Beflügelndes Miteinander

Leben ist diesem vermutlich intuitiv entstandenen Bild eingeschrieben. Leben ohne Vorgabe, ungebundenes, freies Leben! Lebendigkeit, die sich in der spielerischen Entfaltung von Strichformen und Farbakzenten, in der freien Bewegung und dem geselligen Miteinander äußert.

Das helle und fröhliche Bild kann auf ganz unterschiedliche Weise betrachtet werden. Nachfolgende Zugänge können eröffnende Impulse sein.

Welcher Strich, welches Lebenszeichen, mag wohl der erste auf der Leinwand gewesen sein? Wo fand ein zweiter Strich seinen Platz, als Ausgleich und Partner zum ersten? Welcher Strich ergänzte dieses Paar zu einem Trio bzw. zu einer Familie? Auf welche Weise verdichteten sich die Striche bis nach und nach das komplexe Gefüge einer (Farb- und auch Lebens-) Gemeinschaft entstand? Welche Striche sind bei der Entstehung der Komposition übermalt worden und haben dabei die Farbe gewechselt?

Die vielen Pinselstriche verunmöglichen wie bei einem Schneegestöber einen Blick in die Tiefe. Während vorne die starken Farben wirken, verwirbeln die schwächeren nach hinten. Die unterschiedliche Intensität ermöglicht umgekehrt ein Auftauchen oder Erscheinen der Farben, indem die Pinselstriche mit zunehmender Farbigkeit in den Vordergrund rücken und über den anderen Strichen zu schweben scheinen.

Diese lebensfrohe Komposition durchziehen fast unmerklich Bewegungen, die durch farb- und formbedingte Verdichtungen entstanden sind. Sie äußern sich in vielfältigen Bezügen, Farbintensivierungen, Aneinanderreihungen, Gruppenbildungen. So bilden zwei „Linien“ – ausgehend von den unteren Ecken – über der Bildkante eine in das Bild hineinführende Dreiecksform. Darüber, leicht nach rechts verschoben, eine Ansammlung von gelb-orangen und violetten Strichen, die eine Kreisform ohne feste Mitte bilden. Zudem schwingt ein großer Bogen von der rechten unteren Ecke links um die Kreisform herum zur rechten oberen Ecke hoch. Nicht zuletzt finden sich in der linken oberen Ecke gelb-orange Striche dicht beieinander. Einen Akzent bildet der vielfarbig schräg angelegte blau-weiße Strich in der oberen Mitte. Er wirkt in seiner Umgebung von gelben und weißen Strichen wie ein Ruhepol im Fluss der Farben, wie ein „Aufhänger“ oder Anker bei gedanklicher Unruhe. Ein spiegelbildliches Gegenüber oder „Dialogpartner” findet er in der gelbrot übermalten dunkelblauen Spitze des Dreiecks unten.

Es ist ein Tanz der Farben auf der Leinwand, bei dem jeder Strich voller Kraft und Dynamik für sich selbst stehen könnte und ein eigenes Kunstwerk bildet. In schier endloser Kombination steht jeder farbige Pinselstrich mit den anderen im Dialog und zusammen entwickeln sie eine Dynamik, die im Miteinander über sich selbst hinauswächst: beflügelnd, begeisternd, beseelend, bestärkend, belebend, bewegend. Durchdrungen und getragen von Dem, der das Leben selbst ist und es mit Seiner Liebe erfüllt.

In dem Sinne könnte das Gemälde ein Sinnbild einer Gesellschaft sein, die aus Individuen, wechselnden Gruppen und deren Interaktionen besteht. Einer Gesellschaft, in der durch die Liebe erbauende und einende Kräfte wirken, welche die vielen auseinanderstrebenden Gruppen zu einer Gemeinschaft verbinden. Ganz wie der Apostel Paulus Gläubige in Kolossai ermahnt: „Vor allem bekleidet euch mit der Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist! Und der Friede Christi triumphiere in euren Herzen. Dazu seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes. Seid dankbar!“ (Kol 3,14-15) Wer so lebt, wird – wie jeder Pinselstrich im Bild – Spuren voller Leidenschaft, spontaner Lebenszeichen, tiefgründiger Freude hinterlassen, die das Miteinander beflügeln.

Herzensarbeit

Wie eine kosmische Wolke schweben und leuchten die vielen stilisierten Sterne vor dem nachtschwarzen Hintergrund. Jeder Stern ist aus sechs sich kreuzenden Strichen zusammengesetzt. Ihre Farbigkeit erinnert an eine bunte Blumenwiese oder an ein sich immer wieder neu entfaltendes Feuerwerk. Unterschiedliche Größen formen Gruppen und vermitteln ein natürliches Wachstum und einen lebendigen Dialog zwischen den einzelnen Sternen und Sternhaufen. Ein Dutzend weißer Sterne umgibt den Verband wie vorgelagerte Außenposten. Der „Blumenteppich“ leuchtet durch seine starke Farbigkeit von innen heraus, die dunkleren und dahinterliegenden Sterne verleihen dem Gebilde eine kosmische Tiefe und lassen eine starke Lichtquelle hinter dem Betrachter vermuten.

Das Bild ist über einen längeren Zeitraum entstanden. Jeden Tag hat der Künstler in einer anderen Farbe einen Stern gemalt oder eine Blume sich entfalten lassen. So haben sich über die Wochen und Monate viel Zeit und Aufmerksamkeit in diesem Bild versammelt und jedem einzelnen Stern in dem Gesamt einen einzigartigen und leuchtenden Platz gegeben.

Das Sternenmeer oder der „fliegende Blumenteppich“ lassen mich an den bekannten Pfadfinderspruch denken: „Jeden Tag eine gute Tat!“ Denn durch jede gute Tat, durch alles, was man tut, um anderen eine Freude zu machen, geht gewissermaßen ein Stern oder eine Blume auf. Jede gute Tat verändert  positiv das Leben des Beschenkten – und auch des Schenkenden selbst. Gutes Tun erfüllt den Tag mit Sinn und Zufriedenheit, weil das Leben wertgeschätzt und gefördert wird.

Jesus lebte uns beispielhaft vor, auf wie vielfältige Weise man Gutes tun kann. Seine Worte waren und bleiben Worte der Wahrheit und des Heils. Er holte Verstoßene und Ausgegrenzte in die Gemeinschaft zurück und gab ihnen neue Chancen. Er war barmherzig, wenn Menschen ihre Verfehlungen erkannten und um Vergebung baten. Er lebte in Armut und anspruchslos ganz aus der Beziehung zu seinem himmlischen Vater. Die guten Worte und Werke Jesu leuchten wie Sterne in der Nacht, sie sind für jeden, dem sie zugutegekommen, eine bleibende Wohltat und Freude, ein ewiges Heil.

Paulus ermutigt die Gläubigen in Galatien (Gal 6,10): „Deshalb lasst uns, solange wir Zeit haben, allen Menschen Gutes tun“ und die Gemeinde in Thessaloniki (2 Thess 3,13): „Ihr aber, Brüder und Schwestern, werdet nicht müde, Gutes zu tun!“ Seine Worte tönen bis in unsere Zeit, wo sie auch von weltlichen Seelenführern aufgenommen werden, weil das Gute-Tun einen wesentlichen Einfluss auf das Glück aller und auch das Seelenheil des Schenkenden hat.

So leuchten auch unsere guten Gedanken, Worte und Werke wie Sterne im Leben unserer Mitmenschen. Insbesondere wenn es ihnen nicht gut geht, ist das an sie herangetragene Gute in ihrer Dunkelheit ein Lichtblick der Hoffnung, in ihrer Ratlosigkeit haltgebende Orientierung, in ihrer Krankheit oder Einsamkeit eine heilsame Umarmung, in der Armut und Not eine wertvolle Zuwendung.  In unserem Leben brauchen wir das Gute so notwendig wie die Luft zum Atmen. Ist es da verkehrt, in dem Sternenensemble auch ein Herz, mehrere Herzen oder zwei Lungenflügel zu sehen, die das Gute ein- und ausatmen – immer und immer wieder – und es zum Leuchten bringen?

Geisteskraft

Eine eruptive Stichflamme bestimmt dieses Bild. Sie bricht aus dem dunklen kantigen Teil des Bildes hervor und gestaltet lebendig die Bildmitte. Sie ist der helle Mittelpunkt im dunkleren Umfeld. Sie ist das Licht in der Nacht, die unbändige Kraft in der lähmenden Kälte der Erstarrung.

Der abstrakte Aufbau des Bildes lässt keine zeitliche oder örtliche Zuordnung des Geschehens zu. Einzigartig und gleichzeitig unendlich steht es im Raum des sich stetig erneuernden Geschaffenen.

Es ist eine Urkraft zu spüren, die wie bei einem Vulkanausbruch aus der Tiefe kommend gewaltige Massen zu bewegen und zu verändern vermag. Mit den warmen Gelb- und Rottönen wird eine kraftvolle Energie angedeutet, das verdeckte Licht lässt ahnen, dass sie im Verborgenen agiert und der große Widerschein verweist auf ihre übergroße Wirkung.

Das Bild erinnert an Auferstehungsbilder, in denen sich Christus in hellem Glanz aus dem Grab erhebt. Vielleicht soll in dieser Assoziation aufleuchten, dass Jesus nach der Auferweckung von den Toten seinen Jüngern den „Heiligen Geist“ geschenkt hat (Joh 20,22), und „die Verheißung“ seines Vaters in Erinnerung rufen, dass „die Kraft aus der Höhe“ sie erfüllen wird (Lk 24,49). Schemenhaft und subjektiv meint man eine formatfüllende rundliche Form zu erkennen, die oben links eine Doppelung aufweist. Ob in diesen beiden “Köpfen” Vater und Sohn gesehen werden dürfen, die uns aus ihrer göttlichen Einheit heraus ihren Geist senden, damit wir mit ihnen eins werden? – So gesehen erscheint das Bild wie eine moderne Dreifaltigkeitsdarstellung!

Gleichzeitig darf das Licht in der Bildmitte mystisch spirituell auf uns gedeutet werden:  Der Heilige Geist ist ein Geschenk Gottes an alle Menschen, um aus einer intensiven Verbindung mit Gott unsere Beziehungen zu Ihm, den Mitmenschen und der ganzen Schöpfung zu gestalten. So ist es der Heilige Geist, der in dieser Verbundenheit in unseren Geistesblitzen aufleuchtet und der überall wirkt, wo wir geistesgegenwärtig seinen Impulsen folgend handeln. Der Heilige Geist stärkt unsere Begabungen, er brennt in unserer Leidenschaft und befeuert unser Engagement für das Gute.

Wie das Magma im Innern der Erde glüht der Heilige Geist in uns. Wir sind wie Vulkane, durch die seine erneuernde Lebenskraft fruchtbar in unsere Lebenswelten einfließen will. Das geschieht die meiste Zeit still und unbemerkt, doch es gibt auch gewaltige Ausbrüche und Manifestationen, bei denen große Veränderungen und Wandlungen bewirkt werden. Die schöpferische und erneuernde Kraft des Heiligen Geistes wird oft unterschätzt. Sie vermag Welten zu bewegen und in einem stetigen Prozess zu erneuern. Die gleiche Kraft Gottes ist in uns aktiv, belebt und erneuert uns unablässig. Sie ermutigt, stärkt, tröstet und fördert unseren Geist und unsere Kräfte in einem uns angemessenen Maß. Zum einen durch den Glauben, dann durch die Hoffnung, vor allem aber durch die Liebe.

 

1. Der Geist des Herrn erfüllt das All
mit Sturm und Feuersgluten;
er krönt mit Jubel Berg und Tal,
er lässt die Wasser fluten.
Ganz überströmt von Glanz und Licht,
erhebt die Schöpfung ihr Gesicht,
frohlockend: Halleluja.

2. Der Geist des Herrn erweckt den Geist
in Sehern und Propheten,
der das Erbarmen Gottes weist
und Heil in tiefsten Nöten.
Seht, aus der Nacht Verheißung blüht;
die Hoffnung hebt sich wie ein Lied
und jubelt: Halleluja.

3. Der Geist des Herrn treibt Gottes Sohn,
die Erde zu erlösen;
er stirbt, erhöht am Kreuzesthron,
und bricht die Macht des Bösen.
Als Sieger fährt er jauchzend heim
und ruft den Geist, dass jeder Keim
aufbreche: Halleluja.

4. Der Geist des Herrn durchweht die Welt
gewaltig und unbändig;
wohin sein Feueratem fällt,
wird Gottes Reich lebendig.
Da schreitet Christus durch die Zeit
in seiner Kirche Pilgerkleid,
Gott lobend: Halleluja.

Maria Luise Thurmair, GL 347 / EG 554

Link zu allen Pfingstbildern der Künstlerin

Befreiung zum Leben

Jedem der drei heiligen Tage ist im Triptychon ein Bild gewidmet: Karfreitag, Karsamstag und Ostern. Farblich sticht durch die rötlich-braune Farbe das mittlere Bild heraus, von der Form her ist das Kreuz am besten zu fassen, während das Osterbild je nach Sichtweise Unterschiedliches zu sehen ermöglicht.

Die hellen, gleichlangen Balken verweisen als Kreuzzeichen auf den Tod Jesu, weshalb dieses Bild dem Karfreitag zugeordnet werden kann. Das Kreuz wirkt wie eine Klammer über dem breiten Rahmen, wie ein Gitter vor einer Fensteröffnung, um etwas Dahinterliegendes zu versperren. So sehr das Kreuz im Vordergrund steht, führt der Blick daran vorbei in die Tiefe, in eine mit lichten Punkten durchsetzte Finsternis. Das Lichtermeer in der Nacht erinnert an das stille Totengedenken auf Friedhöfen, bei denen allein die Kerzenlichter bis zum Verlöschen bei den verstorbenen Lieben ausharren.

Doch das Kreuz selbst trägt im „Brustbereich“ oder im Herzen das Leiden und den Schmerz, den Tod und die Einsamkeit. So erhält seine Gestalt menschliche Züge, bei der die Arme weit ausgebreitet sind – wie um alle Menschen aufzufangen und vor dem Verderben zu retten. Auch die weißliche Farbe des Kreuzes kann in diese Richtung gedeutet werden: Jesus ist der, „der heilig ist, frei vom Bösen, makellos, abgesondert von den Sündern und erhöht über die Himmel.“ „Darum kann er auch die, die durch ihn vor Gott hintreten, für immer retten.“ (Hebr 7,26.25) Das helle Kreuz macht deutlich: Jesus ist „das Lamm Gottes, das die Sünde der Welt hinwegnimmt!“ (Joh 1,29).

Das Starre, Recht-Eckige, Unflexible und Unbewegliche findet sich auch im zentralen Bild. Die engmaschige Gitterstruktur der schwarzen Linien erinnert an ein dorniges Heckendickicht. Doch im Durchblick auf das rötliche Licht ist Verwandlung spürbar. Dunkel ist bereits die schalenförmige Grundstruktur des Auferstehungsbildes angedeutet, aber sie gleicht mehr einem von Erkenntnis erschrockenen und darunter leidenden Kopf. Inferno und Fegefeuer können in diesem Bild gesehen werden, aber auch eine Transformation zu etwas Neuem. Oder ein alle Verstorbenen vertretendes Gesicht, das als Seele darauf hofft, bei Gott Erbarmen zu finden und von Jesus beim Hinabsteigen zu den Toten gerettet zu werden.

Das dritte Bild nimmt die weiß-braunen Farben des linken Bildes auf und ordnet sie neu. Gott läutert und wandelt das Bestehende in der glühenden Kraft seiner Liebe zu einem befreiten, ungebundenen Leben, das allein aus der Liebe heraus handelt. Es gibt nicht mehr verschiedene Ebenen, sondern nur noch die Gegenwart der Auferstehung. Formal wird das durch die freien und lebendigen Formen zum Ausdruck  gebracht, inhaltlich durch die Heimkehr zu Gott, der Begegnung mit IHM, seiner Umarmung und der dadurch erfahrenen Geborgenheit (vgl. Lk 15,24). Die schwungvollen Formen machen zudem deutlich, dass die Auferstehung ein lebendiger Prozess des Erkennens und Wahrnehmens ist, in dem die neue Wirklichkeit Gottes in unserem Leben erst nach und nach sichtbar wird. So ähnlich wie bei den Emmausjüngern (vgl. Lk 24,13-35), die ebenfalls in diesem Bild gesehen werden können.

Die Zusammenschau aller drei Bilder tut gut und ermöglicht ein Ausloten und Finden des eigenen Standpunktes. Das Triptychon zeigt in Leserichtung einen befreienden Entwicklungsprozess auf: Das stellvertretende Opfer Jesu und seine Auferstehung befreien zu einer erneuerten Beziehung zu Gott, die Kraft und Mut gibt, Verantwortung zu übernehmen und sich aktiv und kreativ den Aufgaben unserer Zeit zu stellen.

Erlöser der Welt

Zweifach und dem Betrachter frontal zugewandt wird der segnende Christus in diesem Diptychon dargestellt. Jesus ist in beiden Bildern nach dem berühmten Vorbild des Salvator Mundi von Leonardo da Vinci um 1500 wiedergegeben, allerdings in Grisaille-Technik und mit deutlichen Veränderungen. Im Vergleich zum Original – bei dem Jesus in idealer Gestalt als Licht und Erlöser der Welt aus dem dunklen Hintergrund heraustritt – hat Manfred Scharpf gerade die Hintergründe am stärksten verändert und dadurch Christus als Salvator Mundi, als Erlöser der Welt, in neue Zusammenhänge gestellt.

In jedem Bild sind in Variationen die gleichen acht Elemente dargestellt: Christus, der Hintergrund, die Doppelkugeln in seiner Hand, das Weinglas bzw. der Kelch auf der linken Seite, der Brustschmuck, die Seifenblasen, die Klaviatur der Farben als Basis des Bildes und die Zeichen der Zerstörung und des Aufbruchs. Die meisten Elemente sind komplementär, also gegensätzlich, aber sich ergänzend dargestellt. Sie erzählen unterschiedliche Geschichten, zielen aber auf das Gleiche. Im Vergleich der Unterschiede entsteht die Frage nach deren Bedeutung. Durch die Nebeneinanderstellung der beiden Varianten erweitert sich der Dialog zwischen den nicht abschließend zu entschlüsselnden Symbolen.

Links wirkt der Erlöser gealtert. Vor allem im Halsbereich ist ein Netz von Sprüngen und Rissen zu beobachten, die auf den Verfall des Originalbildes verweisen. An den Stellen, die auf dem nicht restaurierten Originalbild von Da Vinci größere Fehlstellen aufwiesen, sind bei Manfred Scharpf gemalte Verletzungen und Durchbrüche der Leinwand zu sehen. Sie sind mit dem kostbaren Pigment Lapislazuli gefüllt und deuten auf einen dahinterliegenden Himmel. Jesus wird mit einer traubenbehangenen Krone dargestellt, eingewachsen in das Astwerk einer Weinrebe. So erscheint er als Dionysos, der griechische Gott des Weines, der schöpferischen Naturkraft und der Ekstase. Die Darstellung erinnert aber auch an die Worte Jesu: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und in wem ich bleibe, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts vollbringen.“ (Joh 15,5) Dieser Satz tönt wie eine Mahnung, dass Jesus als Salvator Mundi nur die erlösen kann, die mit ihm in enger und lebendiger Beziehung leben. So wie Jesus mit dem Ast- und Blattwerk verwachsen in den Hintergrund rückt, verstärkt die Distanzierung die Aussage, dass er im Lebensalltag vieler Menschen keine große Rolle mehr spielt.

Dagegen ist der Messkelch im blauen Kreis nach vorne ins Blickfeld gerückt wie ein Markenzeichen. In der Kugel in der Hand des Erlösers ist er schwach angedeutet und steht schief. In der schwebenden Kugel steht der Kelch jedoch gerade und leuchtet farbintensiv. Neben dem Brustschmuck in Form eines gebrochenen und mit einem Nagel durchbohrten Herzens vermag der Kelch an die Worte Jesu beim letzten Abendmahl zu erinnern: „Das ist mein Leib, der für euch hingegeben wird. Tut dies zu meinem Gedächtnis! […] Dieser Kelch ist der Neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird.“ (Lk 22,19-20) Erlösung ereignet sich gerade in der Kommunion mit Jesus in der Gestalt von Brot und Wein. Die Heilkraft des Kelches wird durch die Struktur eines aufgeschnittenen Achats verstärkt, der den Ruf eines Heilsteins hat (vgl. Hildegard von Bingen) und die Form eines Omega zeichnet, des letzten Buchstabens im griechischen Alphabet. „Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende. Wer durstig ist, den werde ich unentgeltlich aus der Quelle trinken lassen, aus der das Wasser des Lebens strömt.“ (Offb 21,6) Damit geht es im Abendmahl um mehr als um eine Grals-Mystik, – in der der Kelch als wunderkräftiges, heiliges Gefäß, als Gral, beschrieben wird, – denn Jesus schenkt uns Erlösung durch die Spende seiner ewigen Lebenskraft.

Auch im rechten Bild ist der Hintergrund stark gegliedert. Die Natur ist durch menschliche Bauten vollständig verdrängt worden. In der Bildmitte trennt eine Mauer aus Goldbarren die Welt der Menschen mit Atomkraftwerken, religiösen Bauten und Hochhäusern, die wie rauchende Fabrikschlote wirken, von der göttlichen Welt. Die Geld- und Profitgier beutet die Ressourcen der Schöpfung schonungslos aus, mit der Folge, dass die Schönheit der ursprünglichen Schöpfung völlig verunstaltet und verschwunden ist.

Jesus als Erlöser ist durch die Mauer klar von dieser Menschenwelt getrennt und dadurch in den Vordergrund gerückt. Seine segnende Hand erscheint mit dem erhobenen Zeigfinger in diesem Kontext mahnend. Auch die schwebenden Seifenblasen mahnen, dass die „Blase“ schnell platzen und sich der scheinbare Reichtum in Nichts auflösen kann. Auch aus dieser Darstellung kann Jesus gehört werden, wie er sagt: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde, wo Motte und Wurm sie zerstören und wo Diebe einbrechen und sie stehlen, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen! Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. […] Niemand kann zwei Herren dienen; er wird entweder den einen hassen und den andern lieben oder er wird zum einen halten und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ (Mt 6,19-21.24)

In diesem Bild wird in der farbigen Glaskugel die Natur in der Gestalt eines Weinstocks hervorgehoben. Er wirkt wie eine Antithese oder Vision zur zerstörten Natur im Hintergrund. Der Weinstock verweist auf den Ursprung und erinnert an die bereits zitierten Worte, dass ER der Weinstock und wir die Reben sind und wir von IHM getrennt nichts Dauerhaftes zustande bringen. Die Trauben, die Jesus wie nebensächlich auf dem Zeigefinder seiner segnenden Hand balanciert, verstärken diese Aussage. Sie befinden sich an einem zentralen Ort in diesem fein pointierten „Denk-mal“. Als rundes, natürliches und mit Leben gefülltes und dadurch göttliches Element bilden sie einen formalen Gegensatz zu den eckig-künstlichen Goldbarren. Ihnen scheint eine große Sprengkraft innezuwohnen, denn an dieser Stelle beginnt die Mauer instabil zu werden und die Gold-Ziegelsteine in der Mauer des irdischen Paradieses beginnen herunterzufallen. Diesbezüglich wiederholt und verdichtet sich das linke Bild in diesem Rondo.

Es bleibt die Reflexion der fallenden Gefäße und des roten Scheins im Hintergrund des rechten Bildes. Während das Weinglas mit den grünen Trauben unauffällig dargestellt ist, spritzt aus dem Kelch im rechten Bild eine rote Flüssigkeit heraus. Ist es das Blut, das Jesus für uns vergossen hat und das mit roten Tropfen im linken Brustschmuck bereits angedeutet wird? Oder deutet der fallende Kelch auf die versäumte Chance, das Heilsangebot Jesu anzunehmen und durch ihn Erlösung von allen Gebundenheiten zu erhalten, die unfrei und krank machen und zum Tode führen? Die rote Farbe findet sich hinter Jesus ganz oben im Bild zwischen den Häusern am Horizont wieder. Zum einen als diffuser, indirekter Schein eines verborgenen Brandes oder einer sonnenähnlichen Lichtquelle, zum anderen als tropfenartige rote Punkte, die an Jesu Wort erinnern: „Ich bin gekommen, um Feuer auf die Erde zu werfen. […] Meint ihr, ich sei gekommen, um Frieden auf der Erde zu bringen? Nein, sage ich euch, sondern Spaltung. […] Wenn ihr im Westen eine Wolke aufsteigen seht, sagt ihr sofort: Es gibt Regen. Und so geschieht es. Und wenn der Südwind weht, sagt ihr: Es wird heiß. Und es geschieht. Ihr Heuchler! Das Aussehen der Erde und des Himmels wisst ihr zu deuten. Warum könnt ihr dann diese Zeit der Entscheidung nicht deuten? Warum findet ihr nicht schon von selbst das rechte Urteil?“ (Lk 12,49a.5.54-57)

Das Diptychon thematisiert also zum einen unseren rauschartigen, egoistischen und die Welt ausbeutenden Lebensstil und zum anderen die entscheidende Kernfrage, ob wir Christus bzw. dem Salvator Mundi die Rettung und Erlösung der Welt noch zutrauen. Wenn nicht, dann muss der Mensch mit seinen beschränkten Fähigkeiten und Möglichkeiten permanent versuchen die Welt „selbst zu retten“ – mit den fatalen Folgen, die wir allenthalben sehen. Wenn ja, dann müsste jede und jeder einzelne von uns sehr viel demütiger sein und Gott einen Platz in seinem Leben geben, der Erlösung und damit Veränderung von innen heraus bewirkt.

Von Gottes Gegenwart erleuchtet erkennen

Kraftvoll umreißt die gelbe Linie eine menschliche Kopfform und lässt sie aus dem blau-grünen Grund hervortreten. Die Form ist nach oben geöffnet, wodurch die beiden geschwungenen Linien auch wie grafisch vereinfachte – den Kopf umfassende – Hände gesehen werden können. Nur das rechte Auge ist mit Bleistift ausgearbeitet und mit einem gelben Strich konturiert und hervorgehoben. Der Mund ist lediglich angedeutet. Alle anderen Gesichtsmerkmale sind weggelassen worden, um die Botschaft klarer zum Ausdruck zu bringen. Die Signatur am linken unteren Bildrand gleicht einem achtlos weggeworfenen Auge. Offensichtlich ist das zweite, für das räumliche Sehen wichtige Auge für den Prozess des geistigen Sehens unbedeutend.

Dafür bricht von der oberen rechten Ecke ein weißliches Objekt in die Bildfläche und den Kopf dieses Menschen ein. Die kantige Form lässt an einen keilförmig behauenen Stein denken, der, ohne die Schädeldecke zu verletzen, ins geistige Bewusstsein tritt, die eigenen Vorstellungen durchbricht und ins Geistige überführt. Die stilisierte Dreidimensionalität der Form kann auch als lichtes Buch gesehen werden, dessen Inhalte in den Geist des Menschen übergehen. Die weiße Farbe, die lebendige Offenheit der Form und die von oben hereinbrechende Bewegung erinnern auch an die Taube als Symbol für den Heiligen Geist.

Begeisterung? Oder geht es mehr um den Geist der Erkenntnis, um den Geist, der uns mit Gedankenblitzen mehr als nur das Sichtbare sehen lässt? Tut es nicht grundsätzlich und immer not, über die vordergründige Begrenzung hinauszusehen, die Wirklichkeit in ihren Höhen und Tiefen auszuloten und auch die geistige Dimension ins Auge zu fassen? Letztlich bis in die Seele zu blicken?  Der jugendliche Gesichtsausdruck und die wache Kopfstellung lassen spüren, wie dieser Mensch etwas Unsichtbares entdeckt hat und nun mit dem geistigen  Auge zu erkennen und mit dem Verstand zu „begreifen“ versucht.

Der fokussiert suchende und gleichzeitig die gesichtete Wirklichkeit abtastende Blick fasziniert. Der aufmerksam nach oben gerichtete Blick wirkt wie durch ein Fernrohr in die Weite gerichtet und gleichzeitig wie ein Röntgenblick, wie ein die Wirklichkeit durchdringendes Schauen, das auch unsichtbare Welten wahrnimmt und zu fassen versucht.  Die weichen, die Kopfform querenden Pinselstriche mögen für diese unsichtbaren und doch gegenwärtigen Welten stehen, die wie Gedanken durch den Kopf gehen und den Hintergrund wie das Wasser eines unergründlichen Sees erscheinen lassen.

Die gelben Linien elektrisieren. Es geht darum, nicht nur mit dem äußeren Auge zu erkennen, sondern die Wahrheit auch mit dem inneren, geistigen Auge zu sehen und anzunehmen, bis sich Gott im “Auge als Spiegel der Seele” wie ein Lichtpunkt widerspiegelt. Wer IHN in sein Leben aufnimmt und Jesus in allen Menschen erkennt, der ist ein von Gott wie von einem Keil Gezeichneter und gleichzeitig ein von Gottes Gegenwart Leuchtender.

„Der Gott Jesu Christi, unseres Herrn, der Vater der Herrlichkeit, gebe euch den Geist der Weisheit und Offenbarung, damit ihr ihn erkennt. Er erleuchte die Augen eures Herzens, damit ihr versteht, zu welcher Hoffnung ihr durch ihn berufen seid, welchen Reichtum die Herrlichkeit seines Erbes den Heiligen schenkt und wie überragend groß seine Macht sich an uns, den Gläubigen, erweist durch das Wirken seiner Kraft und Stärke.“
(Eph 1,17-19)

Dialoge

In dem konstruktivistisch anmutenden Bild befinden sich sechs flächige Formen paarweise miteinander im Dialog. Zwei olivgrüne, senkrecht stehende Rechtecke bilden die größten Dialogpartner. Sie stehen sich in gleicher Größe und gleicher Höhe mit respektvollem Abstand gegenüber.

Über den olivgrünen Rechtecken sind oben zwei Quadrate miteinander im Gespräch, unten zwei breite grüngelbe Bogenformen. Beide Formen verbinden auf eigene Weise die beiden Rechtecke.

Die beiden Quadrate gleicher Größe sind versetzt übereinander und auch versetzt zur Mitte angeordnet. Ihre Gestaltung ist gegensätzlich: Während das obere Quadrat durch das Blattgold hell leuchtet und sich solitär über den beiden gelben Bogenformen erhebt, ist  das dunkelgrüne Quadrat durch seine farbliche Nähe zu den darunterliegenden Rechtecken nur schwach präsent bzw. hat es für diese eine Brückenfunktion.

Die beiden Bogenformen sind die einzigen dynamischen Elemente im Bild. Ihre Bewegung führt von der Seite her nach oben und nach unten gewölbt zueinander und übereinander, um auf der anderen Seite wieder auseinanderzugehen. Die eine ist wie eine Schale nach oben geöffnet, die andere wölbt sich entgegengesetzt wie ein Hügel in der Landschaft. In der teilweisen Überlagerung verdichtet sich ihre Farbe und erhalten die Formen Halt.

Ein Stück Stacheldraht und das Wort DU bilden das letzte Gesprächspaar. Während das helle, goldgelbe DU für das Gegenüber offen ist und es zur Begegnung einlädt, grenzt der schwarze Stacheldraht das Gegenüber als unerwünschte Person aus. In der Mitte des Bildes erinnert er auch, dass Begegnungen und Beziehungen mitunter nicht harmonisch verlaufen und zu Verletzungen und Ausgrenzungen führen können.

Mit diesen vier symbolischen Gesprächspaaren und ihrem Dialog miteinander und untereinander ist in dem Bild alles auf Begegnung und Beziehung ausgerichtet. Dabei wird das verbindende und gemeinschaftsstiftende Wesen von Begegnungen ebenso sichtbar, wie der respektvolle Dialog auf Augenhöhe oder die Verletzlichkeit, die entsteht, wo Menschen sich einander öffnen. Ermutigend, tröstend und vergebend leuchtet über allen menschlichen Begegnungen das für Gott stehende goldene Quadrat. Als Quelle des Lebens ist er der Ursprung jeder Begegnung. Als das Licht der Welt begleitet und führt er uns durch alle Höhen und Tiefen.

So spiegelt sich in den vielfältigen Bezügen der konstruktiven Bildformen Gottes trinitarisches Wesen und seine liebevolle Zuwendung zum Menschen: Die beiden senkrechten Hintergrundrechtecke können als Gesetzestafeln gesehen werden, als haltgebende Struktur für die menschliche Gemeinschaft, die deutlich Recht und Unrecht, Gut und Böse unterscheidet. Alle anderen Formen stehen – diese Spaltung verbindend – darüber: Das goldene Quadrat als Symbol für die Vollkommenheit, das Licht und die Liebe Gottes. Das grüne Quadrat als Symbol für die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, aber auch für das überwundene Leid. Und drittens die grüngelben, gebogenen Formen, in deren Begegnung sich der Heilige Geist im Dialog zwischen DU und ICH lebendig realisiert.

Wirbel um das Licht

Kreisförmige Bewegungen ziehen wie bei einem Strudel alles zur weißen Mitte hin. Die Spirale erinnert an Naturphänomene wie Wasserstrudel, Gletschermühlen, Wirbelstürme, Schneckenhäuser u.a.m. Im Wesentlichen besteht das Bild aus Blautönen, die an einen Wassersog nach unten erinnern. Doch dann müsste es zur Mitte hin immer dunkler werden. Im Bild wird es jedoch immer heller und die kreisrunde Mitte erscheint mit den gebogenen Strahlen eher wie ein leuchtender Stern in dunkler Nacht.

Dieser Zugang wird unterstützt durch die mit Hügeln und Bäumen angedeutete Landschaft, die links unten zu erkennen ist. Sie wird zur Mitte hin in den Wirbel hineingezogen und löst sich dabei auf.

Was ist das für ein Wirbel um ein Licht, das die ganze Schöpfung um sich kreisen lässt und alle Aufmerksamkeit auf sich zieht? Was ist das für ein Stern, der sich der Dunkelheit widersetzt, ja kontrastreich in sie hineinzustrahlen und sie nachhaltig aufzuhellen vermag? Was ist das für ein Licht, das auch in der größten Dunkelheit noch wahrnehmbar ist und seine rettende Anziehungskraft ausübt?

In Psalm139,12 werden diese Gedanken staunend mit Gottes Allgegenwart in Verbindung gebracht: „Auch die Finsternis ist nicht finster vor dir, die Nacht leuchtet wie der Tag, wie das Licht wird die Finsternis.“ Und der Prophet Jesaia kündigt die Geburt des messianischen Herrschers mit dem Aufstrahlen eines hellen Lichtes über dem Volk an, das in der Finsternis lebt. Dieses Licht entreißt das Volk den „Todesschatten“. Er schreibt: „Denn ein Kind wurde uns geboren, ein Sohn wurde uns geschenkt. Die Herrschaft wurde auf seine Schulter gelegt. Man rief seinen Namen aus: Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Fürst des Friedens. Die große Herrschaft und der Frieden sind ohne Ende auf dem Thron Davids und in seinem Königreich, es zu festigen und zu stützen durch Recht und Gerechtigkeit, von jetzt an bis in Ewigkeit.“ (Jes 9,1-6)

Die Geburt dieses Kindes wandelt den Sog nach innen in einen nach außen sprühenden Wirbel. In wunderbaren Worten beschreibt Paulus im Brief an die Kolosser das Heilswirken Gottes durch Jesus Christus: „Dankt dem Vater mit Freude! […] Er hat uns der Macht der Finsternis entrissen und aufgenommen in das Reich seines geliebten Sohnes. […] Er ist Bild des unsichtbaren Gottes, der Erstgeborene der ganzen Schöpfung. […] Alles ist durch ihn und auf ihn hin erschaffen. […] um durch ihn alles auf ihn hin zu versöhnen. Alles im Himmel und auf Erden wollte er zu Christus führen, der Frieden gestiftet hat am Kreuz durch sein Blut.“ (Kol 1,12a.13.15,16c.20)

Der Wirbel um das Licht ist also weit über die Advents- und Weihnachtszeit hinaus berechtigt, sofern Jesus Christus der Dreh- und Angelpunkt ist. Und überall, wo dem so ist, geht von ihm eine alles durchdringende, zum Leben verwandelnde Segenskraft aus.

Präsent

In der als Diptychon geteilten, kleinformatigen Arbeit begegnen sich und auch uns ganz unterschiedlich gestaltete Bildwelten, die scheinbar unvermittelt nebeneinanderstehen:

Das linke Bild zeigt Maria aus der von Matthias Grünewald zwischen 1512 bis 1516 gemalten Verkündigungstafel des „Isenheimer Altars“. Durch den knapp bemessenen Bildausschnitt ist die Gestalt Mariens aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und von allen umgebenden Bildsymbolen freigestellt. So bleibt der Fokus auf ihrem seitlich abgewendeten und nach hinten geneigten Kopf, der ihr überraschtes Zurückweichen vor dem Engel, aber auch ihr konzentriertes Hinhören zum Ausdruck bringt. Am rechten Bildrand – in Verlängerung der diagonal ins Bild führenden gelockten Haarsträhne – weisen die zum Gebet gefalteten Hände bereits auf die andere Seite des Diptychons.

Die zweite Bildfläche ist bis auf die Zeichnung rechts oben ganz in lichtem, changierendem Grau gehalten. Eine zart angedeutete Mauer füllt die unteren zwei Drittel des Hochformats. Die obere Abschlusskante setzt sich in das linke Bild fort und verbindet dadurch beide Bildtafeln miteinander. Wo in Grünewalds Originalbild mächtig der rot gewandete Engel vor Maria steht, ragen hier von rechts oben nur zwei im gleichen Rot gehaltene Hände ins Bild, die ein mit Geschenkband verschnürtes Päckchen halten. Die fein umrissenen Hände erinnern an Kinderhände oder an die eines Engels, die das Paket von jenseits der Mauer und aus dem Himmel in den Bildraum hineinreichen. Anstatt es freudig entgegenzunehmen, beäugt Maria die Gabe abschätzend aus den Augenwinkeln, denn die eingeschriebene Kreuzform wird ihr nicht entgangen sein. Noch bleiben die Hände geschlossen im Gebet, nur die gekreuzten kleinen Finger mögen andeuten, dass sie ihre stille Frage, wann der HERR den verheißenen Messias sendet, mit ins Gebet genommen hat. Die zeitenwendende Antwort des Engels lautet: Jetzt! – Und auf ganz andere Weise, als sie es erwartet hätte, weil sich seine Ankunft ganz persönlich mit ihrem Leben verbindet. Darum erschrickt Maria bei den Worten des Engels. – Und aus dem Lukasevangelium wissen wir, dass sie das Geschenk angenommen hat: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (Lk 1,38)

Das Diptychon thematisiert neben der Glaubenserfahrung Mariens auch unsere eigene. Manches Widerfahrnis stellt sich im Nachhinein als großes Geschenk, als großer Segen dar, obwohl wir es uns nicht ausgesucht hatten und es, wenn man uns gefragt hätte, rundheraus abgelehnt hätten. „Präsent“ bedeutet sowohl „Geschenk“ als auch „Gegenwart“. Der Andachtsbildcharakter der Arbeit lädt uns ein, beide Bildhälften mit unserem eigenen Leben in Beziehung zu setzen: Als Ereignis im Jetzt. So präsent wie Maria das Geschehen bei der überraschenden Verkündigung durch den Engel Gabriel erlebt hat. Und genauso wie Matthias Grünewald rund 1500 Jahre später seine Verkündigung an Maria als gegenwärtiges Geschehen in das Spital der Antoniter versetzt hat, damit die Kranken Jesus leibhaftig vor Augen sehen und in ihrem Herzen aufnehmen konnten.

Vielleicht hilft uns bei unseren Überlegungen, dass der Engel Maria zweimal als Frau der Gnade angesprochen hat: zuerst als „Begnadete“, dann als diejenige, die „bei Gott Gnade gefunden“ hat (Lk 1,28.30). Im „Ave Maria“ wiederholen wir den englischen Gruß, wenn wir beten: „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir“. Wie Maria bietet Gott auch uns seine Gnade als Geschenk an:  Seine heilsame, Heilung bewirkende Gegenwart in uns, Gottes innigste Zuneigung zu und Liebeserklärung an uns!

Bund für‘s Leben

Die Botschaft des Engels an Maria, dass sie den Sohn Gottes empfangen und gebären werde, ist per se raum- und zeitfüllend. Die gebogenen Flügel des herabsteigenden Engels füllen dynamisch die Bildfläche, den Körper des Engels verhüllend und gleichzeitig seine Herkunft offenbarend: Er ist ein Bote des Himmels und des Lichts. Und er ist ein Bote, der seinem Gegenüber auf Augenhöhe begegnet, ihm zugeneigt Gottes Gedanken und Entschlüsse auf eindringliche Weise übermittelt.

Maria ist in den Farben des Himmels gekleidet, weil sie „Magd des Herrn“ ist, Ihm gehörend und offen für sein Wort. Ihre Arme und Hände bilden einen geschützten Bereich, in deren Oval die Umrisse eines Kleinkindes zu erkennen sind. Die grüne Farbe hinter ihr und in ihrem Kleid weisen auf ihre irdische Herkunft und gleichzeitig auf ihre Fruchtbarkeit hin. Sie wird „ein Kind empfangen, einen Sohn gebären“ durch die „Kraft des Höchsten“ (vgl. LK 1,31.35).

Spiralförmig konzentriert sich der bewegte Lichteinbruch im Bauchbereich des Engels, um von dort zu Maria weiterzufließen und im Kind sein Ziel und seine Erfüllung zu finden.

„Der Herr ist mit dir“ offenbart kraftvoll die überwältigende Gnadenfülle. Der Engel überbringt des Himmels Fülle einer Frau, die bescheiden am Rande steht. Gott nimmt sie persönlich unter seine Flügel und seinen Schutz. So wie das Licht Maria umgibt und sie zärtlich berührt, verdeutlicht der Engel die respektvolle Gegenwart des Höchsten, welcher sie „überschattet“ und durch ihr Einverständnis fruchtbar werden lässt.

In den zwei sich hier begegnenden Welten wird deutlich, dass stellvertretend gerade ein grenzüberschreitender „Bund für‘s Leben“ geschlossen wird: Gottes bedingungsloses Ja zu uns Menschen und das ebenso freie Ja Mariens als Antwort auf das Wort Gottes bilden die Grundlage für die Entstehung einer neuen Lebensdimension. Zuerst in der Gestalt von Jesus. Gott hat sich erniedrigt und ist Mensch geworden (vgl. Phil 2,6-8). Jesus ist die Menschwerdung des göttlichen Lebens. In der Folge entstand durch sein Zeugnis und die Hingabe seines Lebens in den Menschen neue Hoffnung und neues Leben. Und schließlich verbinden die Christen durch den Glauben an Jesus und seinen Vater die Erde mit dem Himmel und erleben das Leben in einer Fülle, die durch die Hingabe Jesu sogar die zeitliche Begrenzung durchbricht und in ewiges Leben einmündet (vgl. Joh 10,10; 11,25f).

Heilsgeschichtlich gesehen findet das Ja Mariens sein Vorbild im Alten Bund, den Gott durch Moses mit seinem Volk geschlossen hat. Bevor Mose das Volk mit dem Blut des Bundes besprengte, antwortete es nach der Verlesung der Zehn Gebote und aller Vorschriften: „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun; wir wollen gehorchen.“ (Ex 24,7) Ähnlich hingebungsvoll sagte Maria: „Ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (Lk 1,38) Sie ebnet den Weg, damit Jesus den Neuen Bund mit der Hingabe seines Lebens vollenden und mit seinem Blut besiegeln kann (vgl. Lk 22,20).

Durch Maria erneuert Gott seine grenzenlose Liebe zu uns Menschen und zum Leben. Durch ihr Ja zu Gott und zu seinem Sohn Jesus, der nun in ihr Wohnung bezieht, verbinden sich ihre Lebensgeschichten untrennbar zur neuen Lebensgemeinschaft von Gott und Mensch auf Augenhöhe.

Herrlichkeit Gottes

Bäume säumen die zentrale Blickachse, deren Horizont durch eine sanfte Erhebung begrenzt wird. Auf jeder Seite der Allee stehen zwölf, die in ihrer Zusammenschau dreieckige Pyramiden bilden. Die idealisierten Kronen der Bäume gehen am Horizont übergangslos in die Wölbung des Hügels über und bewirken damit eine zentralperspektivische Sogwirkung, welche das weiße Quadrat hervorhebt. Diese Hervorhebung wird durch die vertikale Beschneidung der Bäume zur Mitte hin und den dadurch entstandenen ehrerbietenden Abstand verstärkt. Die „Schatten“ in den tropfenartigen Baumkronen machen eine Art Transparenz oder Durchleuchtung sichtbar, wodurch alle Bäume bis in die hinterste Reihe in ganzer Gestalt erkennbar sind.

Der Blick durch die Allee wird durch die geometrische Form eines aufrecht stehenden weißen Rechtecks gebremst und verschleiert. Die Lichterscheinung erhebt sich kontrastreich aus einer schwarzen, in den Boden eingesenkten Form, die einem Grab gleicht, und sie ragt etwa hälftig über den Horizont hinaus in den zartrosa gefärbten Himmel hinein. Am Scheitelpunkt der sanften Steigung der blauen Erhebung kann in blassroten Großbuchstaben schwach V E R G E H E N gelesen werden. Das Wort weitet das bisher Gesehene zu einer neuen Sicht mit anderen Augen. Plötzlich wird der abstrakte helle Raumkörper in der Bildmitte gleichsam zu einem Monument für die Vergänglichkeit, zu einem „Denk-mal“ über die Bedeutung und das Wesen von Werden und Vergehen.

Alles vergeht, alles verändert sich, außer Gott bleibt nichts in Ewigkeit so wie es ist. Könnte die rechteckige Erscheinung ein Symbol für die Zeit darstellen? Viereckig, weil die Zeit eine menschlich weltliche Formulierung ist, transparent, weil sie nicht sichtbar ist? Inmitten des Hains, weil sie eine kostbare Erfahrung der Gegenwart ist mit möglichem Rückblick auf die Vergangenheit und begrenzter Aussicht auf die Zukunft?

Das aus der Dunkelheit des „Grabes“ aufsteigende gefasste Licht löst wie eine unsichtbare Gegenwart von unten nach oben die Grenze zwischen Erde und Himmel auf. Durch den fließenden Übergang in den blauen Bereich und die Wiederaufnahme und Steigerung der nach oben weisenden Horizontlinie des Hügels findet auch diese Bewegung im erhabenen Quadrat ihre Vollendung.

Das weiße Quadrat wirkt am Horizont wie eine Großleinwand, wie eine Projektionsfläche für Visionen. Es lenkt den Blick in die Ferne und kann ermahnen, im gegenwärtigen Handeln auch an die Zukunft zu denken und nicht alles rosarot verzaubert zu sehen. Seine Leuchtkraft lässt zudem an eine höhere Gegenwart denken, in der alles Werden und Vergehen seine Vollendung findet. Es könnte ein Sinnbild für das Neue Jerusalem sein, in dem es keine Nacht mehr geben wird, weil Gottes Gegenwart selbst allen Menschen Licht ist und sie der Macht des Todes entreißt. Das Quadrat kann gar als „Wohnung Gottes unter den Menschen“ gedeutet werden nach der Vision des Himmlischen Jerusalems im Buch der Offenbarung (21,3-5): „Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen: „Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.”

Vor diesem Hintergrund erhält das Gemalte eine noch tiefere Dimension. Es geht um den Blick über alles Vergehen und Vergangene hinaus in die Ewigkeit. Dem Seher Johannes wurde die heilige Stadt Jerusalem gezeigt, „wie sie von Gott her aus dem Himmel herabkam, erfüllt von der Herrlichkeit Gottes. Sie glänzte wie ein kostbarer Edelstein, wie ein kristallklarer Jaspis.“  In der weiteren Beschreibung werden die „zwölf Stämme der Söhne Israels“ und die „zwölf Apostel des Lammes“ genannt (Offb 21,12.14), die sinnbildlich in den 24 gleichmäßig gewachsenen und schönen Bäumen ihren Platz seitlich der Herrlichkeit Gottes haben. In der Tropfenform der Baumkronen klingt das Abwischen aller Tränen an, denn „der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.“

Das vom Künstler mit „Monument IV“ betitelte Bild ist weniger ein Monument für die Vergänglichkeit oder ein Denkmal für die Zeit, sondern vielmehr ein Monument für Gottes bleibende Gegenwart durch alle Zeit hindurch. Es ist ein Bekenntnis, dass nicht das lebensbestimmende VERGEHEN das letzte Wort hat, sondern Gott selbst im durch seine Liebe bewirkten AUFERSTEHEN zum ewigen Leben.

Dieses und weitere Werke von Nikola Saric waren bis zum 31. Oktober 2020 in der Ausstellung „Reflexionen“ im Domschatz- und Diözesanmuseum Eichstätt im Original zu sehen.

Berichtigung

Auf der weißen Scheibe des Bildes „Monument IV“ von Nikola Saric steht das Wort VERSEHEN und nicht VERGEHEN. Laut Künstler bezieht sich das “Versehen” hier eher auf die politisch-journalistische Sprache im Zusammenhang mit Ausdrücken wie “Kollateralschaden”, “menschliche Fehler” und “Tat aus Versehen”. Das Wort VERSEHEN steht dabei auch im Kontext der versehentlichen Zivilopfern bei militärischen Operationen.

In meinem Zugang zum Wort VERSEHEN habe ich mich also gleich zweifach versehen: Zum einen habe ich mich verschaut beim Lesen des Wortes, zum anderen habe ich das Wort auf der Erhebung am Horizont und nicht auf der Scheibe in der Bildmitte verortet. Für diese Fehldeutung entschuldige ich mich an dieser Stelle. Gleichzeitig wird deutlich – auch im Sinne der Intention des Künstlers, wie wichtig achtsames, umsichtiges Schauen und rücksichtsvolles Handeln sind, damit es eben nicht aus Versehen zu Kollateralschäden kommt.

Mein Bildzugang bleibt bestehen, weil die Deutung mit dem „Versehen“ in sich stimmig ist. Zudem hat Nikola Saric sein Einverständnis dazu gegeben: „Ich finde Ihren Text sehr interessant und finde es spannend wie unterschiedlich sich Gedanken zu einem Bild entwickeln können. Ich bin auch der Meinung, dass wir den Text so stehen lassen.“

zu gast mahl

Ein dreifacher Dreiklang klingt durch das von geometrischen Formen geprägte Bild. Farblich ertönt er durch den gelben Hintergrund, die dunklen Balken und die roten Dreiecke. Formal finden sich Quadrat, Rechteck und Dreieck wieder und jedes Element ist mehr oder weniger mit der Zahl Drei verbunden.

Ein warmes Gelb bildet den haltgebenden Rahmen für die nach innen und nach unten führenden farblichen Abstufungen, die im zentralen Freiraum des Quadrates ihre Ruhe finden. Diese „Mitte“ befindet sich über dem von links eingerückten waagrechten schwarzblauen Rechteck, welches die Basis für diese unsichtbare Gegenwart darstellt.

Die vertikalen Rechtecke sind schlanker und länger geformt als die Basis. Aber die gleiche Fläche und Farbe verbindet die drei Rechtecke und lässt eine von der linken Seite der liegenden Form ausgehende und über das äußere Rechteck aufsteigende Bewegung entstehen, die am oberen Ende des erhöhten und genau in der senkrechten Bildmitte angeordneten Rechtecks endet.

So überlagert sich die absteigende Bewegung der gelben Elemente mit der aufsteigenden Bewegung der dunkelblauen Elemente. Gleichsam als Symbol für diese Begegnung können die beiden roten Dreiecke gesehen werden, die sich auf der linken Seite des Quadrates mit der rechtwinkligen Spitze berühren. Das große Dreieck zeigt nach unten, das kleine Dreieck nach oben. Zusammen bilden sie eine stilisierte Kelchform, die neben der „freien Mitte“ über dem altarähnlichen Rechteck schwebt. Der Künstler erweist damit eine Referenz an die „Dreifaltigkeitsikone“ von Andrei Rubljow und weitet gleichzeitig die Symbolik der beiden Dreiecke, so dass sie auch als lebendiges Miteinander von Himmel und Erde oder als herzliche Zuneigung von Gott und Mensch gesehen werden können.

Die dreistufige Lichtmanifestation erinnert in Verbindung mit den drei tiefdunkelblauen Figuren und dem roten Kelch an Abrahams Begegnung mit Gott bei den Eichen von Mamre (vgl. Gen 18,1-15). In der „Hitze des Tages“ hat er in den drei Männern Gott erkannt und ihnen ein Gastmahl bereitet. In der Symbolik des modernen Meditationsbildes schwingt der Geist und die Bewegung dieser einzigartigen Begegnung mit: Im mehrfachen Dreiklang atmend, Gottes Anwesenheit und Abwesenheit gleichzeitig vergegenwärtigend (vgl. Jer 23,23), sie offenbarend im Licht und im Kelch, sie partiell verdeckend und verhüllend durch die schwarzblauen Rechtecke bzw. sie verbergend im unergründlichen Dunkel des Nachtblaus selbst.

Werke von Thomas Lauer waren bis zum 18. Oktober 2020 in der “Kunst am Berg”-Ausstellung “Wann reißt der Himmel auf?” in der Feldbergkirche zu sehen.

Mutmacher

Das grüne Viereck inmitten des rötlichen Ambientes zieht die Aufmerksamkeit auf sich und löst Fragen aus: Ist es ein Bild oder ein Fenster? Wieso ist es von einer helleren orangen Aura umgeben und durch diese hervorgehoben? Die Leiter darunter erscheint wie ein weiteres Bilderrätsel. Denn sie ist massiv gebaut, aber so kurz, dass nicht klar ist, wohin sie führen soll. Zudem steht sie vor einem hellen gelb-orangen Licht, das an ein Ofenfeuer erinnert. Das dritte Bildelement besteht aus schwarzen Zeichen umrahmt von drei blauen Linien. Die Buchstabenreihenfolge „ꓥllĂI“ steht nahe dem islamischen Eigennamen für Gott: “Allah”, aber bleibt andeutend unbestimmt. Auch der rötlich-warme Bildraum ist mit den spärlichen Angaben wortkarg. Denn es ist wohl eine Ecke erkennbar, eine Kante auf Augenhöhe, aber weder ein Boden noch eine Decke.

Wo man auch hinschaut, man kommt nicht weiter. Man fühlt sich wie in einer Sackgasse. Vielleicht ist aber gerade das die künstlerische Intention: In der Aporie, der Weglosigkeit neue Wege ins Leben aufzuzeigen.

Als Christ versuche ich mir das Bild als einen spirituellen Lebensraum voller Wärme und Liebe vorzustellen. Die Leiter stünde dann symbolisch für einen Weg in die Höhe, für das Bemühen, aufzusteigen und höhere Werte anzustreben. Das grüne Feld könnte in dieser Interpretation Leben, Freiheit und Wachstum andeuten. Möglich wäre auch ein Stück Paradies oder ein hortus conclusus – ein geschlossener Garten, dem auch die schwarze Umgrenzung entsprechen würde.

Vielleicht lässt sich das Bild aber auch viel einfacher und profaner aus unserer Lebenswirklichkeit heraus deuten. In der Verkehrsordnung bedeutet die rote Farbe immer ein Verbot. Vor einer roten Ampel müssen wir anhalten und dürfen nicht weitergehen oder weiterfahren bis sie auf grün gesprungen ist. Rote achteckige Verkehrsschilder gebieten uns zu stoppen, diagonale rote Striche signalisieren uns, dass das auf der Tafel Dargestellte nicht erlaubt ist.

Davon ausgehend könnte das Bild die Summe aller Einschränkungen und Verbote symbolisieren, die im Extrem zu einer Sackgasse oder einem Gefängnis ohne Ausgang führen können. Es geht nicht weiter, es gibt keinen Ausweg mehr. Die Glut, die Energie für einen Ausbruch ist zu wenig kraftvoll, Hilfsmittel wie Leitern oder Stäbe sind zu kurz oder ungenügend.

In dieser Situation leuchtet das grüne Licht auf. Nachdem schon fast alle Hoffnung aufgegeben worden ist, kann es nun weitergehen. Jenseits aller Einschränkungen gibt es ein Weiterkommen, einen neuen Lebensraum, in dem freies Denken und Handeln erwünscht sind und der Wachstum ermöglicht.

Das Bild ist ein Mutmacher, überall im Leben nach „grünen Lichtern“, nach Fenstern zu neuen Freiräumen Ausschau zu halten, insbesondere in Zeiten, in denen sie selten oder nur schwer zu sehen sind. Das ermutigt zu glauben, dass wir nie allein sind. Es ermutigt zu hoffen, dass Gott mit uns ist und uns in seiner Liebe immer wieder Wege, Chancen und Freiräume schenkt, die Neuanfänge ermöglichen.

Für die Künstlerin stehen die einzelnen Buchstaben für solche Auf- oder Ausbrüche: Das umgekippte „V“ steht für sie für „venio“ =  ich komme, ich folge der Aufforderung herzukommen. Es ist der Ausdruck meiner Umkehr zu Gott, die Sehnsucht oder Bitte, dass Er kommen und helfen möge, weil ich nicht mehr kann. Das „A“ ist der erste Buchstabe im Alphabet und steht für Anfang, Aufbruch, Ausweg. Die  drei „I“ können Zählstriche oder Versuche sein, aber auch wie “leben”, “lieben” oder “loben” sinnbildlich für Bewegung und Wachstum stehen. Die Striche könnten aber auch für ein griechisches Iota stehen, für Jesus, der inmitten unserer Anfänge gegenwärtig ist und uns im Übergang in neue Lebenswirklichkeiten begleitet.

Grünes Licht lehrt dich     was Unterbrechung ist

Grünes Licht ist etwas     was du nicht bestimmst
Manchmal ist es ein Anfang     Du weißt es nicht
Manchmal rettet es dich vor dir selbst

Du bist unterwegs    Warum gehst du nicht?
Es gibt grünes Licht    Freie Fahrt!

Der hinter den grünen Lichtern steht
Kennt deinen Schritt
Dein Kommen und Gehn
(Sr. Christamaria Schröter)

Das Bild und der Text von Sr. Christamaria sind auf einer Faltkarte beim Buch- & Kunstverlag der Christusbruderschaft in Selbitz erhältlich.

Rampenlicht der Gnade

Eine Frau steht dem Betrachter zugewandt in gelblich-weißem Licht. Ihre Silhouette zeichnet sich klar vom Hintergrund ab. Der Blick folgt den Konturen ihrer Haare, dem Zweiteiler, den sie trägt. Ihre Arme sind leicht angehoben, die Hände in lockerer Haltung. Ihre Gestalt ist erdig braun, um anzudeuten, dass sie von der Erde geschaffen und irdischer Natur ist.

Sie steht in einem gegenstandsfreien offenen Raum. Unter ihr breitet sich eine bläuliche Wolke aus, darüber ist nur Licht, das sich durch die hellere Mitte bühnenartig nach hinten öffnet. Vertikale Farbverläufe deuten ein herabkommendes Geschehen an, das sich insbesondere in der Mitte über und um die Frau herum konzentriert.

Ohne sichtbaren äußeren Halt über den Wolken zu gehen braucht ein gesundes Maß an Selbstvertrauen. Sie sieht nicht wie eine Seiltänzerin aus oder dass sie mit dem Gleichgewicht zu kämpfen hätte. Im Gegenteil, es scheint für sie eine Selbstverständlichkeit zu sein (man beachte, dass in einem Wort drei wesentliche Wörter vereinigt sind: selbst, verstehen und stehen), vom Licht umgeben zu sein, in ihm zu stehen und zu leben.

Da die Künstlerin das Bild durch ihr Bibelzitat aus Röm 5,5b „denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist“ eindeutig in einen christlichen Kontext stellt, darf das Licht als eine Kraft gesehen werden, die von Gott ausgeht und für den Menschen gedacht ist.

So kann man das fließende Licht als Symbol für die Liebe Gottes sehen. Durch den Heiligen Geist umgibt sie jeden Menschen, der Gott als seinen Vater angenommen hat. Durch den Heiligen Geist pulsiert sie mit dem Blut in unseren Herzen und unseren Adern, um uns und alles, was wir tun, zu durchdringen und mit seinem Geist zu erfüllen.

Das Licht ist ein Ausdruck seiner Gnade, die er allen Menschen zukommen lässt, die offen für sein Wirken sind, ob sie ihn kennen oder nicht. Gott ist da – stark wie das Tageslicht, wärmend wie die Sonne, darüber hinaus am Tag und in der Nacht und auch im Innern von uns. Gottes liebende Gegenwart durch den Heiligen Geist gibt von unseren Herzen ausgehend einen Halt, der alle anderen Sicherheiten überflüssig macht. Seine Liebe ist wie eine Boje, die im Sturm am Ort und über Wasser hält. Sie ist wie ein Heißluftballon, der seine Passagiere sicher durch die Luft trägt, wenn es einem den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Seine Liebe ist das Licht, das auch dann scheint, tröstet und gegen allen Anschein Halt und Orientierung gibt, wenn sich überall Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit breit gemacht hat.

In Seinem Licht zu stehen bedeutet für Christen die Selbstverständlichkeit, dass Gott durch seinen Heiligen Geist da ist: immer, überall, in allen Lebenslagen. Das Licht symbolisiert von Gott her die Gnade und vom Menschen her das Vertrauen, dass er da ist und handelt, auch wenn es nicht danach aussieht (vgl. Ps 23). Es ist ein heiliges Miteinander, das wie das Licht weit über sich hinaus segensreich Gutes bewirken kann.

Pfingstfeuer – Geistes-Gegenwart

Raumfüllend und menschenbewegend durchweht ein feuriges Geschehen das Bild. Es wird von einer Person am unteren Bildrand wie von einem Docht gehalten. Diese Person steht zwischen Leben und Tod, denn links liegen Menschen in der bogenförmig angelegten Dunkelheit, rechts stehen die Menschen als Auferstandene in einem Bereich, in dem sich das Dunkle bereits aufzulösen beginnt. Der Mann steht schief, aber stark zwischen diesen beiden Existenzformen. Die gelbe und die rote Farbe zeichnen ihn als Auferstandenen, als alle überragenden Mann des Lichts und der Liebe, als Vermittler zwischen Himmel und Erde.

Über seinem Haupt steht eine weitere malerisch nur angedeutete Menschengruppe dicht beisammen. Sie bildet im Gegensatz zu den anderen beiden Gruppen eine neue Gemeinschaft. Eine Gemeinschaft, die durch einen gemeinsamen Geist geeint zusammensteht in guten und in schlechten Zeiten. Das über diesen Menschen lodernde Feuer tragen sie wie einen in Flammen stehenden hohen Hut. Die vom Wind angetriebene Feuersbrunst brennt lichterloh und scheint wie ein tobender Waldbrand alles zu verzehren. Das kraftvolle Rot und Gelb zeugt von der ungeheuren Dynamik des Geschehens, doch dazwischen sind blaue und grüne Stellen auszumachen: Zeichen der Hoffnung, des Wachstums, der Verwandlung und des Neuanfangs.

„Wenn der Geist sich regt“, wird uns Menschen eine Kraft zugesprochen, die das Menschenmögliche übersteigt und in göttliche Dimensionen führt. Durch den Titel verbindet die Künstlerin ihr Bild mit dem jungen geistlichen Lied von Norbert Weidinger:

Wenn der Geist sich regt, der Leben schafft,
unverständlich noch, doch voller Kraft.
Überwindet mutig die Distanz,
stehet auf und reicht die Hand zum Tanz.

Kv: Füllt den neuen Wein nicht in die alten Schläuche,
zwängt die junge Kirche nicht in alte Bräuche.

Öffnet Herz und Ohren weit dem neuen Klang,
schöpfet Mut für euren Glauben, seid nicht bang.

Wenn der Geist sich regt und Feuer legt
und verbrennen will, was ihr noch pflegt,
gebt ihm Raum, errichtet nichts, was trennt
Feuer warf er auf die Erde, dass es brennt.

Wenn der Geist sich regt, ein Sturm aufzieht,
in die Segel bläst, reißt alles mit,
springt ins Boot und helft dem Steuermann,
dass mit voller Kraft es vorwärts gehen kann.

Das Lied fordert zu einer Erneuerungsbewegung auf, welche bereit ist, das Alte zurückzulassen, um mit dem Steuermann Jesus zu neuen Ufern aufzubrechen. So kann das feurige Geistgeschehen auch als Segel des bogenförmigen Bootes gesehen werden, in dem Jesus Mast und Steuermann zugleich ist. Wir sind aufgerufen, zu ihm ins Boot zu springen, ihm zu helfen, indem wir uns Gottes Geist öffnen und dank seiner Geistes-Gegenwart in bislang verfahrenen Lagen situativ das Richtige tun. So kann Gott durch uns wirken und Großes vollbringen. So kann Gott das Wirken seines Sohnes durch uns fortsetzen (vgl. Joh 14,26), weiter an seiner Kirche bauen und über sie hinaus von seiner Geistes-Gegenwart Zeugnis ablegen.

Licht der Seele

Ein Sonnenbild mit Ausstrahlung. Nichts Ungewöhnliches, dass das Sonnenlicht gleich einem Tropfen, der ins Wasser fällt, Kreise zieht oder sich spiegelt in einem Gewässer.

Und doch ist es immer wieder staunenswert, was die Sonne alles bewegt und bewirkt (vgl. Sonnengesang des Echnaton). Relativ klein, doch strahlend weiß leuchtet sie über einem großen sonnengelben Pendant unter ihr. Striche in ihrem Innern und um sie herum deuten an, dass sie voll überschießender Energie ist. Sie kann nicht anders, als ihre überbordende Lebenskraft an ihr Umfeld weiterzugeben.

Der weiße Strahlenkranz ist nur der Anfang. Warm breitet sich um die Sonne herum ein dunkles Gelb aus, das nach unten zuerst in ein helles Rot, dann in ein Rotbraun und zuletzt in ein Braunschwarz wechselt. So durchdringt ihr Licht alles um sie herum. Es lässt jede Materie in der ihr eigenen Farbe leuchten und so eine Antwort auf das himmlische Geschenk geben.

In der Mitte erhebt sich übergroß ein weiterer Sonnenball. Er scheint näher dem Betrachter und vom braunroten Band gehalten. Das Energiefeld in diesem Sonnenkreis ist anders gestaltet. Nicht autonom, sondern spiegelbildlich andeutend. So ist in dem innenliegenden Feld die weiße Sonne und ihr Lichtkranz zu sehen, darauf hinweisend, dass das gelbe Sonnenrund seine Energie und seinen Bestand ganz aus der himmlischen Kraftquelle bezieht. Schön wie ein Edelstein und stark wie ein Kraftwerk ruht und leuchtet der himmlische Glanz in seinem Innern. Er verleiht dem Sonnenrund selbst einen roten Strahlenkranz, der zur weißen Sonne hin zärtlich im Austausch mit deren Ausstrahlung steht.

Ob die weiße Sonne als Antwort auf diese irdische Zuwendung eine hellrote „Krone“ trägt? So als wäre die freudige Aufnahme ihrer Kraft der Platz in unserer Mitte und das wie sie Leuchten und Strahlen ihr größtes Glück.

Das Bild regt zur Meditation unseres Gottesbildes und unserer Berufung an, sein Abbild zu sein, Licht in der Welt zu sein, das von ihm Zeugnis ablegt und die uns anvertraute Schöpfung zum Leuchten bringt. Immer wieder ist in der Bibel vom leuchtenden Antlitz des Herrn die Rede und insbesondere in den Psalmen wird die Bitte laut, dass Gott sein Antlitz über seinem Knecht oder seiner Magd leuchten lasse und mit seiner Huld helfe (vgl Ps 31,17). In Psalm 67,2 ruft der Beter: „Gott sei uns gnädig und segne uns. Er lasse sein Angesicht über uns leuchten.“

In dem Sinne ist es nur konsequent, wenn Gott Aaron und seinen Nachkommen den Auftrag gibt, die Gläubigen mit diesen Worten Seine Nähe und Zuwendung spüren zu lassen, sie zu segnen und zu stärken:

„Der HERR segne dich und behüte dich.
Der HERR lasse sein Angesicht über dich leuchten und sei dir gnädig.
 Der HERR wende sein Angesicht dir zu und schenke dir Frieden.“
(Num 6,24-26)

 

Weitere Bilder aus dieser Serie von Sonnen-Koronen als Gegenbilder zum Corona-Virus Covid-19. Auf Anfrage mailt Ihnen der Künstler gerne diese Übersicht als große Datei zu. Auch Posterbestellungen sind auf Anfrage möglich.

Es werde Licht

Aufstehen können, sich bewegen dürfen, frei sein – diese Ostertage lassen uns erleben, wie fragil unsere sonst scheinbar so selbstverständlichen Alltagsgeschenke sind. Wie kann ich das Lähmende all der beängstigenden und traurigen Nachrichten überwinden und mein Leben und das anderer Menschen verändern? Wie kann wieder neues Leben entstehen, wie kann es weitergehen?

Tom Kristen gelingt es in seinem Entwurf für ein Altarbild, die große Botschaft von Ostern mitten hinein in unseren Alltag zu setzen. Auferstehung: Wie soll ein Moment dargestellt werden, der unsere menschliche Vorstellungskraft komplett überfordert und der nur geglaubt werden kann?

Der in Straubing aufgewachsene Künstler schöpft aus einer Kindheitserinnerung: „Ich war krank und hatte nach mehreren Fiebertagen eine Grippe überstanden. und ein langer Schlaf brachte wohl die Lebensgeister zurück. Meine Mutter ging durch das dunkle Zimmer zum Fenster und öffnete den Vorhang. Licht flutete ins Zimmer und durch das geöffnete Fenster flossen Geräusche und Gerüche.“

Die einfache Geste weckt heilsame Assoziationen. Aus dem abgeschlossenen Raum tut sich eine neue helle Aussicht auf, der Ausblick in einen lebensvollen Morgen. Die Schwäche kann überwunden werden mit der Kraft des Neubeginns. Die achtsame Fürsorge eines liebenden Menschen stärkt uns, der eigenen Lebendigkeit zu vertrauen.

Tom Kristen gestaltet vor diesem Hintergrund eine ganz eigene Darstellung der Auferstehung. Es ist Christus selbst, der den Vorhang und damit eine neue Perspektive aufmacht. Das Wechselspiel zwischen Verbergen und Zeigen, Verhüllen und Enthüllen ist ein frühes und bedeutendes Motiv der christlichen Kunst  wie des kirchlichen Brauchtums. Damit das Wesentliche sichtbar wird, wurde am fünften Fastensonntag das Kreuz bis zum Ende der Karfreitagsliturgie verhüllt.

Der Künstler stellt in der weiten Geste des Öffnens Jesus dar als aufrecht stehenden „Christus Triumphans“, als den Gottessohn, der den Tod besiegt hat. Die ausgebreiteten Arme erinnern an das überwundene Kreuz. Ein hoch am Bildrand aufragender Baum deutet symbolisch noch den Kreuzesstamm an. Das abgefallene, auf dem Boden verstreute winterfahle Laub im Gegenüber zur verlassenen Ruhestätte des Schlafes zeugt vom Werden und Vergehen im ewigen Kreislauf der Natur.

Vor dem Fenster zeigt sich flächig aufgetragenes zartes Frühlings- und kräftiges Bergesgrün als Hoffnung auf neues Wachstum. Das christliche Osterfest ist in seinem Sinngehalt eingebettet in das Naturgeschehen im Jahreslauf, in den Rhythmus des Lebens. Die Wiederkehr der Vegetation, das Wiederaufsprießen des Korns, nachdem es in der Erde starb, erfüllt nicht nur die Sehnsucht des Menschen nach dem leuchtenden Aufblühen der Schöpfung, sondern ist existenziell. Doch Ostern erschöpft sich nicht in einer allegorischen Darstellung der Jahreszeiten. Der Sohn stirbt am Kreuz für einen Neuanfang der Menschen mit Gott. Christus verspricht als „Licht der Welt“ (Joh 8,12) eine lebensrettende Orientierung für alle zu sein, die ihm nachfolgen.

Christus selbst ist es, der im Auferstehungsbild von Tom Kristen das Licht herein lässt, die Dunkelheit vertreibt. “Ex oriente lux”, aus dem Osten kommt das Licht: Die Ausstrahlung des Auferstehungsortes Jesu bietet Christen eine neue Orientierung, wörtlich abgeleitet von „Orient“, die Richtung, wo die Sonne aufgeht. Mit Jesus ist eine neue Sonne aufgegangen, die ihre Strahlen in unseren Alltag schickt und Erstarrtes aufbrechen lässt.

Ostern lädt ein, diesen Aufbruch zu wagen, jeden Tag neu. Jesus macht dazu Mut: “Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben und es in Fülle haben” (Joh 10,10). Eine Fülle, die nicht immer mehr vom Selben bedeutet, sondern sich in jedem Moment zeigt, in dem wir neu aufstehen, für uns, für den Nächsten, in dem wir an das Leben glauben – in seiner ganzen Weite von Schmerz und Trauer, Freude und Liebe.

Gehalten und erfüllt

In diesen bewegten Zeiten der Corona-Pandemie erschrecken mich die rasend schnell steigenden Zahlen an Infizierten und Toten. Dieses Leid und diese Not wirbeln unser Leben durcheinander. Unweigerlich muss ich auch an die Worte aus Psalm 91,7 denken: „Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten, noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt, nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag. Fallen auch tausend an deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es dich nicht treffen.“ – Was für eine Zusage all denjenigen, die an Gott hängen, die seinen Namen kennen und zu ihm rufen!

Die Menschengestalt bringt die Verunsicherung durch die äußeren Ereignisse als auch ihren Glauben treffend zum Ausdruck. Die Person steht inmitten eines aufgewühlten und unruhigen Hintergrundes. Stürmische Zeiten, welche sich auch im Innern der Person fortsetzen. Sie kann sich dem Ganzen nicht entziehen, ist bis ins Innerste erschüttert, verunsichert, destabilisiert. Zu groß und unbeschreiblich ist das Leid und die Not um sie herum. Wieso soll gerade sie überleben, wenn 11.000 Menschen um sie herum sterben?

Die Bewegungen im Innern der Gestalt sind nicht mehr so wirr und diffus wie um sie herum. Eine rhythmisch geordnete Bewegung gleich einem Tanz durchzieht die Menschengestalt und gibt ihr eine eigene Dynamik. Sie ist dem Sturm nicht wehrlos ausgesetzt, sondern vermag sich mit einer ihr innewohnenden Kraft zu widersetzen. Diese Kraft wird mit runden Pinselstrichen charakterisiert, mit weißen, gelben und roten Kreisbewegungen. In den Rundungen klingt Gottes unendliche Größe und Kraft an. Im farblichen Dreiklang Gott Vater, Sohn und Heiliger Geist, die gemeinsam den Menschen schützen, beleben, aufbauen. So ist eine innere Freude zu spüren, ein Wandel von der Bewegtheit hin zur Beschwingtheit, von der Verunsicherung hin zur Stärke, von der Angst, den Boden zu verlieren hin zur Standfestigkeit.

Gott selbst bewegt und stärkt den Glaubenden in seinen Zweifeln, Abgründen und seinem Unglauben, wenn dieser ruft: „Herr, hilf meinem Unglauben!“ (Mt 9,24) oder steh mir bei „in meiner Not“ (vgl. Ps 18,7; Est 4,17r). Doch die Hinwendung zu Gott, das Vertrauen und die Hingabe, das muss von uns kommen.

“Wer im Schutz des Höchsten wohnt, der ruht im Schatten des Allmächtigen.
Ich sage zum HERRN: Du meine Zuflucht und meine Burg, mein Gott, auf den ich vertraue.
Denn er rettet dich aus der Schlinge des Jägers und aus der Pest des Verderbens.
Er beschirmt dich mit seinen Flügeln, unter seinen Schwingen findest du Zuflucht,
Schild und Schutz ist seine Treue.
Du brauchst dich vor dem Schrecken der Nacht nicht zu fürchten,
noch vor dem Pfeil, der am Tag dahinfliegt,
nicht vor der Pest, die im Finstern schleicht, vor der Seuche, die wütet am Mittag.
Fallen auch tausend an deiner Seite, dir zur Rechten zehnmal tausend, so wird es dich nicht treffen.
Mit deinen Augen wirst du es schauen, wirst sehen, wie den Frevlern vergolten wird.
Ja, du, HERR, bist meine Zuflucht. Den Höchsten hast du zu deinem Schutz gemacht.

Dir begegnet kein Unheil, deinem Zelt naht keine Plage.
Denn er befiehlt seinen Engeln, dich zu behüten auf all deinen Wegen.
Sie tragen dich auf Händen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt;
du schreitest über Löwen und Nattern, trittst auf junge Löwen und Drachen.
Weil er an mir hängt, will ich ihn retten. Ich will ihn schützen, denn er kennt meinen Namen.
Ruft er zu mir, gebe ich ihm Antwort.
In der Bedrängnis bin ich bei ihm, ich reiße ihn heraus und bring ihn zu Ehren.
Ich sättige ihn mit langem Leben, mein Heil lass ich ihn schauen.”

Psalm 91

Gottes Liebe ist ausgegossen

Visionär ist die Schau, in der sich das Licht aus der Höhe in die menschliche Dunkelheit ergießt und sternförmig über einer winzigen Menschengruppe aufstrahlt. Denn dass ein Gott, der per se überirdisch, ewig und damit transzendent ist, sich entäußert und Menschengestalt annimmt, ist schlichtweg unvorstellbar.

Doch weil bei Gott nichts unmöglich ist, kam er in Jesus Christus zu uns auf die Erde und wurde durch Maria Mensch. Diesem Wunder nähert sich die Künstlerin ebenso wie die Heilige Schrift in Symbolen.

Gott ist Licht. Seine Ewigkeit wird durch die Kreisform, die keinen Anfang und kein Ende hat, beschrieben. Im Innern dieses Kreises erzählen wunderbar bewegte rote und gelbe Linien, dass Gott die Quelle des Lebens ist. Im weißen Herz kommt zum Ausdruck, dass Er reine schöpferische Liebe ist, die über sich hinauswachsen will. Davon erzählt die Schöpfungsgeschichte, die mit der Erschaffung des Lichts begann und mit der der Menschen endet (Gen 1,1-31).

Jesus ist das Licht der Welt, weil er aus dem Licht kommt. Durch die Parallelen zur Schöpfungsgeschichte verankert der Evangelist Johannes im Prolog seines Evangeliums Jesus in Gott, wenn er schreibt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott. Dieses war im Anfang bei Gott. Alles ist durch das Wort geworden und ohne es wurde nichts, was geworden ist. In ihm war Leben und das Leben war das Licht der Menschen. Und das Licht leuchtet in der Finsternis und die Finsternis hat es nicht erfasst.“ (Joh 1,1-4)

Mit Jesus schenkt Gott seiner Schöpfung einen Neuanfang. Doch dieses Mal geht es nicht um die Erschaffung einer materiellen Welt, sondern um die Erneuerung des Menschen. Deshalb schreibt Johannes: „Das wahre Licht, das jeden Menschen erleuchtet, kam in die Welt. […] Allen aber, die ihn aufnahmen, gab er Macht, Kinder Gottes zu werden, allen, die an seinen Namen glauben, die nicht aus dem Blut […], sondern aus Gott geboren sind.“ (Joh 1,9.12.13d)

Jesus ist der Erstgeborene dieser neuen Schöpfung. Im Bild ergießt sich das Licht in die Dunkelheit hinein. Es bahnt sich einen bleibenden Weg durch die Dunkelheit und explodiert förmlich in einem großen leuchtenden Stern über der kleinen Menschengruppe. Diese ist aus Wachs geformt und vor dem unteren Bildrand auf einer Zündholzschachtel erhöht angeordnet. Maria im blau-roten Kleid kniet anbetend vor der Krippe ihres Neugeborenen, Josef steht als Hirte gekleidet daneben.

Die Künstlerin hat mit dem gekneteten Wachs symbolisch den neuen Adam geschaffen. Indem sie ihn figürlich geschaffen hat, ließ sie das (gemalte) Licht Materie annehmen. Sie bildet damit ab, wie „das Wort Fleisch geworden ist und unter uns gewohnt hat“ (Joh 1,14a).

Die Streichholzschachtel ist ein Hinweis, dass wir uns aufmachen, uns begeistern und anzünden lassen, und so Licht werden sollen. Sein Licht will wie der Stern im Bild in uns leuchten. Denn die schwarze Fläche im Bild ist mehr als ein effektvoller Hintergrund. Sie ist die symbolische Darstellung alles Dunklen in unserem Leben. Sie ist Ausdruck unserer Verlorenheit ohne Retter. Sie zeigt unsere Sehnsucht nach Licht, nach Erleuchtung und Orientierung, letztlich nach Gott.

Carola Wedell führt uns mit ihrer visionären Schau erneut die großen Zusammenhänge der Geburt Jesu vor Augen. Und alle, die von seinem Licht erleuchtet sind, die sein Wort in sich aufnehmen und ihm Wohnung geben, können staunend in das Bekenntnis des Johannes einstimmen: „Wir haben seine Herrlichkeit geschaut, die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater, voll Gnade und Wahrheit“ (Joh 1,14b).

Die Arbeit von Carola Wedell war in der 79. Telgter Krippenausstellung “Auf der Suche nach dem Licht der Welt” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen. 

Erwartung neuen Lebens

Von links unten wächst ein karger Strauch oder Baum mit vier dünnen Ästen zur Bildmitte. Bis auf wenige Blätter ist er nackt. Trockenheit lässt er spüren, Sehnsucht nach Leben. Wie Fühler hat er seine Äste in den Himmel gestreckt, denn der Boden gibt nichts mehr her. Er erwartet alles vom Himmel.

In der rechten Bildhälfte werden diese Äste von breiten Farbbögen erfasst: dunkelblau, gelb, rot in verschiedenen Helligkeitsstufen – fast ein vertikaler Regenbogen. Mit ihren seitlichen Farbverläufen muten sie wie die Wassermaßen eines heftigen Platzregens an. Dicht und stark stehen die breiten Farberscheinungen dem feinen Baumskelett gegenüber. Sie verbinden das Oben mit dem Unten, den Himmel mit der Erde. Sie sehen wie eine Antwort des Himmels aus und können als himmlisches Erbarmen gedeutet werden. Kraftvoll tragen sie in sich das Leben über das Land.

Perspektivisch sieht es so aus, als würden die Regenschauer in weiter Ferne am Strauch vorüberziehen. Doch die ausladenden Äste strecken sich nicht nur nach diesem himmlischen Segen aus – sie werden auch von ihm erfasst und mit seiner Fülle beschenkt. Die Erwartung – das Warten und Ausharren – ist belohnt worden. Das Hören und Lauschen sind erhört worden. Neues Leben kehrt ein.

Viele bisher unveröffentlichte Arbeiten von Arnulf Rainer waren bis zum 23. Februar 2020 im Museum Moderner Kunst Wörlen in Passau in der Ausstellung „Arnulf Rainer und Karl Schleinkofer“ zu sehen.