Raum voller Erwartung

Ein abgewinkelter großer Raum ist sparsam mit einem Bett, einem einfachen Tisch und zwei Stühlen bestückt. Durch die vier Möbelstücke wird der Raum zu einem Ort der Begegnung und des Austausches. Doch der Raum ist menschenleer. Er erinnert an die Zeit der Covid19-Pandemie, in der direkte und persönliche Begegnungen untersagt wurden, um Ansteckungen zu vermeiden. Der Kommunikationsort vereinsamte und blieb dadurch „ohne Sprache“, wie die Künstlerin das Bild benannt hat.

Doch das Bild ist keineswegs sprachlos. Es wirkt durch seine stillen vierbeinigen Akteure als auch durch das Wechselspiel von Schatten und Licht. Die leeren Stühle sind zwar nicht besetzt, aber durch ihre Zuwendung erscheinen sie wie miteinander im Dialog. Als außenstehender Betrachter meint man sie sprechen zu hören. Ob sie vom Licht sprechen, das hinter ihnen an der Wand aufleuchtet und sich darunter in der Sitzschale des einen Stuhls spiegelt? Dieser ordentlich an den Tisch angeschobene Stuhl lässt auf den zweiten Blick feststellen, dass der andere Stuhl einladend weggedreht ist.

Vorerst ist es nur das Licht, das durch die Fenster von rechts oben den Raum besucht. Wie zwei abstrakte Bilder projiziert es große Rhomben auf die Wand hinter der Sitzgruppe und hellt den halbdunklen Raum in der vorderen Hälfte auf. Der größte Helligkeitskontrast entsteht an der Außenecke im Übergang zum Korridor, der nach hinten in die absolute Dunkelheit führt. Gleichsam als Gegenüber zum Hell-Dunkel-Kontrast kann die geschlossene Türe im Hintergrund als Pendant zum lichtdurchlässigen Fenster auf der rechten Seite gesehen werden.

Das fotorealistisch gemalte Bild lässt durch seine geheimnisvolle Stimmung vielfache Assoziationsmöglichkeiten und unterschiedliche Sichtweisen zu. Es kann einfach als Wartezimmer oder Pausenraum gesehen werden, in dem das Licht still und geheimnisvoll mit dem Raum und den wenigen Möbelstücken spielt. Andererseits belebt gerade dieser flüchtig vorüberziehende Lichteinfall die Stille des Raumes. Für jene, die das Licht sehen und wahrnehmen, könnte der Moment – mit Heidegger gesprochen – zu einer „Lichtung des Lebens“ werden. Es ist der Einbruch einer anderen Wirklichkeit in die irdische Wahrnehmbarkeit. Aber im Gegensatz zu Platons Höhlengleichnis muss der Mensch nicht aus dem Dunkel ins Licht hinaufsteigen, sondern das Licht kommt zum Menschen. Das Licht besucht gleichsam die menschliche Behausung, seine Leere ergründend, das Mobiliar umspielend, den Menschen suchend. Es ist ein Licht, das den Raum gleichsam fragend abtastet, ob da jemand ist, der für das Licht empfänglich ist.

So zentral wie das Licht und das Mobiliar inszeniert sind, wäre es ein zum beginnenden Advent passendes Gedankenspiel, im Bild eine in die heutige Zeit versetzte Verkündigungsszene zu sehen. Geheimnisvoll vergeistigt liegt die Botschaft in der Stille des Raumes, in der symbolischen Bildsprache wortlos das Unfassbare zum Ausdruck bringend. Die beiden Stühle laden förmlich dazu ein, sie gedanklich mit Maria und dem Engel zu „besetzen“ – wobei es offen bleibt, wer auf welchem Stuhl sitzt.

Auf der persönlichen Ebene weiter gedacht könnte das Bild dann eine Anfrage an mich als Betrachter sein, ob ich im Innern bereit bin, das göttliche Licht zu empfangen und wie Maria mit ihm „schwanger zu werden“, um es dann für alle sichtbar als Licht-Gestalt „zur Welt zu bringen“. Es könnte insbesondere eine Einladung sein, mich an IHN zu wenden mit der Bitte, mit seinem Licht meine Gedanken zu erhellen und mir zur richtigen Zeit sein Wort zu schenken, das meine Sprachlosigkeiten überwindet.

Wurzeln des Lebens

Herbstlich leuchten die Farben rund um die knorrigen Stämme und Äste dieses Baumes. Die dichte Krone ist mehrheitlich noch grün, doch einzelne Bereiche haben sich bereits kastanienbraun und weinrot gefärbt. Am Boden finden sich die gleichen Farben in den heruntergefallenen Blättern wieder, angereichert mit den Gelb- und Orangetönen aus dem Zwischenbereich.

Denn zwischen und seitlich der Stämme flutet von hinten warmes, gelbes Licht in das Bild, die Silhouette der Hölzer hervorhebend, die Krone erhebend, die Blätter am Boden erleuchtend. Die Verwandlung lässt die beiden Bäume tanzen, so dass sie auch wie ein sich einander zuneigendes, sich umarmendes Paar wirken. Von innen her leuchtend, nach außen hin strahlend. Die innere Glut lässt sie zu einer Einheit werden und ungeachtet der gebogenen Stämme Stärke und Stabilität ausstrahlen.

Verborgen im Bild bleiben die Wurzeln, welche die Bäume mit Lebenskraft versorgen und ihnen Halt geben. Sie sind entscheidend für die Aufnahme der Lebenswerte aus der Umgebung: dem Boden, der Luft, der umstehenden Vegetation. Dynamisch fließt die Energie durch die bizarren Stämme von den Wurzeln in die Krone.

Durch den Titel „Wurzeln des Lebens“ stellen sich die Fragen nach unseren Wurzeln, welche das Leben im Ganzen, aber auch unser ganz individuelles Leben ausmachen. Auf welche Art und Weise nehmen wir neben dem täglichen Essen und Trinken Lebensmittel und -werte zu uns, welche uns aufblühen lassen, die unser Leben stark machen und mit denen wir anderen Halt geben können?

Es geht nicht nur um die Kraft- und Lebensquellen, sondern um die Fähigkeiten, zu diesen zu gelangen, sie für uns zu erschließen und sie in Lebensenergie zu wandeln. Als Verbindungen nach außen graben sich Wurzeln in den Untergrund oder in unbekannte Gebiete vor auf der Suche nach Nahrungsmitteln aller Art. Je besser der Baum oder das Lebewesen dann vernetzt ist, desto besser ist seine Lebensqualität in guten Zeiten und seine Überlebenschance in schlechten Zeiten.

Das tief zwischen den Stämmen durchbrechende Licht erinnert an die ersten Strahlen der kraftvollen Morgensonne, das als Schöpfungslicht den Tag vollends zum Leben erweckt. Es macht auf die immateriellen Werte aufmerksam, die wir zum Leben brauchen. So wie Jesus sagt: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von jedem Wort, das aus Gottes Mund kommt.“ (Mt 4,4) Sein Wort bringt Licht in unsere Dunkelheit, es ist Zuspruch, Halt, Freude, Leben und vieles mehr. Jedes gute Wort motiviert, stärkt, belebt, verbindet. Deshalb sollen wir unser Herz und unseren Geist für es offen halten und danach dürsten.

Die Bäume von Bernd Zimmer sind bis zum 27. Januar 2024 in der gleichnamigen Ausstellung in der Galerie Thomas in München zu sehen.

 

Durchgefallen

Fallende Marienfiguren: Von irgendwoher nach irgendwohin. Vor oder unter einem cyanblauen Himmel. Mutter mit Kind im Taumel. Weder Jesus noch zum Gebet gefaltete oder andere segnende Hände vermögen einen Halt zu geben. Eine Statue nach der anderen fällt im luftleeren Raum des Dazwischens. Noch sind die Figuren ganz, doch irgendwann werden sie aufschlagen und in viele Stücke zerspringen.

Verlangende, haltsuchende Arme und Hände kreuzen die vertikale Fallbewegung. Es sind anonyme Greifarme, welche versuchen einer der Marienfiguren in der Bildmitte habhaft zu werden. Sie zu halten, festzuhalten, behalten zu können. Doch die Figuren scheinen den kraftlosen Händen schon nach kurzer Zeit zu entgleiten und ihren Fall fortzusetzen.

Ein Bild des Elends!

Auf der horizontalen, irdischen Ebene die vom Leben gebeutelten Arme, die nach Zuwendung, Leben, Liebe und Nahrung hungern, die Nackten, die keine Kleider und kein Hab und Gut haben, die Heimatlosen, Vertriebenen, die nach Halt und Geborgenheit, einem Ort zum Leben suchen.

Auf der vertikalen Achse die Himmel und Erde verbindende Vertreterin der Katholischen Kirche in vielen Ausführungen: Maria. Sie steht für Religion und Spiritualität. Sie ist durch ihren Glauben und ihr Da-Sein für Jesus und die Gläubigen ein hervorragendes Vorbild für die Christen.

Aber weder ihr Angebot noch das der Kirche(n) scheint zu greifen. Kein Handschlag kommt zustande, kein Begreifen, Zugreifen, Festhalten. Die Kirchenvertreterin und mit ihr symbolisch alle Kirchenvertreter fallen durch. Noch sind die Figuren makellos. Doch was passiert, wenn sie aufschlagen?

Ein Kreuz!

Auf der einen Seite das ungesättigte Verlangen der unzähligen, namenlosen Arme. Auf der anderen Seite das über Jahrhunderte tradierte Angebot der Kirchen, das bei vielen Menschen immer weniger ankommt, weil es nicht mehr den Bedürfnissen unserer Zeit entspricht.

Die Kirche wird im Bild durch die vom Sockel gestoßenen Marienstatuen als kalt, versteinert, bewegungslos und handlungsunfähig dargestellt. Ein kritisches Bild, das anfragt, wie die Kirche mit ihrer Haltung und ihrer Theologie Antworten auf die heutigen Fragen und Bedürfnisse geben kann, damit ihre Worte und Handlungen bei den Heilsuchenden und allen sich nach Lebensfülle Sehnenden wieder ankommen, greifen und eine feste Verbindung mit Gott schaffen.

Betreten verboten

Als Betrachter des Bildes wird man in die Position des zu dieser Glashalle Zugang Suchenden versetzt. Doch vier rot-weiße Einfahrt-Verbots-Zeichen auf den sich überlappenden, transparenten Plastiklamellen verbieten den Eingang und Durchgang.

Die Zeichen „Betreten verboten“ stoppen den Schritt des Dahineilenden und lassen ihn nachdenklich Innehalten, warum ihm der Eintritt verwehrt wird, wieso er draußen bleiben muss. Es sind doch nur Pflanzen in diesem Gewächshaus.

Doch der enge Eingang mit den gitterartigen Fensterstreben und das rundum verglaste Gebäude machen aus dieser Palmensammlung einen geschützten Garten, einen Hortus conclusus, der an ein verlorenes Paradies denken lässt, konkret an den von Engeln bewachten Garten Eden (vgl. Gen 3,24). Wirken die weißen Streifen der sich überlappenden Plastiklamellen nicht wie Gitterstäbe und vergegenwärtigen sie nicht gleichzeitig etwas Immaterielles, Engelhaftes, das den Zugang verwehrt?

Aber nicht nur der Zugang ist verwehrt, auch der Durchgang. Der Sandweg ist zwar frei und lädt zum Beschreiten ein, um durch die lichterfüllte Halle hindurch zum Licht selbst zu gelangen. Doch erscheint der Boden instabil verschwommen wie erdig verschmutztes Wasser, das gerade den paradiesischen Palmengarten flutet und das einzigartige Paradies gefährdet.

Trotz aller Schutzmaßnahmen bleibt die Schöpfung also bedroht. Sie kann sich oft nur erholen und regenerieren, wenn der Mensch als Störenfried draußen bleibt und aufhört, die einzigartigen Schätze der Natur auszubeuten. In Zeiten der bedrohten Schöpfung deutet das Bild auch an, dass lokale Rettungsaktionen gut und wichtig sind, aber diese nur nachhaltig Erfolg haben können, wenn global ein Umdenken stattfindet hin zu einem ethischen und verantwortungsvollen Handeln jedes einzelnen: Durch Ressourcenschonung, durch das Unterlassen aller menschen- und umweltschädlichen Produktionen und im Respekt vor der Natur, indem wir ihr Ruhezonen lassen, in denen sich Pflanzen und Tiere frei in ihrem natürlichen Lebensraum entwickeln können. Sie haben genauso ein Recht darauf wie wir Menschen. Doch dafür müssen wir lernen, die vielen kleinen Zeichen „Betreten verboten“ zu sehen und zu respektieren.

 

Das Kunstwerk ist im Original in der Gemeinschaftsausstellung „Es werde“ – Kunstwerke im Spannungsfeld von Kreativität und Verantwortung zu sehen, die bis zum 15. Dezember 2023 in der Katholischen Akademie der Erzdiözese Freiburg Werke von 39 Künstler*innen zu diesem stets aktuellen Thema versammelt.

Der Schatz

Warme Farben als auch formale Kontraste ergeben eine faszinierende Spannung. Wie unter einer Brücke stehen fünf dunkle Gestalten am Fuße einer gewaltigen Rechteckkonstruktion. Helle Rechtecke heben Ihre Konturen hervor und schaffen zusammen mit den Lichtpunkten über ihnen eine geheimnisvolle Atmosphäre.

Die Menschengruppe scheint sich nicht zu verstecken, sondern ganz entspannt einen Überraschungsfund zu betrachten. Ein Licht funkelt in der Hand der Gestalt rechts vorne, als hätte sich ein Stern auf ihr niedergelassen. Ganz klein und im Vergleich mit der imposanten Kulisse unscheinbar ereignet sich in dem Bild das Wunder: in der Dunkelheit der Nacht und eher zufällig hat es sich in die Hand eines Menschen gelegt. Eines der vielen Lichter über der Gruppe hat sich in ihrer Mitte niedergelassen. Eine der großen Himmelssonnen hat sich greifbar klein und unbegreiflich nah gemacht. Es ist, als wäre inmitten der Menschen ein himmlisches Licht aufgeleuchtet.

Was für ein Schatz! Klein wie ein Edelstein, funkelnd wie ein Stern. Lichte Unfassbarkeit. Wie um von seiner Erhabenheit zu erzählen, entfaltet sich das Bild von ihm aus diagonal nach oben. Das große helle Rund symbolisiert eine göttliche Präsenz und bildet ein Pendant zu den in einem irdisch eckigen Raum sich befindlichen dunklen Personen. Wohlwollend gegenwärtig scheint die Lichtkugel vor der warmen Konstruktion des Hintergrundes. So ist sie ganz nahe und kann gleichsam „um die Ecke“ schauen, wie die fünf Menschenkinder mit dem ihnen anvertrauten Schatz umgehen werden. „Denn wo euer Schatz ist, da ist auch euer Herz.“ (Lk 12,34)

Der gelb-orange leuchtende Pfeiler und die stufenartigen Querverbindungen deuten ein tempelähnliches Gebäude an, das dazwischen den Raum füllende Rot und Purpur kündet von einer majestätischen Anwesenheit. So leuchtet im Kleinod die königlich-himmlische Herkunft auf.

Faszination, Staunen, Ehrfurcht und Glück, etwas Besonderes gefunden zu haben, muss die fünf Menschen beim Anblick dieser Kostbarkeit erfassen. Was für ein Geschenk, was für ein Schatz: sichtbar gewordene göttliche Gnade – durch ihre Herzen in ihre Mitte hineingetragen. „Denn wovon das Herz überfließt, davon spricht sein Mund“ und seine Hände. Denn „der gute Mensch bringt aus dem guten Schatz seines Herzens das Gute hervor“, indem er es mit den anderen teilt. (Lk 6,45) Dadurch wird der Schatz nicht kleiner, sondern größer und wertvoller.

Entfernt erinnert die Szene an den weisen Simeon, der „auf den Trost Israels“ wartete. Als die Eltern mit Jesus in den Tempel kamen, nahm er das Kind in die Arme und pries Gott mit folgenden Worten: „Nun lässt du, Herr, deinen Knecht, wie du gesagt hast, in Frieden scheiden. Denn meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel.“ (Lk 2,29-32) Vom Heiligen Geist geführt sah er in Jesus viel mehr als das kleine Kind. Das lange erwartete Licht (vgl. Jes 9,1) ist in seinen Armen aufgeleuchtet und erfüllt nun als bleibender Schatz sein Herz.

Spitzenidee

Über einer ordentlich ausgebreiteten Spitzendecke flattern Tauben in den tiefblauen Bildraum. Sich von der ausfransenden Spitzendecke losreißend erwecken sie den Eindruck, soeben eine Metamorphose durchgemacht zu haben und die letzten Fäden und Verbindungen zu den netz- und nestartigen Strukturen unter und hinter sich zu lassen.

Doch die befreienden Flügelschläge in eine dahinter liegende grenzenlose Freiheit sind nur möglich, wenn man die Spitzendecke nicht als auf einem festen Untergrund liegend betrachtet, sondern als filigranes, senkrecht und freistehendes Objekt, das zwischen dem Dies- und dem Jenseitigen steht, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen dem Jetzt und dem Kommenden. In dieser Perspektive ist ein Überwinden der Begrenzung und gleichzeitig ein Abtauchen in die Tiefen des Hintergrundes möglich.

Wahrscheinlich ist diese andere Betrachtungsweise das Momentum, in dem eine Spitzenidee geboren wird. Sie entspringt der alltäglichen Lebenswelt als geniale Inspiration. Sie ist ein gedanklicher Geistesblitz, der uns elektrisiert und uns motiviert, Dinge zu denken oder zu tun, die wir uns in den kühnsten Gedanken nicht zugetraut hätten. So gesehen sind Spitzenideen Überflieger, die uns abheben lassen vom Bisherigen, die uns durch ihre ungeheure Kraft zuversichtlich aufbrechen lassen in das Ungewisse.

Eine Spitzenidee gleicht von ihrer Dimension her einem winzigen Senfkorn, aus dem ein großer Baum wachsen kann (vgl. Mk 4,31-32). Der Spitzenidee wohnt die Dynamik inne, die eine Idee zu einem Gedanken werden lässt, der immer größer und konkreter wird, bis man merkt, dass sie wie Flügel das Körpergewicht tragen kann. Spitzenideen sind voller Zuversicht und verleihen die nötige Kraft, sich vom Bisherigen loszureißen und abzuheben in eine ungebundene, verstrickungsfreie Lebenswelt, die offen ist für alles Mögliche. Was trägt, ist die Luft, was bewegt, sind der Wind und die Flügelschläge.

Spitzenideen wohnt eine geradezu magische Begeisterung inne. Plötzlich sind sie da und geben dem Leben einen energetisierenden, kraftvollen Aufwind. Ein prickelndes Gefühl, etwas Einzigartiges zu erleben, das es so noch nicht gab und so nicht wieder kommen wird. Die Erlebnisindustrie hat dieses Bedürfnis nach dem Ungewöhnlichen und Besonderen schon lange für sich entdeckt.

Doch wie wäre es, solche Spitzenideen aus sich selbst heraus entstehen oder entspringen zu lassen? Hat Gott nicht allen Menschen seinen Heiligen Geist geschenkt, damit wir alle immer wieder neu sehen und denken können, frei werden für von der Norm ver-rückt-e Ideen, welche die Welt zum Guten verändern und erneuern? Grundlage wäre demzufolge eine Zuwendung zu dieser spirituellen Kraft, ein Sich-dem-Heiligen-Geist-Öffnen, damit wir von der Leistung aus eigener Kraft mehr und mehr wegkommen und aus der Verbundenheit mit dem göttlichen Geist die Welt wahrnehmen, denken, für sie entscheiden und in ihr handeln.

Dieses geistige Beschenkt-Werden ändert die Perspektive, so dass die Hingabe an einen Menschen oder eine Tätigkeit nicht als Last, sondern als Geschenk empfunden werden kann. Solch ein geistiger Perspektivenwechsel ist eine Spitzenidee. In der Hingabe an einen Menschen, im Ganz-bei-ihm-/bei-ihr-Sein, in der Hingabe an eine Tätigkeit, sei es ein Handwerk oder ein Hobby, in das man sich vertieft, wird man in eine andere Welt entrückt und emporgehoben über Zeit und Raum. Man lebt in der Be-Geist-erung und wird von dieser getragen und beflügelt.

Geistige Sprengkraft

Kraftvoll leuchtet weißes Licht aus dem zentralen Kreis in den Bildraum hinein. Ununterbrochen strömt es dem Betrachter entgegen. Die Lichterscheinung gleicht einer Sonne, doch strahlt sie in ihrer Reinheit eine unfassbar tiefe Unendlichkeit, Weisheit und Erleuchtung aus.

Strahlenförmig breitet sich das Licht aus: Zuerst unscharf, dann gelbe und rote Farben annehmend und schließlich formt es sich zu nach außen fliegenden, gezackten Blüten – der Gesamterscheinung nach an eine Pusteblume erinnernd. Wenn die Blüte des Löwenzahns verblüht ist, schließt sie sich zur Verwandlung und öffnet sich erneut als Pusteblume. In etwa zwei bis drei Tagen reifen im Verborgenen bis zu 300 Samen pro Blüte und auch die kleinen Stiele und Härchen wachsen. Bei trockenem Wetter öffnet sich die Blüte wieder als Pusteblume mit den vielen konzentrisch angeordneten Federbüschen oder Flugschirmen.

Diese im Bild nach außen fliegenden Federbüsche, welche die Samenkörner des Löwenzahns in sich tragen, besitzen eine gewaltige Sprengkraft. Zum einen hat die übergroße Fülle an Samen ein gewaltiges Potential, zum andern sprengen die haarigen Flugschirme mit ihrer Stoßkraft den die Mitte umgebenden schwarzen Ring. Bedrohlich dunkel, dick, massiv und gefühlt unzerstörbar hatte er das Licht abgeschirmt und das Leben an seiner Ausbreitung gehindert. Doch die federleichten Samenträger sprengen das Angst, Mutlosigkeit, Resignation und Aussichtslosigkeit auslösende Bollwerk der Begrenzung und Einschüchterung und folgen mit dem Licht ihrer Bestimmung, Leben in die Welt zu bringen. Vom Geist Gottes erfülltes Leben!

Bildhaft bringt die Künstlerin die an einem Ort versammelten, verängstigten und mutlosen Jünger zum Ausdruck, die durch Gottes Geist ermutigt und befähigt wurden, in die Welt hinauszugehen und den Menschen in ihrer Muttersprache das Evangelium zu verkünden (vgl. Apg 2,5-11). Die Samen tragenden Flugschirme verdeutlichen ihre Sendung, Gottes Wort als Multiplikatoren zu den Menschen zu tragen, damit es in ihrem Lebensfeld einem Samen gleich reiche Frucht bringe (vgl. Mk 4,20): Lebensfreude, Begeisterung, Freiheit. Die netzartige Hintergrundstruktur lässt ein Beziehungsnetz wahrnehmen, das daraus wächst und in der Tiefe Halt gibt

Das Pfingstereignis wird hier symbolisch als Fest der Bewegung, der Befreiung und der Erneuerung inszeniert. Es gibt keine verschlossenen Bereiche mehr. Kirche wird hier als ein von Gott her bewegter Raum der Veränderung dargestellt, stets im Auf- und Ausbruch über sich hinauswachsend, auf die Menschen und ihre Bedürfnisse eingehend. Ein Raum mit Leucht- und Sprengkraft – weit über die menschlich engen Sichtweisen und Verständnismöglichkeiten hinaus, der alle Grenzen immer wieder überwindet. In diesem Sinne ist es notwendig, auch auf die Kirche nicht die eigenen engen und moralischen Vorstellungen zu projizieren, was sie zu sein und zu leisten habe, sondern selbst in irgendeiner Weise einen Beitrag zu leisten und damit einen Samen für einen Neubeginn zu säen.

Offen für das Unvorstellbare

Von den Farben fasziniert schweift der Blick kreuz und quer über die drei Blätter dieses Triptychons, um einen Anhaltspunkt für das Verstehen dieser expressiven Farbenfülle zu erhalten. Insbesondere die Seitenflügel geben neuartige Formen wieder, Verdichtungen, die man so vorher noch nicht gesehen hatte. Allen drei Darstellungen gemeinsam sind die offenen Kreise und die verschiedenfarbig gekritzelten Flächen, die sich ganz unterschiedlich entfalten. Zeichnerisch hat das Kritzeln seine ganz eigene Bedeutung: Es ist das Loslassen von der konkreten, körperhaften Form und das Sich-Hineinbegeben in einen vorbewussten Zustand, der offen ist für das Neue und Außer-Ordentliche.

Das mittlere Blatt lässt die Umrisse eines menschlichen Körpers erkennen: Kopf, Oberkörper, Becken, Beine und Knie, aber keine Arme. Die aufrechte, leicht nach vorn gebeugte Gestalt erscheint ohne Bezug zu einem weiteren Objekt vor dem hellen Hintergrund in einem schwebenden Zustand. Durch ihre Körperhaltung kann in ihr sowohl ein Gekreuzigter als auch ein aufgestellter Liegender gesehen werden. Die leeren Formen lassen auf eine vergangene Existenz schließen, die eine Verwandlung erfährt zu einer Fülle, die im neuen Element der Farbfelder ihren Ausdruck findet (vgl. 1Kor 15,51). So kann die Gestalt als eine geistige Existenz gesehen werden, die nur noch mit einem auslaufenden Strich wie mit einer Nabelschnur mit dem Irdischen verbunden ist. Im Innern nur Licht (gelb) und Leben (grün). Nichts Körperhaftes. Den Himmel im Rücken.

In den äußeren beiden Blättern findet sich die Kreisform des Kopfes wieder. Sie lässt in den personalisierten Gestalten engelhafte Wesen erkennen (vgl. Lk 24,4; Joh 20,12), welche die neue Lebensfülle ausstrahlen. Sie umrahmen ein einzigartiges, unvorstellbares, geradezu unglaubliches Geschehen: Jesus, der Gekreuzigte und Verstorbene lebt! Im zentralen Bild ist der Lebende sowohl in der Haltung des Gekreuzigten und im Tode Liegenden wiedergegeben wie auch als stehender, zum Leben auferweckter und von Leben erfüllter Mensch.

In seinem Leib keimt das Leben wie bei einem aus einem Samenkorn herauswachsenden Keimling. Es ist nicht das alte Leben, das zu neuem Leben erwacht. Das alte Leben, der alte Leib ist gestorben (vgl. 1Kor 15, 35-38). Doch genau dadurch konnte Neues entstehen: Neues Leben, neue Entwicklungen, neue Beziehungen und  Strukturen, symbolisiert durch die unaufhaltsam sich ausbreitenden Farben. Die Farben tanzen gleichsam durch das Triptychon, springen auf den Betrachter über und erfüllen ihn mit Freude.

Das Triptychon erzählt von der Erneuerungskraft, die der Auferstehung Christi innewohnt. Es zeugt von der gewaltigen Verwandlungsbereitschaft Gottes, aus Totem Lebendiges auferstehen zu lassen. Die drei Blätter wecken auch die Sehnsucht nach Verwandlung und Erneuerung in der Kirche hin zu einem geschwisterlichen Miteinander als Kinder Gottes aus der Besinnung auf die ursprünglichen Inhalte. Daraus wächst das Vertrauen in die Kraft Gottes, aus tot Geglaubtem Leben hervorbrechen zu lassen, das Unvorstellbare neue Wirklichkeit werden zu lassen und die Kirche Jesu Christi wieder zum Blühen und Strahlen zu bringen.

Dunkelheit

Hängend der Mensch
gekreuzigt des Menschen Sohn
erhöht – und doch erniedrigt
reduziert auf Arme, Kopf und Brust
Dunkelheit ist in ihm
belastende Schwere, erdrückende Macht
alle individuellen Züge sind weg
stellvertretend
für alle
nimmt er alles Leiden auf sich
allen Schmerz
alle Einsamkeit

Das Kreuz
ein Pfahl – ein Querbrett
ein Marterpfahl
ein Folterinstrument
um zu quälen
das Lebenslicht langsam auszulöschen
jeden Atemzug zu ersticken
bis zum Tod

Darüber
erdrückend groß
das schwarze Rund
noch mehr Schwarz
schwer lastend
Unheil über dem Gekreuzigten
in seinen Rücken, in seinem Nacken sitzend
abstrakte Form, Kreis, rund, hell: Ein Symbol für Gott?
schwarz verhüllt, von Nacht umgeben
die dunkelste Stunde Gottes: Sein Sohn stirbt am Kreuz

Dunkle Verbundenheit
doch innen hell
Nähe trotz des Gefühls der Verlassenheit
mitleidend in jeglicher Dunkelheit
Lichtblick trotz menschlicher Verlassenheit:
Kontrapunkt und Hoffnung des Lebens

Polyphones Zusammenspiel

Außergewöhnlich präsentiert sich die abstrakte Farbkomposition auf dem mehrteiligen Untergrund. Die aus je vier Stabhölzern verleimten Bretter bilden vier individuell bemalte Hochformate, die durch einzelne Bildelemente über die dunklen Abstände hinweg miteinander zu einem Ganzen verbunden sind.

Gegliedert durch drei Fugen schimmern die Stöße, Risse und Strukturen des Holzes durch den lasierenden Farbauftrag und spielen dadurch so etwas wie eine Hintergrundmusik, welche die Gesamterscheinung wesentlich beeinflusst. Der wiederverwendete Malgrund und der neue Farbauftrag mit dem vielgestaltigen Linienspiel treten als fast gleichwertige Partner auf.

Während die dunklen Zwischenräume trennen und gliedern, verbinden waagrechte und diagonale Geraden die einzelnen Hölzer. Sie bilden unten eine breite Basis und führen über verschiedene Diagonalen zur Mitte und in die Höhe. Farblich wird die Komposition zum einen von den beiden blauen Flächen auf den äußeren Hölzern zusammengehalten, zum anderen durch die grünen und roten Farbaufträge, die sich in intensiver Form unten in der Mitte finden und abgeschwächt überkreuzt im oberen Bereich der äußeren Hölzer. Über alle vier Tafeln tanzen gelbe Flächen auf und ab und verleihen der Komposition etwas Lebendiges und Fröhliches. In ihrer Mitte wird oben ein nur wenig bemalter Bereich frei, der einen Blick darüber hinaus ermöglicht.

Die sorgfältig orchestrierten Farbflächen erinnern bisweilen an eine geistige Landschaft, in der das Sonnenlicht alles Sichtbare in farbige Facetten fragmentiert. Mehr jedoch entzieht sich die Komposition der konkreten Zuordnung der Einzelelemente. Es bleibt ein fröhlicher, meditativer Farbklang, eine bezaubernde Harmonie, in der die einzelnen Erscheinungen auf wundersame Art und Weise miteinander in einen spielerischen Dialog treten, in dem sich Frage und Antwort bzw. Feststellung und Folgerung die Hand geben.

Das Farbenspiel meditierend kann in dieser geistigen Landschaft eine Verbindung zu den Seligpreisungen gesehen werden. Die wiederverwendeten Abfallhölzer, die einfach an die Wand gelehnt am Boden stehen, vereinigen in symbolischer Form einiges von den Menschen, die Jesus seligpreist. Die vom Künstler über sie gelegten Farben können dann als göttliche Verheißung gedeutet werden, dass sie weder vergessen noch verloren sind, sondern gesehen werden und einen Lohn empfangen, der weit über das Vorstellbare hinausgeht.

Selig, die arm sind vor Gott; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig die Trauernden; denn sie werden getröstet werden.
Selig die Sanftmütigen; denn sie werden das Land erben.
Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit; denn sie werden gesättigt werden.
Selig die Barmherzigen; denn sie werden Erbarmen finden.
Selig, die rein sind im Herzen; denn sie werden Gott schauen.
Selig, die Frieden stiften; denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.
Selig, die verfolgt werden um der Gerechtigkeit willen; denn ihnen gehört das Himmelreich.
Selig seid ihr, wenn man euch schmäht und verfolgt und alles Böse über euch redet um meinetwillen. Freut euch und jubelt: Denn euer Lohn wird groß sein im Himmel.
(Mt 5,3-12)

 

Arbeiten von Albert Mellauner waren im Frühjahr 2023 in der Ausstellung „Farbrhythmen“ in der Hofburg Brixen zu sehen.

Seine Herrlichkeit schauen

Das mit Symbolen gestaltete Bild lädt von oben nach unten zur Betrachtung ein. Doch der Schlüssel zum Verständnis liegt in der Krippe: Sie bzw. der in ihr Liegende weist den Weg, zum Verständnis und das Licht des Johannesprologs (Joh 1,1-18) beleuchtet ihn zusätzlich.

Im dunklen Querbalken sind Schriftzeichen zu sehen. Sie deuten das göttliche Wort an: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott.“ (Joh 1,1-2) Da Gott nicht darstellbar ist, sehen wir nur schriftähnliche Zeichen als Symbol für den göttlichen Logos. Der Balken selbst kann dabei als sichtbares Moment einer ewigen und gleichbleibenden Präsenz in der Schöpfung interpretiert werden.

Darunter entfaltet sich vor dem blauen Dreieck die Menschwerdung Gottes in seinem Sohn. „Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen.“ (Joh 1,3-4) – Es ist ein trinitarisches Geschehen, ein Zusammenwirken von Vater, Sohn und Heiligem Geist. In der großen Sonne klingt die Unendlichkeit Gottes an und dass er die Quelle des Lebens und des Lichtes ist. Der kleinere untere Kreis weist durch die Überschneidung und die gleiche Form auf die Gottheit Jesus hin. Er ist der Einzige, der „am Herzen des Vaters ruht“ (Joh 1,18). Der nach unten versetzte Kreis macht auch deutlich, dass er sich entäußert hat, um uns Kunde zu bringen von der Gnade und der Wahrheit Gottes. Seine Geburt ist eine Sternstunde der Menschheit und der Schöpfung. Gott wird Mensch: Seine ganze trinitarische Fülle ergießt sich „Gnade über Gnade“ in unsere menschliche Armut, dargestellt durch die nach oben geöffnete Krippe. „Allen, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden.“ (Joh 1,12) Die Krippe ist gleichsam die Antwort des unteren dunklen Balkens auf die vom oberen Balken ausgehende Frage.

Weder das Jesuskind noch Maria, Josef oder sonst jemand sind an der Krippe dargestellt. Nur zwei blaue Flügel deuten eine Anwesenheit von himmlischen Wesen an – seien es die Engel der Heiligen Nacht oder den Geist des Johannes. Letztlich sind es zwei Präsenzen, die das Geschehen wohlwollend begleiten.

Alles zwischen den beiden Kontinuen am oberen und unteren Bildrand ist in ein warmes, goldgelbes Licht getaucht. In dieser mystischen Vision der Menschwerdung Gottes symbolisiert auch es die Materialisation: vom farblosen Licht zum von Farben, Gefühlen und damit vom Leben erfüllten gelben Licht. Im Licht gießt sich Gott symbolisch in die ganze Schöpfung aus. Im Licht offenbart er sich allen wesenhaft in seiner grenzenlosen Güte, Wärme und Freude. Es verweist immateriell auf Jesus, der von sich sagt: „Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.“ (Joh 9,5)

So abstrakt-symbolisch das Bild auch ist, letztlich wissen wir nur durch die geschichtlich konkret gewordene Person Jesu so viel über Gott und seine grenzenlose Liebe zu uns. Wir leben jeden Tag in der Erwartung Ihn zu sehen und Sein Erbarmen und Sein Heil zu erleben, denn „das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt und wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit.“ (Joh 1,14)

anwesend

Der Bildausschnitt führt den Betrachter zeitlich in die Nacht und räumlich in ein Zimmer mit einer offenen Balkontüre. Der Blick wandert über einen bläulich schimmernden See, der von einem Hügel begrenzt wird, hinauf in den türkis-nebligen Himmel, der etwa gleich viel Raum wie der See einnimmt.

Die einzige Lichtquelle im Bild ist die Reflexion des Mondscheins auf der Wasseroberfläche. Der angeschnittene Kreis lässt uns das Licht als sichtbare Hälfte eines unsichtbaren Ganzen wahrnehmen. Ungefähr in der Bildmitte positioniert erfüllt der Widerschein des Mondes alles gerade mit so viel Licht, dass die Landschaft und das Haus noch in unscharfen Konturen und dunklen Farbtönen wahrnehmbar sind.

Das Zimmer selbst ist in Dunkelheit gehüllt. Nur durch die große Öffnung werden die linke Wand mit der Balkontüre und der Boden schwach beleuchtet. So wirkt das Zimmer wie ein Rahmen für den nächtlichen Ausblick auf den mondbeschienenen See und macht diesen zu einem Blick ins Licht.

Es sind Elemente wie der Glanz des Sees oder der wolkig schattierte Himmel mit den grünlichen und rötlichen Lichteffekten, die zur wohltuenden Ruhe und dem tiefen Frieden im Bild beitragen. Harmonie geht von der flächig ausgeglichenen Darstellung von Wasser und Himmel aus und im Gegensatz zur Nacht und dem See ist hier im höhlenartigen Gemäuer Geborgenheit erfahrbar. „Durch die Sanftheit der Übergänge, den weichen Schmelz im Spiel mit Licht und Schatten, das glimmende Geheimnis magischen Farbdunkels bieten die Nachtstücke […] dem Betrachter einen nächtlich warmen Resonanzraum, in dessen Geborgenheit er mit seinen eigenen Empfindungen eintauchen, in den er sich wie in einen dunklen Mantel einhüllen kann.“ (Dr. Barbara Renftle in: „umnachtet-bestirnt – Das Nächtliche in der Kunst“, Stiftung BC – pro arte 2022, S. 46)

In der Stille einer solchen Nacht sind durchaus Gotteserfahrungen möglich. Durch das die Nacht erhellende und sich im See spiegelnde indirekte Mondlicht wird eine starke unsichtbare Gegenwart angedeutet, auch wenn die Lichtquelle selbst nicht zu sehen ist. Der Psalmist hat die Anwesenheit Gottes so stark erfahren, dass er zu Ihm sagen konnte: „Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, / die Nacht leuchtet wie der Tag, wie das Licht wird die Finsternis.“ (Ps 139,12) Das Wasser und die Nacht können dazu beitragen, dass der dunkle Raum als Zufluchtsort und Schutz erlebt wird, Eigenschaften, die gerne Gott zugeschrieben werden: „Da wurde mir der HERR zur Schutzburg, mein Gott zum Fels meiner Zuflucht.“ (Ps 94,22) Das gibt Kraft und Zuversicht, den Schwierigkeiten und Herausforderungen des Lebens zu begegnen und sie mit Seinem Beistand auszuhalten und zu überwinden in der Gewissheit, dass der Nebel sich lichten und ein neuer Tag anbrechen wird.

 

Das Bild war in der Themenausstellung „Umnachtet – bestirnt: Das Nächtliche in der Kunst“ bis zum 25. November 2022 in der Galerie der Stiftung BC – pro arte, Biberach zu sehen. Zur Ausstellung ist ein Katalog mit allen Werken und einer umfassenden kunstgeschichtlichen Einführung der Kuratorin Dr. Barbara Renftle erschienen.

Schritte in die Weite

Der Blick des Betrachters geht mit zwei Fußspuren durch eine angedeutete Türöffnung in einen schmalen, langen Raum, dessen Rückwand perspektivisch leicht nach rechts aus dem Zentrum verschoben wurde. Die farbigen Flächen wirken plakativ, symbolisch. Der Raum mit dem braunen Boden, den roten Seitenwänden und der gelben Rückwand erscheint ohne Fenster, Türen und ohne Decke wie eine ausweglose Sackgasse.

Diesen imaginären Raum hat ein Mensch barfuß betreten. Die weißen Abdrücke bilden einen seltsamen Kontrast zu den anderen Bildelementen. Der abstrakte Raum erhält durch diese Spuren etwas Menschliches. Eine menschliche Präsenz wird spürbar. Der braune Boden lässt an Erde denken. Der Ort hat etwas Grabähnliches. Doch die roten Wände pulsieren voller Leben und sie können wie symbolische Hände der Liebe gesehen werden, die den Verloren-Geglaubten umfassen und ihm Halt geben, die den Erkalteten und Erstarrten wärmen und in ihm neues Leben zirkulieren lassen.

Auch die sonnengelbe Rückwand mit der Leiter signalisiert, dass dieser Raum kein Ort des Todes ist, sondern der Auferstehung und des Lebens. Es führt über die Leiter ein Weg ins Freie und in die Weite durch den, der von sich sagte: „Ich bin die Tür, ich bin der Weg, ich bin die Auferstehung und das Leben“: JESUS!

ER ist es, der zu den Angehörigen von kürzlich Verstorbenen, wie zu Jairus oder der Schwester des Lazarus, sprach: „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ (Mt 5,36) ER ist es, der zu den Verstorbenen selbst sagt: „Talita cum – Steh auf!“ (Mt 5,41; vgl. Joh 11,1-45) ER lässt die Worte aus Psalm 18 immer wieder Wirklichkeit werden: „Er führt mich hinaus ins Weite.“ (Vers 20) „Du schufst weiten Raum meinen Schritten“ (Vers 37). Jesus ist im Symbol des feinen Türbogens ins Bild gebracht. Durch ihn wird die Wahrnehmung positiv verändert, die Sicht auf das Kreuz wird im Symbol der Leiter wieder auf das Leben geweitet, denn er sagt: ICH sage dir: Steh auf! ICH führe dich ins Weite – in die Weite des Lebens!

 

Die Arbeit von Thomas Lauer war bis zum 18. Oktober 2022 in der Gemeinschaftsausstellung „Talita kum – steh auf!“ Theodosius Akademie im Kloster Hegne am Bodensee ausgestellt.

Trinitarische Liebe

Drei leuchtende Kugeln bilden zusammen einen Dreipass, wie die verbundene Form von drei Kreisen im gotischen Maßwerk genannt wird. Die Form gleicht einem dreiblättrigen Kleeblatt. Die Konturen sind unscharf wie bei etwas, das ständig in Bewegung ist und deshalb nicht genau erfasst oder begriffen werden kann. Durch das innere Licht leuchtet der Dreipass in der nachtblauen Umgebung wie ein besonderer Stern.  Die feine Äderung erinnert an Bilder von im Mutterleib geborgenen Embryonen.

Die drei Einheiten formieren in der Weite des Universums eine unbegreifliche Erscheinung, eine geheimnisvolle trinitarische Vereinigung. In ihrer Einzigartigkeit sind sie schwer zu erfassen. Als Gestirn erscheinen sie uns in unerreichbar weiter Ferne. So können sie nur annähernd beschrieben oder sogar umschrieben werden. Die dunklere gelbe Außenseite lässt spüren, dass sie einander zugewandt sind, die Äderungen lassen vermuten, dass Leben in ihnen pulsiert, das fähig ist – wie bei der Zellteilung – unbegrenzt weitergegeben zu werden. Sie wirken wie eine atmende Gemeinschaft voller Energie und Bewegung, die in unaufhörlicher Beziehung Energie und damit auch Leben austauscht.

Die dreipassförmig vereinten Sonnen erinnern an Gott, der sich den Menschen trinitarisch als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart hat. Ein von menschlichen Erfahrungen geprägtes Bild für die Keimzelle einer von Leben erfüllten Gemeinschaft. Dagegen bietet das Bild eine mystisch-kosmische Vorstellung der Trinität. Die Vision vermittelt auf abstrakt-lebendige Weise das Wesen der Trinität. Der Perspektivenwechsel rückt Gott als den unvorstellbar Anderen zunächst in weite Ferne und man fragt sich, wie da eine Beziehung entstehen kann und wo der Platz des Menschen oder der Schöpfung ist.

Bei genauer Betrachtung fällt in der Mitte ein viertes Element auf. Es befindet sich im Kern der Gemeinschaft, an dem Ort der vollsten und ungeteilten Zuwendung und Aufmerksamkeit. Wie wäre es, wenn wir uns an dieser Stelle vorstellen, mitten im Herzen der trinitarischen Gemeinschaft? Hat Jesus uns nicht genau das vermittelt, dass Gott Vater uns so liebt, wie Er den Sohn liebt? (Joh 17,23) Gott liebt uns und die ganze Schöpfung so privilegiert innig wie ein Vater oder eine Mutter ihr Kind lieben. Wie im Bild umgibt uns Gott von allen Seiten, er ist bildlich wie eine Gebärmutter, die uns in grenzenloser Geborgenheit rundum beschützt und Leben schenkt. Was auch immer geschehen mag, uns kann nichts passieren. Wir können unmöglich aus Gottes Liebe und Fürsorge herausfallen (vgl. Röm 8,38-39).

Weil Gott uns derart liebt und seine Liebe in unsere Herzen ausgegossen hat, dürfen wir etwas von dieser Liebe erwidern und sie allen Menschen und der ganzen Schöpfung zurückgeben. Wir sind berufen, nach dem Vorbild Gottes uns zu neuen lebensspendenden und -bewahrenden Einheiten zusammenzuschließen und wie Er alle Menschen und die ganze Schöpfung in unser Herz zu schließen (vgl. Röm 5,5; 1. Joh 4,19), sie zu unserem Herzensanliegen zu machen, ihnen – und nicht uns – unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, Liebe und dadurch Leben zu schenken.

Blick ins aller Heiligste

Feine Farbklänge verleihen dem Bild etwas Zärtliches, Geheimnisvolles und Kostbares. Schwebend atmen die einzelnen Elemente ineinander und bilden zusammen eine Lebensgemeinschaft, die alles Bekannte übersteigt.

Das weiße Oval mit seinem diffusen Rand schenkt diesem Organismus einen grenzenlosen und lichtvollen Lebensraum, der mit seiner Energie das erdig wirkende, ockerrote Umfeld strahlenförmig erleuchtet. Vom unteren Bildrand her durchquert ein rosafarbenes Kreuz das Oval in seiner Höhe und Breite. Wie ein Stempel prägt es die neue Gemeinschaft, wie ein Schlüssel öffnet es das Verständnis für das Wunder, dass es dieses Miteinander überhaupt gibt – sah doch bei der Kreuzigung alles nicht so rosig aus.

Das Kreuz lässt die Wandlung miterleben, die der an ihm Gekreuzigte durchlitten und durchlebt hat. Die quadratische rote Mitte erzählt mit ihrer farbig-formalen Symbolik von der irdischen Gewalt, dem vergossenen Blut, dem qualvollen Tod. Gewandelt bildet es die kraftvolle Mitte des neuen Lebensraumes, das schlagende Herz, das aller Heiligste. Das Viereck ist der irdische Schlussstein im Gewölbe der Ewigkeit, die verdichtete Gegenwart Gottes unendlicher Liebe in der menschlichen Geschichte. Es ist ein stiller Ruhepol, Halt für den Unsicheren, Orientierung dem Suchenden.

Intensiv, fröhlich und unbeschwert lebt das Kreuz aus seiner quadratisch-kraftvollen Mitte heraus. Die rosa Farbe mag einen verklärten Blick suggerieren, aber keinesfalls einen zu optimistischen oder unrealistischen Blick durch eine rosarote Brille. Sie ist vielmehr die Farbe der Liebe und der Zärtlichkeit, die Farbe des jungen, neuen Lebens, das – einem Fötus gleich – im Entstehen begriffen ist.

Im oberen Bereich der Aureole deuten zwei kleinere Ovale die Köpfe von zwei Menschen an. Ihre Körper lassen sich in den mit ihnen verbundenen Linien und Schattierungen erahnen. Links eine größere Gestalt, sitzend vielleicht, mit ausgebreiteten Armen, rechts eine kleinere Gestalt, der linken zugewandt. Sie lassen an einen Vater oder eine Mutter mit ihrem Kind denken. Beide sind einander zugeneigt und bilden im intensiven Austausch eine von Liebe getragene Einheit. Sie versinnbildlichen in abstrahiert menschlicher Form die Einheit der Zweiheit, die Versöhnung der Gegensätze, die Geborgenheit im Einen oder auch das Geheimnis der Trinität.

Im österlich erschlossenen Lebensraum kann so Gott-Vater gesehen werden, der seinen Sohn nach dem irdischen Leben und Sterben mit offenen Armen im ewigen Leben empfängt. In der kleineren Gestalt dürfen wir aber auch uns selbst als Kinder Gottes erkennen, die wir einst von Ihm ins Allerheiligste aufgenommen werden und sein göttliches Erbarmen, seine grenzenlose Liebe in unmittelbarer Nähe erfahren.

 

Dieses und weitere Kunstwerke von Anneli Schwager sind bis Ende 2022 in der Ausstellung „Für die Welt“ in der Ev. Patmos-Gemeinde an der Gritznerstraße 18/20 in 12163 Berlin im Original zu sehen.
Weitere Informationen zur Ausstellung finden Sie hier.

Ostermorgen – Zwischen Mythos und Logos

Suchend streift der Blick über das großformatige Bild und versucht einen Zusammenhang bzw. den roten Faden in der Fülle an Motiven zu finden. Noch herrscht wie vor der Erschaffung der Welt Chaos auf dem Bild. In dem scheinbar ungeordneten Durcheinander tut sich der suchende Geist schwer, das Ganze zu verstehen. Es ist nur ein schrittweises Herantasten möglich, bis nach und nach Erkenntnis und Verstehen geschenkt wird. Die Eindrücke sind überwältigend und schwer zu entschlüsseln. Innehalten ist angesagt vor dem Geschehen in dieser komplexen Bildwelt. Geschieht hier nicht etwas noch nie Dagewesenes, etwas, das alles Bekannte über den Haufen wirft und sich neu buchstabiert: Die Auferstehung von den Toten? Es ist ein Ringen um „Worte“, die Darstellung des Nicht-Darstellbaren. Es ist nicht die siegreiche Auferstehung wie im Isenheimer Altar von Matthias Grünewald oder das triumphale händelsche Halleluja. Es ist vielmehr ein verwundertes Sich-die-Augen-Reiben nach den erschütternden Ereignissen der Karwoche, eine Revolution im Verborgenen, wie der Totgeglaubte zwischen den Beinen des erblindeten Todes aus der Höhle heraustransportiert wird, mit den Füssen voraus in den Tag hineingetragen wird von einem Widder.

Die Bildmitte nimmt eine hohe, weiße Gestalt ein. Als unumstößliche Dreiecksfigur dominiert sie das Bild und teilt es in eine linke und eine rechte Hälfte, bzw. in drei Teile. Am einäugigen Riesen mit drei Armen ist kein Vorbeikommen. Seine Größe weist darauf hin, dass sich durch ihn alles entscheidet. Seine Gehrichtung gibt maßgeblich die ungewohnte Blick- und Leserichtung von rechts nach links vor. Hat der Künstler einen Weg zurück gemalt, einen Weg zurück ins Leben? Kann es sein, dass in den drei Bildteilen die Geschehnisse der drei österlichen Tage dargestellt sind? Karfreitag, Karsamstag und Ostern?

Beginnend im rechten Bildteil lässt sich der rote Hahn erkennen, der mit seinem Schrei Petrus seine dreimalige Verleugnung Jesu schmerzhaft zum Bewusstsein bringt. Die Frau daneben ist die Magd, die nach Jesu Verhaftung zu Petrus sagt: „Der war auch mit ihm zusammen.“ (LK 22,56) Im grünen Gesicht unter dem Hahn ist Petrus selbst als gebrochene Säule dargestellt. In der ganzen Bestürzung über seinen Verrat wird ihm bewusst, dass seine Kraft nicht ausreicht, um das Gebäude zusammenzuhalten. Gleichsam stellvertretend schreit der rote Kopf seinen Schmerz hinaus (Bild-Impuls dazu). In der Zusammenschau steht dieses rechte Drittel des Bildes somit für den Verfall, den Verrat, für das ganze Leiden der Kreatur, für die Welt des Todes.

Aber im Zentrum des rechten Drittels dominiert ein großes grünes Gesicht das Bild. Es ist das Antlitz des Menschensohnes, der im Grab liegt. Erstaunlich sind seine großen offenen Augen und sein unter dem Widder langgesteckter Körper. Erich Schickling verbindet seine Gestalt mit einer Erzählung aus der griechischen Mythologie: Odysseus hatte mit zwölf seiner Gefährten in der Höhle des Zyklopen Polyphem Zuflucht gesucht. Doch nachdem dieser seine Schafe hineingetrieben hatte, verschloss er die Höhle mit einem großen Stein und begann einen Gefährten nach dem anderen zu fressen. So wurde er zum Inbild des Ungeheuers und des Todes. Um Polyphem zu entkommen, griff Odysseus zu einer List, wodurch es ihm gelang, diesen mit einem glühenden Pfeil in sein einziges Auge derart zu blenden, dass Odysseus und seine restlichen Gefährten am nächsten Morgen, als die Tiere hinausgetrieben wurden – sich am Bauch der Schafe festklammernd – ungesehen aus der Höhle des Todes entkommen konnten.

Bei Schickling ist es ein männliches Tier, welches die große, fast das ganze Bildformat querende, brettartig versteifte Gestalt unten am Riesen vorbei auf die andere Seite trägt. Ein Bild für Gott-Vater, an dem sich Jesus festklammert und von dem er aus dem Reich des Todes gerettet wird? Oder eine Erinnerung an Isaak, den einzigen Sohn Abrahams, der durch Gottes Eingreifen vom Tode verschont blieb und an dessen Stelle ein Widder geopfert wurde (Gen 22,1-19)? Gleichzeitig wird Jesus vom blauen Wasser des Lebens aus der Dunkelheit ins Licht gespült und auf der anderen Seite von den ersten Strahlen des Ostermorgens ans Licht gezogen. Alles geschieht im Verborgenen und endet offenbart. Es ist nicht der Kopf als Sitz des Verstandes, der dieses Wunder zuerst begreift. Mit den Füßen voran wird die Welt des Todes überwunden. Sie werden schon vom lichten Glanz der Ostersonne überstrahlt, welche mit ihrer Intensität die linke Bildseite dominiert.

Die Ostersonne als Symbol für den Morgen, die Auferstehung und das Offenbarte korrespondiert mit einem dunklen, geheimnisvollen Rund darüber. Es könnte als Symbol für die uns unbekannte Seite Gottes stehen, für die Nacht, den Traum, den verborgenen Gott, von dem wir nichts wissen. Dennoch ist dieses Rund nicht vollkommen dunkel und schwarz, sondern in seinem Innern rot, blau und grün belebt, den Symbolfarben für seine Liebe, Treue und die Hoffnung. Für den Künstler mag diese geheimnisvolle Dunkelheit auch für den Traum als Ursprung der Kreativität gestanden haben, denn als drittes Symbol des Ostermorgens springt aus dieser Dunkelheit rechts daneben ein geflügeltes Pferd vom Himmel und fordert Polyphem zum Kampf heraus. „Als tiefes Schweigen das All umfing und die Nacht in ihrem Lauf bis zur Mitte gelangt war, da sprang dein allmächtiges Wort vom Himmel, vom königlichen Thron herab als harter Krieger mitten in das Land des Verderbens.“ (Weish 18,14-15) Das springende Ross ist das göttliche Wort, der Logos. Polyphem wehrt es ab, wird dadurch aber von seiner Suche nach Odysseus abgelenkt.

Mit seinem Ostermorgen formuliert Erich Schickling einen Gegenentwurf und eine Antwort auf Picassos berühmtes Monumentalbild „Guernica„, das er in Erinnerung an den Terrorangriff des 26. April 1937 auf die spanische Stadt Guernica malte und in dem sich das durch Gewalt, Terror und Krieg verursachte Leid im vielfachen Aufschrei von Schmerz, Verzweiflung, Not und Tod verdichtet. Schickling verwendete den gleichen Bildaufbau und ähnliche Bildelemente, so dass in einer Fülle von Details ein direkter Bezug gegeben ist und eine bildliche Antwort auf die Frage: Gibt es etwas, worauf man hoffen darf angesichts von Leid und Tod?

Doch während bei Picasso der Aufschrei der vielen unerhört verhallt, die Gewalt und das himmelschreiende Unrecht das letzte Wort haben und – bis auf die zarte Blume als Symbol für die Regeneration der Natur – alles trost- und hoffnungslos ist, lebt Erich Schicklings Bild vom Glauben und der Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod. In Jesu Schrei hört Gott das verdichtete Leiden eines jeden Menschen und der ganzen Menschheit. Als Gottesknecht und „-krieger“ ist Jesus für alle gestorben. Durch Jesu Auferweckung von den Toten hat er den Tod besiegt und alle Menschen, die daran glauben, aus dessen Gefangenschaft befreit. Das Licht der aufgehenden Sonne und die Kraft des herabspringenden Pferdes, des Wortes, erfüllen die ganze Schöpfung mit Hoffnung und Leben. Das weiße Licht verwandelt selbst die furchteinflößende Gestalt des Polyphem, den Angst verbreitenden Tod in einen Diener Gottes (vgl. 1. Kor 15,55).

Gott hat das letzte Wort. Darauf weisen auch die Omega-Zeichen auf dem Widder hin: „Ich bin das Alpha und das Omega, spricht Gott, der Herr, der ist und der war und der kommt, der Herrscher über die ganze Schöpfung.“ (Offb 1,8)

Lebens(g)rund

Blau – Blau machen
Freiheit genießen
auf dem Boden liegend
in den Himmel schauen
ins Blaue!

Von der Enge des Alltags
hinauf in die Weite
durch einen Astkreis
den Blick fokussieren
Gott wahrnehmen, nicht sehen

Der Astkreis schwebt
wie eine Lebenskrone über mir
oder wie ein Fenster in die Ewigkeit
gewachsen, geflochten
gehalten von meinen Begrenzungen

Eine Momentaufnahme?
Wahrnehmung eines Augenblicks?
Oder ist es immer da?
Und ich sehe es nicht?
Das Lebensrad?

Was alles rund läuft in meinem Leben?
Was still und leise treibt
mich bewegt, aufbricht
sprießt und letztlich blüht?
Lebensfülle um die leere Mitte?

Lebensrad
in Bewegung sein
das Leben spüren
seine Veränderung erleben
unsichtbar gehalten und bewegt

Er ist da – und mein Halt
weiten Raum schaffend
Gestaltungsfreiraum gebend
luftige Kraftquelle
Lebensfülle – Atem

Lebensrund, Lebensgrund
zeit-leben-s aus Gott heraus
und auf Ihn hin wachsend als
sichtbare Gestalt des Unsichtbaren
vergängliche Schönheit des Ewigen

 

Bis zum 17. April 2022 sind in der Kirche St. Bonifatius Emmendingen von Carola Faller-Barris eine Kunstinstallation zur Fastenzeit 2022 mit zwei ihrer Kunstwerke zu sehen. Meine Gedanken zu den beiden Kunstwerken können Sie hier lesen: Voll-Kommen und Grace.

Der Schrei

Auf einer kleinen Anhöhe streckt sich in weißes Licht getaucht der gekreuzigte Schmerzensmann nach oben zum Schrei. Man meint die Worte aus dem Psalm 130 (1-2,5) zu hören: „Aus den Tiefen rufe ich, HERR, zu dir: Mein Herr, höre doch meine Stimme! Lass deine Ohren achten auf mein Flehen um Gnade. … Ich hoffe auf den HERRN, es hofft meine Seele, ich warte auf sein Wort.“

Der expressive Bildaufbau führt zu diesem Schrei in der oberen Bildmitte und konzentriert sich in ihm. Von rechts unten führen – die Oberkanten der blauen und grünen Elemente verlängernd und verbindend – Linien im Zickzack treppenartig nach oben. Ähnlich laufen die Verlängerungen der Seitenkanten der blauen und grünen Elemente von unten kommend im Kopfbereich zusammen und kreuzen sich dort.  Auf diese Weise erreicht die ganze Schöpfung mit allem Leben, Leid und allen Schmerzen in diesem gewaltigen Schrei einen einzigartigen Höhepunkt. Die flammend rote Farbe intensiviert den Schrei zum gequälten Aufschrei eines Gefolterten, eines ungerechterweise Höllenqualen Erleidenden, der die Schuld der ganzen Welt auf sich nimmt.

Als Antwort auf diese himmelschreiende Ungeheuerlichkeit finden sich im Bild drei Reaktionen: Rechts oben zeigt sich der Kopf einer Person, die schweigend im Beobachterstatus verharrt. Das rundliche Gesicht könnte auch der verdunkelten Sonne oder Gott Vater gehören, der in sich gekehrt seinem Sohn beisteht, aber nicht in das Leiden eingreift. Im gleichen Weiß wie bei der gezackten zentralen Form schreit links ein Pfau mit dem Gekreuzigten und verstärkt den Schrei von Seiten der Tierwelt. Unter dem Kreuz, es gleichsam mit ihrem Leib umfassend – denn Knie und Ellbogen berühren sich fast – findet sich kniend eine junge Frau, die in ihren Händen ein Tuch mit dem Abdruck eines traurig blickenden Gesichtes hält. Dem Tuch nach wäre die Frau Veronika, in der Tradition wird aber Maria Magdalena weinend unter dem Kreuz dargestellt. Wie auch immer verkörpert die Frau die zutiefst Betroffene, Trauernde, Mitleidende.

Mehrere Bildelemente weisen symbolhaft über den Schrei der Verlassenheit und die letzte Verlautbarung (vgl. Mk 15,34.37) des Gekreuzigten hinaus: Das maskenhaft wiedergegebene Gesicht auf dem Tuch verweist auf die Doppelnatur der Person Jesu („Person“ stammt vom lateinischen „personare“, dem „Hindurchtönen“ der Schauspielerstimme durch die Maske, die seine Rolle charakterisiert). In der menschlichen Gestalt Jesu leidet der Sohn Gottes und in diesem Leiden und Sterben leiden und sterben auch die anderen beiden Personen der Dreifaltigkeit, die untrennbar mit ihm verbunden sind. So kann am linken oberen Bildrand in der verkrampften Hand auch ein zur Mitte gewandtes gefiedertes Wesen – eine Taube –  als Symbol für den Heiligen Geist und auf der anderen Seite das Sonnengesicht als Symbol für Gott-Vater gesehen werden. Jesus leidet in dieser Sichtweise inmitten der Dreifaltigkeit und sein Schrei ertönt im Anblick und Angesicht seines Vaters. Die Palmen und Pflanzenelemente erinnern nicht nur an den Einzug in Jerusalem, sondern deuten auch den bevorstehenden Einzug in das himmlische Paradies, ins himmlische  Jerusalem an (vgl. Lk 23,43). Erich Schickling hat die Kreuzigung zudem in eine Mandelform gemalt (zu sehen sind die „Klammern“ der Mandorla), um die Bedeutung des Kreuzestodes als Übergang und „Geburt“ in diese neue, göttliche Welt zu offenbaren, in der Gott „alle Tränen von ihren Augen abwischen wird: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“ (Offb 21,4)

So trägt der stumme Schrei Jesu stellvertretend das Leid der Welt weiter durch das Bild und über das Bild hinaus in die Ohren Gottes: im Rot die hilflose Wut, all das vergossene Blut, das verlorene Leben, die geopferte Liebe. Im Grün die fragmentierte, zerbrochene Hoffnung, die gegen alle Hoffnung hofft. Im Dunkelblau am Fuße des Kreuzes die Treue der Liebenden, der Glaube, dass nichts verloren geht und die Liebe über den Tod hinaus Früchte trägt (vgl. 1Kor 13,13). Und im Weiß des Gekreuzigten und des Pfaus als Sinnbild des Himmels darf bereits das Licht der Auferstehung aufleuchten. Denn kein Schrei verhallt unerhört in Gottes Ohren, denn „beim HERRN ist die Huld, bei ihm ist Erlösung in Fülle“. (Ps 130,7)

 

Im Pfarrhof Gempfing sind in Verbindung mit der Stadtpfarrkirche St. Johannes Rain am Lech anlässlich des 10. Todestages des Künstlers Hinterglasbilder, Temperabilder, Kreuzwege, Entwürfe zu Glasfenstern ausgestellt. Vernissage ist am Sonntag, 13. März 2022 um 16 Uhr. Anmeldung bitte unter 09090-1346. Danach jeden Sonntag bis Ostermontag (außer Ostersonntag) von 14-17 Uhr geöffnet.

Geheimnis des Glaubens

Die Zusammenschau der drei quadratischen Bilder lässt durch Ihre Heterogenität eine Fülle von Assoziationsmöglichkeiten zu. Denn das Grau der Steine und des Wasserglases oder das runde Element in jedem Bild vermögen Verbindungen zu schaffen und den „Trialog“ zu beleben. Auf verschiedenen Ebenen entstehen Bezüge, die immer wieder um eine Dreiheit kreisen:

Allen drei Bildern geht es um Ausdehnung und um Irritation. Die Ausdehnung erfolgt um eine runde Mitte herum (auch beim Glas hat die nicht sichtbare Öffnung des Glases in etwa den gleichen Durchmesser wie die beiden zentralen Steine). Die verwendeten Primärfarben Gelb, Rot und Blau bilden die Basis für den ganzen Farbenkosmos. Von links oben bis zum unteren Bild ist zudem eine Steigerung zu beobachten. Während die goldgelben Samen, die auch Wachstum beinhalten, noch geschlossen daliegen, scheint die rote Farbe im zweiten Bild wie Feuer oder vergossenes Blut unter dem dunklen Stein hervorzuspritzen, um dann ganz rechts explosionsartig alles zu sprengen und jede feste Form hinter sich zu lassen bzw. in Seifenblasen eine temporäre Form einzunehmen. Letztere stehen im Gegensatz zu den Versteinerungen in den anderen beiden Bildern, die Überzeitliches versinnbildlichen.

Die Bildtitel zu den in einem trompe-d’oeil-haften Realismus gemalten Arbeiten legen einen Zusammenhang mit alchemistischem Denken nahe. Splendor solis lässt an das gleichnamige illustrierte alchemistische Manuskript aus dem 15. Jahrhundert denken, in dem es um die Herstellung und Wirkungsweise des Steines der Weisen geht. Mit Mercurius wird Quecksilber (keckes oder lebendiges Silber) bezeichnet, von dem angenommen wurde, dass es den flüssigen und festen Zustand überschreitet. Ob es sich bei dem Triptychon um eine Darstellung der Tria Prima der Alchemie handelt? In der Tria Prima beschreibt Paracelsus das Gesetz des Dreiecks: zwei Komponenten kommen zusammen, um eine dritte zu erzeugen. Grundlage sind bei ihm Schwefel, Salz und Merkur. Schwefel ist die Flüssigkeit, die das Hohe und das Niedrige verbindet. Salz gilt als Grundstoff, Merkur ist der allgegenwärtige Geist des Lebens.

Doch anstatt von Schwefel liegen Weizenkörner auf dem runden Stein, anstelle von Salz spritzt Blut über die quadratische Platte und statt Quecksilber schießt blasenbildendes Wasser in die Höhe. Diese Beobachtung und auch der zweite Bildtitel Salz der Erde, der in engem Bezug zu Jesus steht, sorgen für Irritation. Sind hier alchemistische Symbole weiterentwickelt worden und mit neuen Bedeutungen verbunden worden? Dann wäre eine christliche Interpretation der vielleicht unorthodoxen Darstellung von etwas Bekanntem gar nicht so abwegig. Vorzugsweise setzen wir unsere Betrachtung rechts oben fort.

Der viereckige Stein ist ein Symbol für die Erde. Mit Salz der Erde werden die Worte aus der Bergpredigt (Mt 5,13) angesprochen, mit denen Jesus auf die unabdingbare, verantwortungsvolle Aufgabe der Jünger in der Welt hinweist, Gutes zu bewirken, sich für Gerechtigkeit und Barmherzigkeit einzusetzen – Licht der Welt zu sein. Jesus hat sein Leben bis in den Tod hinein dafür hingeben. Er ist DAS Salz der Erde, der mit seinem Leben und seinem Blut zur Vergebung des Unrechts an den Menschen neue Maßstäbe gesetzt hat. So kann das mittlere Bild als eine Art Kreuzigung gesehen werden: Gottes Sohn, erschlagen durch unsere Sünden. Sein Blut ist das Salz der Erde, das bewirken sollte, dass solches Unrecht nicht weiter geschieht. Er ist der Stein der Weisen, der in uns diesen Sinneswandel vollbringt und einen menschlichen Goldstandard etabliert wie es keine alchemistischen Wunder zustande bringen. Blut und Wein verweisen auf die Einsetzungsworte beim Abendmahl: „Trinkt alle daraus, das ist mein Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden.“ (Mt 26,27f). Der perfekt runde Stein in der Mitte mag die göttliche Natur Jesu andeuten, die Zweiteilung mit der roten Farbe, dass er mit seinem Blut die gespaltene Erde/Materie versöhnt.

Der runde Stein – ohne Anfang und Ende – ist Symbol für die Unendlichkeit und für Gott. Mit seinen Versteinerungen ist er ein Urgestein. Die Weizenkörner sind im Licht und der Wärme der Sonne (Spendor solis = Pracht der Sonne/Sonnenglanz) gereift und als Goldkörner dargestellt. Mit dem Stein in der Mitte wird ihre nächste Wandlung zu Mehl angedeutet, aus dem dann Brot und andere Lebensmittel gemacht werden können. Entsprechend kann hier eine Allegorie Gott Vaters gesehen werden, der der Sonne ihre Pracht verliehen hat und uns das tägliche Brot schenkt.

Auf dem unteren Blatt wird alles Bisherige gesprengt und in eine neue Daseinsform überführt, der etwas für uns Menschen Unfassbares anhaftet. Das versteinerte Wasserglas birst und das Wasser sucht sich nicht den bekannten Weg der Schwerkraft, sondern breitet sich überraschenderweise wie eine in die Freiheit entlassene Materie nach oben aus, die dabei noch fröhliche Luftblasen bildet. Merkur bzw. Hermes war in der griechischen Mythologie der geflügelte Götterbote, der Überbringer von Botschaften. Im christlichen Glauben wird die unsichtbare göttliche Kraft dem Heiligen Geist zugeordnet, der kreativ in der ganzen Schöpfung am Wirken ist: unsichtbar, geheimnisvoll, wunderbar, lebendig.

So liegt die Vermutung nahe, dass Manfred Scharpf in diesem Triptychon über die alchemistische Tria prima hinaus die grundlegende und alles umfassende „Tria prima“ des christlichen Glaubens allegorisch gemalt hat: Vater, Sohn und Heiliger Geist. Oder anders betrachtet: Das mystische Geheimnis der beiden Hauptsakramente Taufe und Abendmahl (Brot und Wein).

Urvertrauen

Ein kleines Kind schaukelt im dunklen Universum. Es scheint sich wohl zu fühlen, denn es schaut interessiert nach links in die sternenübersäte Unendlichkeit. Hell heben sich sein weißes T-Shirt und die rote Baseballmütze von der schwarzen Nacht ab, die es von allen Seiten umgibt. Der kleine Pferdeschwanz verrät, dass es ein Mädchen ist, das sich auf seinem Schaukelsitz im Weltall vergnügt.

Doch wie kann das sein? Wer oder was hält die Seile der Schaukel? Woher kommt das Licht, welches das Kind warm und vertraut beleuchtet? Was ist das für ein geheimnisvolles Leuchten, das sich wie ein weiches Polster unter dem Kind ausbreitet? 

Obwohl es nicht so aussieht, gibt das Bild auf diese Fragen eindeutige Antworten: Die gespannten Seile verraten, dass die Schaukel gehalten wird, auch wenn nicht zu sehen ist, an welcher Stelle die Seile befestigt sind. Das helle Licht von der Seite ist da, auch wenn die Lichtquelle selbst nicht sichtbar ist. Der warme Schein unten lässt vermuten, dass das Licht von einer lebensfreundlichen Atmosphäre reflektiert wird. Anders formuliert: Es gibt da jemanden, der das Kind mit seinem Licht beleuchtet und unsichtbar hält. Da ist jemand, dem das Kind wichtig ist und es im Vergleich zur Unendlichkeit des Alls groß macht und aufleuchten lässt. Da ist jemand, der das Mädchen in kindlichem Urvertrauen seine haltgebende Präsenz ganz real spüren und erleben lässt.

So schaukelt das Kind trotz der Dunkelheit voller Vertrauen, weil es weiß: Ich bin nicht verloren! Ich werde gehalten! Es ist licht! Obwohl das Mädchen ganz allein ist in der Unendlichkeit des Alls, braucht es keine Angst zu haben. Vielmehr strahlt es die Freude aus, die beim lustvollen Hin- und Herschaukeln mitschwingt.

Dieses Hoch- und Hinüberschaukeln mag viel vom Lebensgefühl ausdrücken, das viele Menschen zum Jahreswechsel haben: Das Hinüberblicken und -schwingen in eine ungewisse, dunkle Zukunft. Doch wer sich in das Kind hineinzuversetzen und die Schaukelbewegung aufzunehmen vermag, erinnert sich vielleicht an das beruhigende Gefühl, von starken Armen gehalten hin- und hergewiegt zu werden. Oder daran, wie gut in Kindertagen das Hin- und Herpendeln auf der Schaukel tat: Die Schwerkrafterfahrung im Belastungswechsel von Erdenschwere und Schwerelosigkeit, das rhythmische Hoch und Runter, das gepaart mit Beschleunigung und Verlangsamung, Anspannung und Entspannung zum Finden der Mitte und zur Stabilisierung des Gleichgewichtssinnes beitrug. So dient das Schaukeln auch dem Einschwingen der Seele in den Rhythmus des Kosmos.

Das Schaukeln holt ins Hier und Jetzt zurück, lässt das Gehaltensein spüren, aber auch die unbeschwerte Freiheit. Es vermittelt Selbstvertrauen, die Bewegung und den Schwung mit den eigenen Kräften und eigenem Geschick mitzugestalten. Schaukeln wie ein Kind ist ein Gleichnis für die Beziehung des Gläubigen zu seinem Gott und Vater. Es vermittelt das Wissen um einen liebenden Halt, der Gemeinschaft, Verbundenheit und damit Sicherheit in allen Lebenslagen gibt. Und es bringt das Urvertrauen zum Ausdruck, das in allem unserem Tun mitschwingt, dass, wenn alles anders kommt, als wir es uns ausdenken, vorhersehen oder planen konnten, wenn also alle Stricke reißen, Gott nicht nur über uns, sondern auch unter uns seine liebende Gegenwart wie ein rettendes Netz ausgespannt hat, um uns im Fall aufzufangen und uns wieder aufzuhelfen.

 

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
(Dietrich Bonhoeffer)

Dieses und weitere Kunstwerke von Stefanie Gerhardt sind bis zum 20. Februar in der Ausstellung „kopfüber himmelwärts“ in der Städtischen Galerie Neunkirchen im Original zu sehen.