in Sicherheit gebracht wurde und dabei sein darf. Sie trägt einen kleinen, fischförmigen Anhänger am Halsband, dessen ovaler Stein die gleiche Farbe und Form wie das Gesicht des Jesuskindes hat. Ein Verweis auf das griechische Wort Ichtys – dass das neugeborene Kind Jesus auch ihr Retter ist und die Tiere in das Heilsgeschehen mit hineingenommen sind?

Auch die drei Weisen haben mit ihren Gaben den Weg zur Krippe gefunden. Sie sind dem großen Stern gefolgt, sind mit ihm in die Tiefen der Erde hinabgestiegen, um in Jesus das wahre Licht der Welt zu entdecken und ihm zu begegnen. Die auffälligen, blauen Schuhe, die alle Akteure tragen, mögen symbolisch für den Himmel stehen, der sie trägt und führt. Einige stehen mit nachdenklich an den Kopf gelegter Hand an der Krippe, doch alle – bei Maria ist es Jesus selbst – haben etwas für den Gottessohn dabei: Josef einen Apfel als Symbol, dass er ihn nähren wird; die drei Könige Gold, Weihrauch und Myrrhe; der Engel verzaubert die Nacht mit seiner Schalmei.

Die dreidimensionale Ikone erinnert nicht nur inhaltlich an den andauernden Krieg in der Ukraine, an die vielen Vertriebenen, Flüchtigen, Heimatlosen oder nur unter schwierigsten Bedingungen Überlebenden. Sie ist wie eine Ikonostase für die Reise konstruiert, die in Einzelteilen verpackt und mitgenommen werden kann. Die sorgsam hergestellten Schlitz- und Zapfenverbindungen verdeutlichen, dass sich in der Geburt Jesu alles auf wundersame Weise gefügt und zusammengefunden hat. Jesu Geburt im Keller eines einfachen Mehrfamilienhauses vergegenwärtigt Gottes Kommen und seine bleibende Gegenwart unter schwierigsten Rahmenbedingungen. Gott lässt uns nicht allein. Er ist mit uns unterwegs. Er teilt unsere Armut, Ängste und Bedrohungen. Gott möchte durch seine Menschwerdung auf wunderbare Art und Weise Heil und Frieden in unser Leben bringen. Damals wie heute.

 

Die Krippe von Olya Kravchenko ist bis zum 26. Januar 2025 in der 84. Telgter Krippenkunst Ausstellung “Heller Stern” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.

Sprengkraft Mitmenschlichkeit

Zwei Welten begegnen, durchdringen und ergänzen sich in diesem fünften Bild eines Kreuzweges und werden gleichzeitig durch die Tat der Mitmenschlichkeit im inneren Quadrat gesprengt. In diesem Wechsel von Farben und Formen wird die Bedeutung der Handlung des Simon von Kyrene für damals, heute und über unsere Epoche hinaus als eine grundsätzliche Haltung für alle Zeiten thematisiert: Einander helfen, das Kreuz zu tragen, die mit Lasten Beladenen entlasten, Solidarität zeigen, den Nächsten nicht übersehen, sondern beachten und ihn im Rahmen des Möglichen unterstützen.

Den äußeren Rahmen bildet die Welt und das Weltgeschehen. Dual und gegensätzlich wird die geschaffene Welt links in grau und ihr gegenüber die immaterielle Welt Gottes goldgelb dargestellt. Die senkrechte Teilung, welche gleichsam die Wölbung der Erde aufnimmt, wird durch den schwarzen Keil verstärkt, der von oben auch das innere Quadrat zu spalten versucht. Die festen Klammern verdeutlichen, dass die Umgebungsfaktoren so gut wie keinen persönlichen Handlungsspielraum zulassen und auch keinen Ausweg. Für den Kreuztragenden sieht die Situation trotz der Herrlichkeit Gottes im Hintergrund hoffnungslos aus.

Das innere Quadrat erzählt von der Kraft der Mitmenschlichkeit. Wie durch ein offenes Fenster tritt aus der grauen Anonymität ein Mann hervor, der mit seinem gelben Gewand farblich eine gleiche Gesinnung signalisiert und da ist, wo Hilfe gebraucht wird, um das Kreuz zu tragen. Er fällt ihm nicht in den Rücken, sondern stärkt diesen durch seine Unterstützung. Es geht nicht darum, dass er – wie in der Bibel berichtet – zur Mithilfe gezwungen worden ist (vgl. Mk 15,21), sondern dass er es tatsächlich tut. Damit überschreitet Simon die trennende Grenze und es entsteht etwas ausgleichend Verbindendes wie es in der Berührung der Hände oder auch in der rötlichen, wie ein Herz anmutenden Form zwischen den beiden Protagonisten angedeutet wird.

Jesus selbst steht in gebeugter Haltung frontal dem Betrachter gegenüber. Sein Blick ist gesenkt und führt unter der Kreuzeslast in die Leere. Während sich sein Oberkörper in der rechten Hälfte des inneren, grauen Quadrates befindet, steht er mit stämmigen Beinen vor diesem im goldgelben Bereich, der mit seiner Farbe an die vergoldeten Hintergründe von Ikonen oder auch mittelalterlichen Retabeln denken lässt, die Gottes Gegenwart und Herrlichkeit symbolisieren. Jesus ist mit dem geschulterten Kreuz auf dem Heimweg zum Vater. Mit seiner dynamischen Form deutet das helle Kreuz nicht nur seinen Tod an, sondern durch die weiße, wie ausgespart wirkende Farbe auch seine Auferweckung von den Toten. Es ist letztlich das Kreuz des Heils, welches das innere Quadrat sprengt und gleichsam nach drei Seiten Lebenswege öffnet. Der von Jesus führt zuerst nach unten, in die Tiefen des Todes, um durch sein Sterben Tote und Lebendige zu erlösen und in die Ewigkeit zu führen.

Rätselhaft ragen am rechten Bildrand von oben und unten Doppelspitzen in das Bild. Sie erinnern an Fangzähne von Raubtieren, die ihre Beute damit festhalten. Die Farbe und die Wölbung der Erde aufnehmend und abgeschwächt nach rechts in den geistigen Bereich hinein fortsetzend mögen sie symbolisch für die Soldaten und ihre Waffen als auch für die Drohkulisse der schaulustigen Menge stehen, durch deren Gasse Jesus seinen Kreuzweg gehen musste.

Weil Jesus keine personenspezifischen Attribute trägt, kann er stellvertretend auch für alle Menschen stehen, die unerlöst eine schwere Last – äußerlich oder innerlich – zu tragen haben. Die frontale Darstellung von Jesus fordert dazu auf, wie Simon von Kyrene den Menschen zur Seite zu stehen und ihnen beim Tragen ihrer Last zu helfen. Wir werden sie nicht abnehmen können, aber wir werden die Bedrückten und Belasteten ein Stück ihres Weges begleiten und unterstützen können, sodass ihnen das wie eine Erleichterung beim Tragen ihrer Last vorkommt. Ein derartiges Tun vermag Grenzen zu überwinden und die Mauern zwischen den Menschen zum Einsturz zu bringen.

Ganzer Stationenweg in der röm.-kath. Kirche St. Leodegar, Möhlin (Aargau, Schweiz)

segensreich

Jesus steht als Kleinkind auf dem Schoß seiner Mutter. Von ihr gehalten kann er sich aufrecht und mit weit ausgebreiteten Armen dem Betrachter zeigen. Sein Gewand ist weiß, doch seitlich von den ihn und seine Mutter umgebenden Rosen rot eingefärbt. Die Rosenfülle in diesem lebensfrohen Bild deutet ihre übergroße Liebe an, die rote Farbe verweist aber auch auf das am Kreuz verlorene Blut und Leben. Das Kreuz und der Tod sind hintergründig im Bild gegenwärtig, doch durch seine aufrechte Haltung und das im angedeuteten Heiligenschein leuchtende Gelb stehen seine Auferweckung von den Toten und seine Verherrlichung nach der Heimkehr zum Vater im Vordergrund.

Maria ist in mystischer Zurückhaltung als Quelle des Lebens und des Glaubens dargestellt. Ihre Gestalt tritt in der blau-grünen Ausarbeitung hinter Jesus zurück. Ihr Torso ist jedoch lichterfüllt hervorgehoben als Quelle eines Glaubensstroms, der sich über ihren rechten Oberschenkel schwungvoll nach unten ergießt und dort neues Wachstum ermöglicht. Mit ihrer sitzenden Haltung und Jesus auf dem Schoß tragend bildet Maria die sogenannte „Sedes sapientia“ – den Stuhl der Weisheit. Gleichzeitig weist ihr die Mondsichel unter ihren Füßen auch den Platz der apokalyptischen Frau (Offb 12,1) zu, die ihr Kind dank Gottes Hilfe vor Satan retten konnte.

Still tönt aus dem Bild die Botschaft, die nach diesem Ereignis im Himmel zu hören war: „Jetzt ist er da, der rettende Sieg, die Macht und die Königsherrschaft unseres Gottes und die Vollmacht seines Gesalbten; denn gestürzt wurde der Ankläger unserer Brüder, der sie bei Tag und bei Nacht vor unserem Gott verklagte. Sie haben ihn besiegt durch das Blut des Lammes und durch ihr Wort und ihr Zeugnis. Sie hielten ihr Leben nicht fest, bis hinein in den Tod. Darum jubelt, ihr Himmel und alle, die darin wohnen.“ (Offb 12,10-12)

In der Gottesmutter von Oberschönenfeld klingt wie in den meisten religiösen Arbeiten von Erich Schickling die ganze Heilsgeschichte an. Das biblische Wort ist durch den Künstler Bild geworden. Er lässt die Frohe Botschaft in starken Farben durch das Hinterglasbild dem Betrachter entgegenleuchten und diesen spüren, dass Jesus das Licht und der Retter der Welt ist. Die Darstellung der Gottesmutter ist eine genial verdichtete Momentaufnahme, die kunsthistorisch den berühmten Madonnen im Rosenhaag von Stefan Lochner oder Martin Schongauerin Referenz erweist und doch als eines seiner Schlüsselwerke ganz eigene Wege geht. Nicht Maria steht im Mittelpunkt des Bildes, sondern Jesus, der Gottessohn. In der Art und Weise wie Maria ihren Sohn stützt, weist sie auf ihn hin, als wollte sie wie Gott sagen: „Das ist mein geliebter Sohn, auf ihn sollt ihr hören.“ (vgl. Mt 17,5). Dabei erfährt ihre linke, grüne Hand (der Hoffnung) in der rechten Hand ihres Sohnes eine auffallende Wiederholung und Fortsetzung. Einen Drittel größer als die linke Hand gemalt, lässt sie an die Taten Gottes denken, die er mit starker Hand vollbracht hat. Die rechte Hand ist – auch ohne entsprechenden Gestus – die Segenshand. Jesus umarmt mit seinen ausgebreiteten Armen die ganze Welt, gleichzeitig segnet er freudestrahlend alle, die zu ihm und zum Vater kommen. Seien es die Kinder, die Mühseligen und Beladenen (vgl. Mt 11,28) oder auch die Hungernden und Dürstenden. Ihnen allen schenkt Jesus die Freude: „Ich bin das Brot des Lebens; wer zu mir kommt, wird nie mehr hungern, und wer an mich glaubt, wird nie mehr Durst haben.“ (Joh 6,35)


Zum 100. Geburtstag  ist ein zauberhafter Bildband zu seinem Leben und Wirken erschienen, den ich sehr empfehlen kann: 

Erich Schickling 1924–2012. Werke – Wirken – Licht, Erich-Schickling-Stiftung (Hrsg.), Kunstverlag Josef Fink, 2024, 240 Seiten, 275 Abb., Hardcover 23,5 x 25 cm, 39 Euro, ISBN 978-3-95976-469-8
Rezension

Kraft der Gemeinschaft

Wie aus einem Fenster in großer Höhe schweift der Blick über eine wolkige Farbenlandschaft. Kaum erkennbar und verloren klein verteilen sich Menschenfiguren auf den vier Bildquadraten. In den blau-grauen Weiten stehen sie vereinzelt, im gelben Bereich in Gruppen. Begleitet wird der Farbwechsel durch die Veränderung der Schatten von links oben nach rechts unten: Je einsamer die Menschen in der Landschaft stehen, um so länger sind ihre Schatten, je näher sie zusammenstehen, desto kürzer werden sie oder verschwinden als deren dunkle Begleiter ganz.

In der Bewegung der Gruppierung, der Farben und Schattenbildung kann das Bild in die eine oder in die andere Richtung „gelesen“ werden. Entgegen der gewohnten Leserichtung, also von rechts nach links, stellt die Auflösung der Gruppen eine zunehmende Entfernung, Vereinsamung, Angst und Kälte dar. Das kann als Desinteresse am Nächsten interpretiert werden oder auch als eine Atomisierung der Gesellschaft (Herbert Pietschmann). Die Menschen stehen im linken und oberen Teil des Bildes haltlos im bodenlosen Nirgendwo, während sich rechts die Verortung auf einer Landkarte andeutet.

Von links nach rechts gesehen befinden sich die Menschen im Aufbruch. Sie zeigen zunehmend Interesse aneinander. Je näher sie beieinander und zueinanderstehen, umso wärmer wird die Farbe des Bodens. Die Menschen gewinnen Land unter ihren Füßen und gleichzeitig erhalten sie einen festen Standpunkt. Nicht mehr die Scheingestalt des Schattens nimmt den größten Platz ein, sondern die Person selbst.

Das Bild lässt die Kraft der Gemeinschaft für unser Leben und Wohlergehen spüren. Es ist ein Plädoyer, den Nächsten in und mit seiner Position stehenzulassen, eine andere Meinung zu akzeptieren und darin einen Anlass für einen konstruktiven Austausch zu sehen. Doch was ist die Voraussetzung dafür, um sich auch mit unterschiedlichen Standpunkten und Meinungen „stehenlassen“ zu können? Das Fensterkreuz deutet an, dass es über die Standpunkte und Meinungen hinaus noch etwas Größeres und Übergeordnetes geben muss, das trotz aller Differenzen verbindet und in dem alle eins sind. Gibt es das nicht, werden die Differenzen absolut und die Distanz zwischen den Menschen unüberbrückbar.

Den Ursprung des gemeinschaftlichen Geistes verorten die biblischen Texte in Gott. Deshalb kann Jesus dem Gesetzeslehrer auf seine Frage, was er für das ewige Leben tun muss, antworten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Lk 10,27) Diese bedingungslose und unsere ganze Existenz durchdringende und umfassende Liebe zu Gott ist die Grundlage unserer Liebe zu den Mitmenschen und nicht zuletzt zu uns selbst. Sie macht die Kraft und die Größe einer Gemeinschaft aus. Im Bild werfen die Menschen keine dunklen Schatten mehr, weil Gott selbst ihr Licht ist (vgl. Offb 22,5) und das „Reich Gottes“ auf diese Weise schon hier und heute beginnen kann.

Zwischen Jammertal und himmlischer Aussicht

Vertraute Objekte schweben in einer raumlosen Weite, die gedanklich über die Wolken oder in Traumwelten entführt. Bis auf den zentralen Stuhl sind sie alle schattenlos und verweisen damit auf geistig-seelische Räume unserer Gedanken.

Zwei weiße Rahmen suggerieren eine Wandfläche, doch öffnen sie vielmehr wie zwei Augen Ausblicke und Rückblicke. Sie regen zur aufmerksamen Betrachtung der Außen- und Innenwelt an, der sorgfältigen Unterscheidung zwischen Realität und Traum, Erinnerung und Vorstellung. Das linke Rechteck ist als Kippfenster gestaltet und ermöglicht mit dem Baum und dem Horizont einen Blick in die reale Welt mit ihrem Wachsen, Blühen und Vergehen. Der Ausblick zeigt eine rosarote Welt, die doch vom Kampf um die Existenz und um Freiheit gezeichnet ist.

Das Rechteck am anderen Bildrand ist als Rahmen gemalt. Das Bild zeigt den gleichen Hintergrund wie die Umgebung, allerdings etwas heller. Der Hund und das Metallgeländer darüber ragen in das Bild hinein, während das Mädchen als drittes Bildelement ihm nach oben entschwebt. Mit dem Angeschnittenen oder Fragmentarischen wird ein Kommen und Gehen symbolisiert und Vergänglichkeit thematisiert. Nichts bleibt für immer.

Der leere Stuhl in der Mitte lädt ein, sich darauf zu setzen, innezuhalten und das Leben zu betrachten: sich selbst und sein Umfeld, die Vergangenheit und die Gegenwart, die Licht- und die Schattenseiten des Lebens. Im Licht, das von hinten durch die rosaroten Wolken fällt, werden die vielen Durchkreuzungen sichtbar und Beleuchtungs- oder Betrachtungsweisen bewusst gemacht. Die bunte Erinnerungsbox darunter lädt ihrerseits ein, die gesammelten Erlebnisse liebevoll in ihr abzulegen, um Freiheit für Neues zu gewinnen: federleicht in neue Sphären zu entschweben oder einen neuen Begleiter im Leben zuzulassen, wie das Bild daneben suggeriert.

Der auf einer Schattenkonstruktion stehende Stuhl wirkt instabil wie das Leben. So könnte er ein Anlass sein, über die Grundlagen des eigenen Lebens zu reflektieren und zu überlegen: Was gibt mir Halt? Auf welchem Boden stehe ich?

Christlich-theologisch möchte man dem sich Fragenden, Sinnenden und Suchenden die Empfehlung Jesu mit auf den Weg geben, ihm, Jesus, zu vertrauen und seinem Wort zu folgen. Dann sei sein Haus auf festen Fels und eben nicht auf beweglichen Sand gebaut und könne allen Stürmen des Lebens standhalten (vgl. Mt 7,24-27). Der Apostel Paulus gibt seiner Glaubens- und Lebensbasis im Brief an die Römer Ausdruck: „Denn ich bin gewiss: Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges noch Gewalten, weder Höhe oder Tiefe noch irgendeine andere Kreatur können uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn.“ (Röm 8,38-39) Paulus will uns damit sagen, dass in der Vergänglichkeit unseres Erdendaseins, in der Instabilität aller Beziehungen durch das ständige Werden und Vergehen, Kommen und Gehen nur eine höhere Macht, Halt und Lebensmut geben kann: die Liebe Gottes. Die Liebe Gottes ist größer als alle Mächte und Gewalten dieser Schöpfung, sie steht über der Zeit und gibt uns Leben in Ewigkeit.

Traurige Leere

Das Porträt einer jungen Frau ist in vielerlei Hinsicht ungewöhnlich. In einem knapp bemessenen Bildausschnitt nimmt der Kopf mit der angeschnittenen Schulter fast den ganzen Raum ein. Allein am linken Bildrand führt eine stimmungsvolle Landschaft in perfekt gemaltem Sfumato bis zum Horizont und darüber hinaus in den bedeckten, die Farbtöne des Inkarnats aufnehmenden Himmel. Der aufsteigende Hügelrücken lenkt den Blick zu den Augen und weiter auf das von einer Haarsträhne verdeckte Ohr. Von den wässrig traurigen Augen fließen fünf Tränen über die feinschattierte Haut ihrer Wangen. Eine weitere Träne hängt kurz vor dem Abtropfen am Kinn. Die unendlich traurigen Augen blicken haltlos in die Leere. Die Tränen und der leere Blick deuten auf ein schwerwiegendes, unbegreifliches Geschehen, das die junge Frau miterlebt hat und nun irgendwie zu verstehen oder zu verarbeiten versucht.

Die feinen Gesichtszüge und der blaue Strickpulli versetzen die Frau in unsere Zeit. Doch gleichzeitig erinnern das Blau und die geneigte Kopfhaltung an Maria. Altmeisterlich gemalt und doch zeitgenössisch gegenwärtig wirkend ist sie zweifach von ihrem Sohn gezeichnet. Die vom Mittelscheitel aus gleichmäßig das Gesicht rahmenden Haare lassen zum einen Herz Jesu-Darstellungen vom Ende des 19. Jahrhunderts anklingen. Zum anderen bildet die Aufhellung am Horizont mit der rechtwinklig dazu verlaufenden Linie „Scheitel-Nase-Mund-Hals eine unauffällige Kreuzform. Damit erhält das unfassbare Geschehen der Kreuzigung und des Sterbens Jesu ein Gesicht. Ja, sein Leiden und Sterben haben sich in das Gesicht der jugendlichen Maria eingeschrieben. Jesu Leiden leuchtet in unserem Leiden auf, in unseren Dunkelheiten und Einsamkeiten. Die weinende Frau steht für alle Menschen, die unter schrecklichen Umständen jemanden verloren haben, insbesondere Mütter, die ihre Kinder wegen der Gewalttaten anderer verlieren oder generell geliebte Menschen loslassen müssen.

Der Leipziger Maler Leif Borges hat das Bildnis durch den Titel „Was dancing with tears in my eyes“ (Ich habe mit Tränen in meinen Augen getanzt) zudem mit einem Song der britischen Band Ultravox aus dem Jahre 1984 verknüpft, der das Weinen über die Erinnerung an ein vergangenes Leben bei einer nuklearen Katastrophe zum Inhalt hat: „Dancing with Tears in My Eyes“.  Von der dunklen Wolke überschattet, die Last der alles vernichtenden Katastrophe auf ihren Schultern tragend, leuchtet die Schönheit der menschlichen Kreatur auf, gezeichnet vom Kreuz des 20. und 21. Jahrhunderts, dem unerträglichen Licht und den zerstörenden Strahlen der Atombombe. Der traurige Blick der Frau nimmt die traurige Leere danach vorweg. Ihr Blick lässt die unfassbare Leere in ihrem Innern spüren, das Leid des unendlichen Verlustes des und der Liebsten.

Trotzdem wirkt das Bild nicht zwangsläufig trostlos. Denn in der zarten Farbigkeit des Bildnisses, dem in allen Details wunderschön wiedergegebenen Frauengesicht und der im Kontrast dazu weichen Landschaft leuchtet eine schöpferische Schönheit mit lebensverändernder Kraft auf. In den Anklängen an Maria und Jesus verschwimmen die Grenzen zwischen Bild und Realität und öffnen sich Zugänge zu diesen beiden menschlichen Ur- und Vorbildern. Gerade weil Jesus und Maria so viel durchgemacht haben, vermögen sie in allen das Leben durchkreuzenden, bedrohenden und vernichtenden Situationen Halt und Trost zu schenken. Sie lassen spüren, dass man nicht allein ist – im Begreifen dieses Geschehens als auch im Wissen, dass danach Ostern kommt. „Siehe, ich bin mit euch alle Tage bis zum Ende der Welt,“ sind Jesu Schlussworte im Matthäusevangelium (28,20b).

Bereit

Ein Umzugskarton als Bild mag erstaunen. Da wird ein fast alltäglicher Gegenstand auf einzigartige Weise hervorgehoben. Der fotorealistisch gemalte Karton, ein an sich billiges Material, wird hier kostbar. Denn die Kartonhülle wird zum Bildinhalt, der Außenseiter zum Protagonisten, der leere Karton mit den vier Klappen zum Bildraum füllenden Kreuz. So strahlt der Umzugskarton eine erhabene Tiefe und Größe aus, die tief blicken lässt.

Einladend leer und offen präsentiert sich die Box dem Betrachter. Bereit, befüllt zu werden mit Inhalt, mit Gegenständen, die für uns von Bedeutung sind und damit einen bedeutungsschweren Inhalt haben. Was ist mir wichtig? Was werde ich bei jedem Umzug mit mir nehmen? Wer viele Kartons und viel Platz zur Verfügung hat, muss sich nicht groß entscheiden und kann so gut wie alles mitnehmen.

Ganz anders sieht es aus, wenn ich nur den Inhalt eines Umzugskartons mitnehmen dürfte. Ich müsste mich extrem beschränken und sehr vieles loslassen, das ich im Laufe der Jahre gesammelt und liebgewonnen habe. Ich müsste mich auf das Allerwichtigste und -nötigste konzentrieren und diesbezüglich gut abwägen, was ich brauchen werde. Früher habe ich solche gedanklichen Herausforderungen als unnötig und unrealistisch abgetan, aber heute sieht es anders aus angesichts der größer werdenden Bedrohung und Kriegsgefahr, die unter Umständen zur Flucht veranlassen.

Die Kreuzform des Kartons und der leere Innenraum lassen die Gedanken noch weiter schweifen. Ist nicht jeder Umzug ein Einüben auf den letzten Weg und Ortswechsel, bei dem wir nichts Materielles mitnehmen können, nicht einmal unseren Körper? Machen wir in unserem Erdenleben nicht öfters die Erfahrung, dass wir nie alles von einem Ort zum anderen mitnehmen können? Fast immer müssen wir schweren Herzens etwas von uns zurücklassen. Vielleicht machen wir auch die positive Erfahrung, dass das Entsorgte uns nicht mehr beschäftigt oder Sorgen bereitet und dadurch Raum zum Atmen, neuer Bewegungs- und Lebensraum entsteht. Denn Leere muss nicht leer sein, sondern sie beinhaltet Freiraum als Voraussetzung für Bewegung und Leben.

Der leere Karton weist darauf hin, dass wir beim letzten Lebensweg nichts mitnehmen können! Bedeutet das, dass der Karton leer bleibt oder bleiben muss? Ich glaube, dass das Gegenteil der Fall ist. Der „Karton“ wird sogar voller persönlicher und einzigartiger Kostbarkeiten sein, die wir im Laufe unseres Lebens gesammelt haben. Diese immateriellen Güter wie unseren Glauben, unsere Hoffnung, Liebe und Freude, unseren Frieden und unser Glück werden uns unsichtbar überall hin begleiten und in allen Herausforderungen stärken. Das Schöne an ihnen ist, dass sie nicht gepackt werden müssen, dass sie nicht belasten und trotz ihrer unfassbaren Größe leicht zu tragen sind. Mit ihnen ist man jederzeit bereit umzuziehen.

Arbeiten von René Wirths und Sven Drühl sind bis 14. April 2024 in der Gemeinschaftsausstellung  „Jenseits der Realität“ im Kunsthaus Kaufbeuren (Allgäu) zu sehen.

Liebesbeweis

In Paris gibt es am Montmartre nahe der Place des Abbesses eine künstlerisch gestaltete Mauer, die ganz der Liebe gewidmet ist. Die Liebeserklärung par excellence ist hier in 311 handschriftlich individuellen Varianten in 250 Sprachen und Dialekten wiedergegeben. Von 1992 an sammelte der Sänger Frédéric Baron mit seinem Bruder in der ganzen Welt den Schriftzug „Ich liebe dich“, um dann die Kalligraphin Claire Kito zu beauftragen, die gesammelten Versionen künstlerisch zu bearbeiten und sie zu arrangieren. So entstand im Jahre 2000 „Le mur des je t’aime“ – die „Ich-liebe-dich-Mauer“. Die Kacheln im A4-Format erinnern an die damals noch analog auf A4-Papier gesammelten Schriftzüge. Die eingestreuten roten Farbflecken sollen Stücke gebrochener Herzen darstellen und der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass die zersplitterte Menschheit durch die Kraft der Liebe wieder vereint werde (Quelle: Wikipedia).

Ein Ausschnitt dieser 40 m2 großen Mauer wurde in dem Moment fotografiert, als eine Frau in orangerotem Mantel und weißer Mütze darunter vorbeilief und sich genau zwischen drei roten Fragmenten befand. Der in der Unschärfe der Frau wiedergegebene flüchtige Moment ist ein Zeichen der Zeit. Der universelle Satz „Ich liebe dich“ findet so in einem manifesten Individuum eine konkrete menschliche Gestalt und es entsteht ein Dialog zwischen den vielen Liebeserklärungen und der einen Frau. In welcher Sprache hat sie wohl einem Mitmenschen gesagt, dass sie ihn liebt? Ist sie glücklich verliebt oder trägt sie den Schmerz und die Wunden einer zerbrochenen Liebe in sich? Die zwischen den weißen Schriftzügen eingestreuten roten Farbpunkte können von der Frau ausgehender Ausdruck hochfliegender Gefühle als auch Fragmente einer zerbrochenen Liebe sein. Ob sie die vielen Liebesbekundungen aus aller Welt vorübereilend – en passant – überhaupt wahrnimmt oder sie sogar auf sich bezieht und sich so in diesem Moment geliebt fühlt?

Den auf dieser Wand versammelten Liebesäußerungen wohnt eine gewaltige Kraft inne. So unterschiedlich die berühmten drei Worte in den verschiedenen Sprachen auch lauten, sie bringen einen Menschheitssatz zum Ausdruck, das menschliche Grundbedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Die Liebe ist so weit und tiefgründig, so unerschöpflich und geheimnisvoll wie der Ozean, den die tiefblau glasierten Kacheln andeuten. Wobei das Bild mit dem Meer beides andeutet: überschäumende Freude, grenzenlose Weite, tiefe Sehnsucht, absolutes Lebenselixier, … aber eben auch seine Unberechenbarkeit: unfassbare Kraft und Gewalt, grundlose Tiefe, bedrohliche Gefahr.

Neben der Liebe zwischen Menschen können die Liebesbotschaften auch aus zwei weiteren Perspektiven gesehen werden: Zum einen als Liebeserklärung Gottes an uns Menschen, die Gott nicht nur in allen Sprachen und Dialekten dieser Welt zu uns spricht, sondern auf einzigartige und individuelle Weise zu jedem Einzelnen. Gottes Liebe ist die Quelle unserer Liebe: „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen.“ (1 Joh 4,16) Unsere Gott antwortende Liebe ist die dritte Sichtweise, denn, wer Gott liebt wird auch zu ihm sagen können: „Ich liebe dich“. Für den Autor des ersten Johannesbriefes ist diese Liebe untrennbar mit dem Respekt und der Liebe zu allen Menschen verbunden: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder [= seinen Mitmenschen] hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.“ (1 Joh 4,20)

So mag der tiefblaue Hintergrund auch andeuten, dass unsere Liebe zueinander von einem unbeschreiblich Größeren, Transzendenten oder eben von Gott gehalten wird und aus der starken Bindung an IHN hervorgeht. Die weißen Schriftzüge vermitteln die Liebe als etwas Positives und Lichtvolles, das jeder dem anderen schenken kann.

Beim Nachdenken über die Bedeutung der Aussage „Ich liebe dich“ wird klar, dass die Liebe eine gewaltige Kraft ist, welche Menschen verbindet und ihre Lebensbedingungen positiv beeinflusst und zum Guten zu verändern vermag. „Ich liebe dich“ ist eine Ich-Botschaft, bei der das Du im Mittelpunkt steht. „Ich liebe dich“ bringt ein Gefühl zum Ausdruck, ein Hingezogen-Sein zum anderen, ist aber darüber hinaus auch eine Haltung der Wertschätzung und des Respekts, der Fürsorge und des Schutzes. „Ich liebe dich“ heißt in den Alltag übersetzt: Ich mag dich, ich bin froh, ja glücklich, dass es dich gibt, dass du da bist. Und weil du mir viel bedeutest, suche ich deine Nähe und möchte so viel wie möglich mit dir teilen, ich will für dich sorgen und darauf achten, dass dir nichts passiert. Dieser liebevolle Blick mit einem offenen Herzen erkennt wesentlich mehr als die sichtbare Gegenwart des Geliebten. In der Liebe nehme ich den anderen in der Tiefe und in allen Dimensionen wahr und an. Die Liebe das Herz, so dass ich über den oder die Geliebten im unmittelbaren Umfeld hinaus auch „Ich liebe dich“ zu allen Menschen meiner Zeit sagen kann. Ganz im Wissen, dass wir als Weltgemeinschaft voneinander abhängig sind und dass ihr Wohlbefinden auch mein Glück bedeutet. Wo wir einander im Respekt der Liebe begegnen, wird nicht nur Paris eine „Stadt der Liebe“ sein, sondern die ganze Erde zu einer „Welt der Liebe“ werden.

 

Diese Fotografie ist wiedergegeben im Katalog WRITTEN ON THE WALLS, 2023, 96 Seiten, 50 Fotografien. ISBN: 978-3-910311-05-3. Mit Textbeiträgen von Nora Gomringer, Claudio Ettl, Walter Leimeier, Hans-Walter Ruckenbauer und Ludger Verst. Der Katalog kostet 18,00 EUR und kann beim Künstler bezogen werden: mail@manfred-koch-fotografie.de.
Hier können Sie einen Blick in den Katalog werfen (PDF)

Singend Gott loben

Die Nahaufnahme dieses Banjo-Spielers lässt die Inbrunst spüren, mit der er sein Instrument zum Klingen bringt. Übergroß sind seine Hände, es geht nicht um die Anatomie, es geht um das Gefühl, die Emotionen, um die Beseeltheit.

Er sitzt am Boden und doch suggeriert der blau-weiße Hintergrund ein Schweben im Himmel. Er befindet sich in einer anderen Welt: vertieft, versunken, in kontemplativer Konzentration nach innen. Obwohl er eingezwängt ist in sein Format, schallt seine Musik, wie es die differenzierten Farben andeuten, traurig-schön nach draußen.

Sein Körper ist kubisch angelegt, Fragmente, die zusammen ein Ganzes geben. Der Oberkörper ist mit den Armen auf ein irdisches Rechteck reduziert, auf dem der haarlose Kopf mit den großen, traurigen, aber auch staunenden Augen aufliegt. In ihnen scheint sich das tiefe, blaue Meer zu spiegeln. So wie der Kopf lauschend dem Banjo zugeneigt ist, weisen die beiden spitzen Fußsohlen nach oben. Damit liegt die Aufmerksamkeit auf dem Saiteninstrument und der Hand, die sich kontrastreich auf der weißen Trommel abzeichnet.

Der helle, runde Resonanzkörper des Banjos bringt unaufdringlich Gott ins Spiel. Das endlose Rund als auch die weiße Farbe sind beides Symbole für Gott. So vermittelt das Bild den Eindruck, dass der Musiker Gott zum Klingen bringt mit seinem Saiteninstrument und mit seiner Stimme. Er ist einfach da und geht auf in seinem spielerischen Tun und dem Ausdruck der innigen Verbundenheit mit den vibrierenden Tönen und Worten. Was er wohl spielt? Was er dazu singt? Das Bild verrät es nicht. Spontan erklingt in mir das Lied „Ich lobe meinen Gott“ aus dem Evangelischen Gesangbuch Nummer 272:

Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen.
Erzählen will ich von all seinen Wundern und singen seinen Namen.
Ich lobe meinen Gott von ganzem Herzen.
Ich freue mich und bin fröhlich, Herr, in dir. Halleluja!
Ich freue mich und bin fröhlich, Herr, in dir. Halleluja!

Singen befreit und erfreut. Gott singend und spielend zu loben verbindet Himmel und Erde (Symbolisch dargestellt durch das Viereck des Oberkörpers und das Rund des Banjos) und es vermag den vom Singen und Spielen Ergriffenen zum Schweben zu bringen. So kann der Banjo-Spieler eine Einladung sein, sein Gebet spielend und singend vor Gott zu bringen. Ganz nach dem geflügelten Wort des Heiligen Augustinus: „Wer singt, betet doppelt“ – wer dazu noch spielt, betet dreifach!

Ins Zeitliche geboren

Das Wunder der Geburt geschieht in der liebenden Zuneigung der Eltern. Sie bilden in ihrer knienden und demütig sich vor dem Kind verneigenden Haltung eine bergende Krippe und ein beschützendes Haus. Der Freiraum zwischen Mutter und Vater ist des Kindes erster Lebensraum in der neuen Welt. Er erscheint als grauer Alltag. Die kurzlebige Tageszeitung als Hintergrund verortet die Geburt an einem bestimmten Tag und in der Armut der Obdachlosen, die Zeitungen als Isolation auf den Boden legen oder sich damit zudecken. Nur die Eltern können die lebensnotwendige Wärme schenken, die das Kind braucht.

Die drei Personen sind hauptsächlich durch die schwarzen, skizzenhaften Konturen definiert. Die sparsam verwendeten Farben deuten mit den braunen Farbtönen links Josef an, die rötlichen Farbspuren verweisen auf Maria und das lichte Gelb lässt das Göttliche im Kind aufleuchten. Jesus ist auf Zeitungen gebettet und in sie gewickelt.

Der Glanz der Heiligen Nacht entfaltet sich um das traute Paar herum. Die gelben Lichtblitze erhellen den Himmel und lassen gleichzeitig an die Engel der himmlischen Chöre denken. Am Boden verdichtet sich das himmlische Licht mit dem irdischen Stroh zu einer wahren Lichtflut, die warm und froh die Kunde der Geburt Gottes über die ganze Erde verbreitet.

Nun sind es nicht die Zeitungen, welche die Nachricht in alle Welt hinaustragen, sondern das Licht selbst, das im Denken, Sprechen und Handeln der Menschen vom Gottessohn kündet. Denn das Kind ist nicht arm, sondern reich an Liebe und Macht, um in allen Menschen den Glauben an Gott zu entzünden und in der Liebe zueinander zum Brennen zu bringen.

Licht in der Nacht

Menschenleer und nächtlich still präsentiert sich die Raum-Landschaft. Die Behausungen lassen des Menschen Werk spüren, ihn aber nicht sehen. So wirkt die Leere geheimnisvoll und lässt die Raumhüllen für sich sprechen.

Ein quaderförmig gemauertes Gebäude dominiert die linke Seite des Querformates. Der nach vorne offene, bildhohe Innenraum wirkt groß und palastartig. Die Wände sind grünlich-blau, wobei vorne links die Gesetze der räumlichen Wahrnehmung ausgehebelt werden. Die Decke ist schwarz wie die Dunkelheit, die über der hellen Landschaft und Außenwand liegt. Die Farbe des braunen Bodens zieht sich in der Türöffnung links nach oben, so dass nicht klar ist, ob die Türe die gleiche Farbe hat oder der Boden hinter der Türe unendlich weitergeht. Das erdige Braun signalisiert einen fruchtbaren Boden, das Grün der Wände Wachstum und Hoffnung. Alles ist bereit, um zu empfangen, aufzunehmen und mit Leben zu füllen. Verstärkt durch das seitliche Fenster bleibt es ein Raum der Sehnsucht und der Erwartung. Die umgekehrte Perspektive vergrößert diesen Raumeindruck nach hinten und führt über die Seitenwand vom Vordergrund in die Bildmitte und -tiefe.

Das Holzhaus mit Satteldach steht klein und unscheinbar neben seinem großen Nachbar im freien Feld. Ohne sichtbare Fenster und Türen erscheint es als einfache Feldscheune. Doch der Lichtpfeil im schwarzen Hintergrund weist eindeutig auf die ärmliche Hütte als Ort des Geschehens. Der die dunkle Nacht spaltende Lichtkeil reißt nicht nur die Himmel auf, er lässt auch das durch die Bretterritzen schimmernde Licht im Innern der Hütte wahrnehmen. So wie die Stirnwand der Scheune erwartungsvoll nach oben weist, zeigt der Lichtspalt erfüllend nach unten auf den verborgenen Glanz im Innern. Wenn man sich das dreieckige Licht als unterste Spitze eines vielfach größeren Sterns vorstellt, dann lässt das überwältigende Himmelszeichen noch mehr ahnen, was für ein bedeutungsvolles Ereignis in dieser bescheidenen Behausung gerade stattfindet.

Das Bild lädt ein, einengende und leer gewordene Räume zu verlassen und uns wie die Weisen aus dem Osten dem Licht folgend auf die Suche nach Jesus zu begeben. Es fordert auf, unsere kleinformatigen Vorstellungen immer wieder über Bord zu werfen, weil Gott anders und größer denkt und handelt als wir. Es ermutigt, den Blick zu heben, aufzuschauen und das Licht zu sehen. Hier ist Bethlehem, das Haus des Brotes, das Haus des Lebens. In die bescheidene Hütte ergießt sich die Fülle des Lichts, des Lebens (Mi 5,1) und des Heils. Der palastähnliche große Raum bleibt leer (vgl. Lk 1,53). Diese beiden Sinnbilder dürfen wir uns zu Herzen nehmen: Gott ist uns gerade in den größten Dunkelheiten nahe. Und er liebt es, im Kleinen und Unscheinbaren geboren zu werden und da zu sein.

Raum voller Erwartung

Ein abgewinkelter großer Raum ist sparsam mit einem Bett, einem einfachen Tisch und zwei Stühlen bestückt. Durch die vier Möbelstücke wird der Raum zu einem Ort der Begegnung und des Austausches. Doch der Raum ist menschenleer. Er erinnert an die Zeit der Covid19-Pandemie, in der direkte und persönliche Begegnungen untersagt wurden, um Ansteckungen zu vermeiden. Der Kommunikationsort vereinsamte und blieb dadurch „ohne Sprache“, wie die Künstlerin das Bild benannt hat.

Doch das Bild ist keineswegs sprachlos. Es wirkt durch seine stillen vierbeinigen Akteure als auch durch das Wechselspiel von Schatten und Licht. Die leeren Stühle sind zwar nicht besetzt, aber durch ihre Zuwendung erscheinen sie wie miteinander im Dialog. Als außenstehender Betrachter meint man sie sprechen zu hören. Ob sie vom Licht sprechen, das hinter ihnen an der Wand aufleuchtet und sich darunter in der Sitzschale des einen Stuhls spiegelt? Dieser ordentlich an den Tisch angeschobene Stuhl lässt auf den zweiten Blick feststellen, dass der andere Stuhl einladend weggedreht ist.

Vorerst ist es nur das Licht, das durch die Fenster von rechts oben den Raum besucht. Wie zwei abstrakte Bilder projiziert es große Rhomben auf die Wand hinter der Sitzgruppe und hellt den halbdunklen Raum in der vorderen Hälfte auf. Der größte Helligkeitskontrast entsteht an der Außenecke im Übergang zum Korridor, der nach hinten in die absolute Dunkelheit führt. Gleichsam als Gegenüber zum Hell-Dunkel-Kontrast kann die geschlossene Türe im Hintergrund als Pendant zum lichtdurchlässigen Fenster auf der rechten Seite gesehen werden.

Das fotorealistisch gemalte Bild lässt durch seine geheimnisvolle Stimmung vielfache Assoziationsmöglichkeiten und unterschiedliche Sichtweisen zu. Es kann einfach als Wartezimmer oder Pausenraum gesehen werden, in dem das Licht still und geheimnisvoll mit dem Raum und den wenigen Möbelstücken spielt. Andererseits belebt gerade dieser flüchtig vorüberziehende Lichteinfall die Stille des Raumes. Für jene, die das Licht sehen und wahrnehmen, könnte der Moment – mit Heidegger gesprochen – zu einer „Lichtung des Lebens“ werden. Es ist der Einbruch einer anderen Wirklichkeit in die irdische Wahrnehmbarkeit. Aber im Gegensatz zu Platons Höhlengleichnis muss der Mensch nicht aus dem Dunkel ins Licht hinaufsteigen, sondern das Licht kommt zum Menschen. Das Licht besucht gleichsam die menschliche Behausung, seine Leere ergründend, das Mobiliar umspielend, den Menschen suchend. Es ist ein Licht, das den Raum gleichsam fragend abtastet, ob da jemand ist, der für das Licht empfänglich ist.

So zentral wie das Licht und das Mobiliar inszeniert sind, wäre es ein zum beginnenden Advent passendes Gedankenspiel, im Bild eine in die heutige Zeit versetzte Verkündigungsszene zu sehen. Geheimnisvoll vergeistigt liegt die Botschaft in der Stille des Raumes, in der symbolischen Bildsprache wortlos das Unfassbare zum Ausdruck bringend. Die beiden Stühle laden förmlich dazu ein, sie gedanklich mit Maria und dem Engel zu „besetzen“ – wobei es offen bleibt, wer auf welchem Stuhl sitzt.

Auf der persönlichen Ebene weiter gedacht könnte das Bild dann eine Anfrage an mich als Betrachter sein, ob ich im Innern bereit bin, das göttliche Licht zu empfangen und wie Maria mit ihm „schwanger zu werden“, um es dann für alle sichtbar als Licht-Gestalt „zur Welt zu bringen“. Es könnte insbesondere eine Einladung sein, mich an IHN zu wenden mit der Bitte, mit seinem Licht meine Gedanken zu erhellen und mir zur richtigen Zeit sein Wort zu schenken, das meine Sprachlosigkeiten überwindet.

Wurzeln des Lebens

Herbstlich leuchten die Farben rund um die knorrigen Stämme und Äste dieses Baumes. Die dichte Krone ist mehrheitlich noch grün, doch einzelne Bereiche haben sich bereits kastanienbraun und weinrot gefärbt. Am Boden finden sich die gleichen Farben in den heruntergefallenen Blättern wieder, angereichert mit den Gelb- und Orangetönen aus dem Zwischenbereich.

Denn zwischen und seitlich der Stämme flutet von hinten warmes, gelbes Licht in das Bild, die Silhouette der Hölzer hervorhebend, die Krone erhebend, die Blätter am Boden erleuchtend. Die Verwandlung lässt die beiden Bäume tanzen, so dass sie auch wie ein sich einander zuneigendes, sich umarmendes Paar wirken. Von innen her leuchtend, nach außen hin strahlend. Die innere Glut lässt sie zu einer Einheit werden und ungeachtet der gebogenen Stämme Stärke und Stabilität ausstrahlen.

Verborgen im Bild bleiben die Wurzeln, welche die Bäume mit Lebenskraft versorgen und ihnen Halt geben. Sie sind entscheidend für die Aufnahme der Lebenswerte aus der Umgebung: dem Boden, der Luft, der umstehenden Vegetation. Dynamisch fließt die Energie durch die bizarren Stämme von den Wurzeln in die Krone.

Durch den Titel „Wurzeln des Lebens“ stellen sich die Fragen nach unseren Wurzeln, welche das Leben im Ganzen, aber auch unser ganz individuelles Leben ausmachen. Auf welche Art und Weise nehmen wir neben dem täglichen Essen und Trinken Lebensmittel und -werte zu uns, welche uns aufblühen lassen, die unser Leben stark machen und mit denen wir anderen Halt geben können?

Es geht nicht nur um die Kraft- und Lebensquellen, sondern um die Fähigkeiten, zu diesen zu gelangen, sie für uns zu erschließen und sie in Lebensenergie zu wandeln. Als Verbindungen nach außen graben sich Wurzeln in den Untergrund oder in unbekannte Gebiete vor auf der Suche nach Nahrungsmitteln aller Art. Je besser der Baum oder das Lebewesen dann vernetzt ist, desto besser ist seine Lebensqualität in guten Zeiten und seine Überlebenschance in schlechten Zeiten.

Das tief zwischen den Stämmen durchbrechende Licht erinnert an die ersten Strahlen der kraftvollen Morgensonne, das als Schöpfungslicht den Tag vollends zum Leben erweckt. Es macht auf die immateriellen Werte aufmerksam, die wir zum Leben brauchen. So wie Jesus sagt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“ (Mt 4,4) Sein Wort bringt Licht in unsere Dunkelheit, es ist Zuspruch, Halt, Freude, Leben und vieles mehr. Jedes gute Wort motiviert, stärkt, belebt, verbindet. Deshalb sollen wir unser Herz und unseren Geist für es offen halten und danach dürsten.

Die Bäume von Bernd Zimmer sind bis zum 27. Januar 2024 in der gleichnamigen Ausstellung in der Galerie Thomas in München zu sehen.

 

Durchgefallen

Fallende Marienfiguren: Von irgendwoher nach irgendwohin. Vor oder unter einem cyanblauen Himmel. Mutter mit Kind im Taumel. Weder Jesus noch zum Gebet gefaltete oder andere segnende Hände vermögen einen Halt zu geben. Eine Statue nach der anderen fällt im luftleeren Raum des Dazwischens. Noch sind die Figuren ganz, doch irgendwann werden sie aufschlagen und in viele Stücke zerspringen.

Verlangende, haltsuchende Arme und Hände kreuzen die vertikale Fallbewegung. Es sind anonyme Greifarme, welche versuchen einer der Marienfiguren in der Bildmitte habhaft zu werden. Sie zu halten, festzuhalten, behalten zu können. Doch die Figuren scheinen den kraftlosen Händen schon nach kurzer Zeit zu entgleiten und ihren Fall fortzusetzen.

Ein Bild des Elends!

Auf der horizontalen, irdischen Ebene die vom Leben gebeutelten Arme, die nach Zuwendung, Leben, Liebe und Nahrung hungern, die Nackten, die keine Kleider und kein Hab und Gut haben, die Heimatlosen, Vertriebenen, die nach Halt und Geborgenheit, einem Ort zum Leben suchen.

Auf der vertikalen Achse die Himmel und Erde verbindende Vertreterin der Katholischen Kirche in vielen Ausführungen: Maria. Sie steht für Religion und Spiritualität. Sie ist durch ihren Glauben und ihr Da-Sein für Jesus und die Gläubigen ein hervorragendes Vorbild für die Christen.

Aber weder ihr Angebot noch das der Kirche(n) scheint zu greifen. Kein Handschlag kommt zustande, kein Begreifen, Zugreifen, Festhalten. Die Kirchenvertreterin und mit ihr symbolisch alle Kirchenvertreter fallen durch. Noch sind die Figuren makellos. Doch was passiert, wenn sie aufschlagen?

Ein Kreuz!

Auf der einen Seite das ungesättigte Verlangen der unzähligen, namenlosen Arme. Auf der anderen Seite das über Jahrhunderte tradierte Angebot der Kirchen, das bei vielen Menschen immer weniger ankommt, weil es nicht mehr den Bedürfnissen unserer Zeit entspricht.

Die Kirche wird im Bild durch die vom Sockel gestoßenen Marienstatuen als kalt, versteinert, bewegungslos und handlungsunfähig dargestellt. Ein kritisches Bild, das anfragt, wie die Kirche mit ihrer Haltung und ihrer Theologie Antworten auf die heutigen Fragen und Bedürfnisse geben kann, damit ihre Worte und Handlungen bei den Heilsuchenden und allen sich nach Lebensfülle Sehnenden wieder ankommen, greifen und eine feste Verbindung mit Gott schaffen.