Gegeißelt, geschunden, geschlagen

Kreuz und quer überziehen blutrote Farbstriche die Bildfläche. Es sieht aus, als wäre das Bild heftig geschlagen und verletzt worden. Gepeitscht, gegeißelt, wie derjenige, der auf ihm dargestellt ist. Blutrote Striemen bedeuten harte, schnelle Schläge, die die Haut haben platzen lassen. Schläge, die tief ins Fleisch hinein verletzt haben und das Blut herausspritzen lassen. Von den seelische Verletzungen, die das Herz direkt treffen, ganz zu schweigen.

Furchtbar steht das blutige Geschehen vor unseren Augen – und verdeckt mit seiner unmenschlichen Gewalt fast gänzlich den, den es getroffen hat. Nur die Füße und Beine und der obere Teil des Kopfes des Misshandelten sind zu sehen. Ansonsten hat sich die Gewalt breit gemacht und Seinen Platz eingenommen. Die Peitschenschläge sind förmlich zu spüren.

Wie ein geschundenes Herz steht die Bluttat zwischen dem Betrachter und dem Gegeißelten. Sie versperren die Sicht auf Jesus, entrücken ihn und lassen die höhnische Frage der Diener im Palast des Pilatus aktuell werden: „Sag uns, wer hat dich geschlagen?“ (Mt 26,67)

So wie das Geschehen vor unseren Augen steht, mögen Zweifel aufsteigen. Habe ich ihn in einem unkontrollierten Augenblick vielleicht auch geschlagen? Vielleicht nicht ihn, wahrscheinlich auch nicht mit einer Peitsche, aber einen anderen unschuldigen Menschen? Mit der mir eigenen Gewalt – Macht, Worte, Druck, Aggression, usw. – sein Leben in ein „Blutbad“ verwandelt?

Unerträglich groß haben sich die blutroten Striemen über dem Gepeinigten aufgebaut. Ist das, was er zu erleiden und auszuhalten hat, als Mensch noch zu ertragen? Andererseits haben sich die Verwundungen wie ein Schutzschild vor dem Gegeißelten aufgebaut. Durch die Wunden scheint er unnahbar, unzugänglich. Doch nicht er hat sich von mir entfernt, sondern durch mein und unser Vergehen haben wir uns von ihm getrennt.

Vertikale Farbläufe gliedern wie Blutgerinnsel oder Tränen den unteren Teil des Bildes. Sie künden von nicht aufhörenden Verletzungen durch Verachtung und Gewalt, sie künden von der Ohnmacht der Geschlagenen, von der stillen Trauer der Leidenden und all derer, die mit ihnen leiden.

„Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“, heißt es bei Jesaja 53,4 vom Gottesknecht. Genauso muten die vielen auf die Leinwand gepeitschten Farbstriche an: „Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen.“ Und ein paar Verse weiter heißt es: „Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf.“ So steht auch der Mensch im Bild hinter dem Peitschenregen und hält standhaft aus. Hält aus im Vertrauen auf Gott, dass Er ihm in der Folter Stand verleihe, ihn in der Folter fest halte.

Etwas von diesem Vertrauen, dass Gott ihn nicht verlassen hat, sondern durch alles Leiden hindurch begleitet und auch retten wird, scheint unauffällig in den sich zu einem Farbfeld verdichteten Peitschenhieben auf. Sie lassen nicht nur die maßlose Gewalt sehen, sondern im blutenden Herz auch zwei Flügel. Flügel, welche das Leid nicht unsichtbar machen, aber durch die Hoffnung auf Erlösung und Auferstehung leichter und erträglicher machen.

 

„Wer hat unserer Kunde geglaubt?
Der Arm des Herrn – wem wurde er offenbar?
Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm.
Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht.
Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen.
Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf.
Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen.
Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war.
Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht), er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen.
Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich.
Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein.“ (Jesaja 53)

Alle Bilder der Passion 2012

Durst nach Leben

Dynamisch geschwungene Liniengebilde schweben durch einen neutralen Bildraum. Alle haben mehr oder weniger die gleiche Strichstärke, sie unterscheiden sich nur in ihrer Intensität. Während die dunkleren Linien sich kraftvoll in den Vordergrund drängen, verschwinden die weniger stark betonten Linien im Hintergrund. Durch die auslaufenden Striche und offenen Formen entschwinden sie gleichsam in der unfassbaren Tiefe des Bildraumes.

Auf den ersten Blick mag dieses Spiel der Linien einfach faszinieren: Der Rhythmus von weiten Bögen und engen Kurven, der sich in der unteren Bildhälfte verdichtet und von diesem Zentrum aus in drei einzelnen Formen aufsteigt. Der luftige Tanz von Linien, der Assoziationen an eine Feuerstelle und den daraus aufsteigenden Rauch auslösen mag.

Bei längerer Betrachtung schließen sich die luftigen Gebilde jedoch zu Umrissen von Knochen mit langem Schaft (Diaphyse) und breiteren Knochenenden (Epiphysen). Noch sind sie zu erkennen, noch sind mit den Strichen Spurenelemente von ihnen übrig geblieben. Von wem sie wohl stammen mögen?

Ihre Ähnlichkeiten mit Arm-, Finger- und Beinknochen lassen auf den Menschen schließen. Aber jeglicher Anhaltspunkt für die Bestimmung einer Größe fehlt. So sind es einfach Knochen, die durch die Überlagerungen zum einen körperliche Zusammengehörigkeit signalisieren, durch die teils offenen Formen und erst recht durch den Umstand, dass sie sich über den Bildrand hinaus auflösen, auch Vergänglichkeit und Übergang in eine ungegenständliche und letztlich unsichtbare Wirklichkeit andeuten.

So sind die Knochen in ästhetisierender Transparenz von jeder menschlichen Nähe entfremdet. Einst zu Menschen wie du und ich gehörend, von Fleisch und Sehnen überzogen, waren sie das unsichtbare Gerüst für den aufrechten Gang und das Leben. Nun sind sie nur noch eine Ansammlung substanzloser Knochen, nicht viel mehr als eine Erinnerung, dass da einmal etwas war.

Diesen Zustand der äußersten Armut und Beziehungslosigkeit, der Abwesenheit von jeglichem Leben, verbindet die Künstlerin mit Jesu Sterben am Kreuz. Insbesondere bewegten sie bei der Ausführung dieser Werkreihe seine letzten Worte: „Mich dürstest.“ Dabei meint sie nicht seinen “Durst nach Wasser, sondern nach Trost, Hoffnung, Liebe von Mensch zu Mensch”. Damit setzt sie mit diesen Arbeiten (weitere Werke aus dieser Reihe) den Ruf Jesu am Kreuz fort. Die ihrer Substanz und ihrer Zuordnung beraubten Knochen bringen diese Sehnsucht nach Zuwendung, stabiler Beziehung und Erfüllung zum Ausdruck.

Doch diesen an Knochen erinnernden Linien hat Lilian Moreno Sánchez nicht nur die Sehnsucht nach Trost, Hoffnung und Liebe mitgegeben, sondern auch eine Bewegung, die Überwindung des trostlosen Zustandes andeutet. Scheint nicht ein Windhauch die Gebeine an einem Ort zusammenzuwehen und einige sogar hochzuwirbeln? Die Intervention einer äußeren Kraft wird damit sichtbar. Auferstehung zu einer neuen Lebensgestalt, die sich durch Auferweckung und liebevolle Zuwendung Gottes ergibt.

Das erinnert über die Auferstehung Jesu hinaus an die Weissagung des Propheten Ezechiel, bei dem er wiederholt den Geist Gottes über ein großes Feld mit Knochen herabrufen musste, damit diese sich zu Skeletten sammelten und letztlich mit neuem Leben erfüllt wurden (Ez 37,1-14). Eine wunderbare Erzählung, mit der Gott den im Exil verzweifelten Israeliten seinen Beistand kund tat und ihnen Mut machte, aus ihrer Hoffnungslosigkeit aufzustehen.

Heute ermutigt uns Lilian Moreno Sánchez auf ihre Weise auf Menschen zuzugehen, die sich hoffnungslos wie damals die Israeliten oder durstig wie Jesus am Kreuz fühlen.

Ganze Werkreihe „Tengo Sed – Mich dürstet“

Ausführliches Interview mit Lilian Moreno Sánchez anlässlich ihrer Ausstellung zum „Aschermittwoch der Künstler“ 2013 in Hildesheim

Leben erhalten und schützen

Gegensätze formulieren dieses horizontal geteilte Bild. Leuchtende Gelbtöne bilden das Oben, undurchdringliches Schwarz das Unten. Sie sind als heller und dunkler Bildbereich dargestellt. Allein die Menschendarstellungen in je zwei Erzählungsreihen verbinden die beiden Bildhälften. Doch auch sie sind unterschiedlich dargestellt. Oben bilden die Menschen Zweier- oder Dreiergruppen, einander zugewandt, während sie im unteren Bereich allein oder einander gegenüber dargestellt sind.

Die hellen und warmen Farben ziehen den Blick zuerst in die obere Bildhälfte. Links oben sind eine Frau und ein Kind einem sitzenden, vornüber geneigten Menschen zugewandt. Er scheint verzweifelt zu sein, die beiden versuchen ihn zu trösten. Daneben liegt ein Mensch im Krankenbett, an medizinische Geräte angeschlossen. Eine Frau steht an seinem Krankenbett im Dialog mit ihm. In der Reihe darunter hält links ein Mann ein Neugeborenes in seinen Armen. Sein Kopf ist geneigt, das Kind betrachtend, liebend. Daneben drei frontal dargestellte Kinder oder Jugendliche. Ihre Köpfe und Kopfhaltungen signalisieren ein ungewöhnliches Denk- und Körperverhalten. Sie halten sich an der Hand, sie stehen zusammen, geben einander Halt.

Die vier Menschengruppen bilden eine Aussage: Niemand wird allein gelassen, niemand ausgestoßen. Jeder Mensch hat ein Recht auf Leben. Dieses Leben ist die Grundlage der Gemeinschaft, der Freude. Aus der Zuneigung entsteht Vertrauen, Freude wächst, Frieden folgt.

Im schwarzen Bereich sind die Menschen nur mit weißen Konturen dargestellt. Oben links steht ein Jugendlicher geknickt und mit auf dem Rücken verschränkten Armen vor zwei Männern. Der eine zeigt auf ihn. Die offenen Münder machen deutlich, dass die beiden anklagend über ihn reden. Daneben stehen sich zwei Soldaten in Schutzmasken und mit erhobenen Waffen gegenüber. Krieg … unter Umständen werden beide sterben. Ganz rechts ein Mensch, der seinem Leben bewusst ein Ende gesetzt hat – Selbstmord durch Erhängen. Links unten gibt eine Frau einem darniederliegenden Mann eine Spritze. Aus dem Kontext ergibt sich, dass er den Wunsch zum Sterben hat und sie ihm dabei hilft. In der mittleren Darstellung wird ein Embryo durch einen stabähnlichen Gegenstand von außen bedroht. Damit wird auf die gängigste Abtreibungsmethode durch Absaugen hingewiesen. Rechts davon sitzt ein Mann auf dem elektrischen Stuhl. Er ist wegen seiner Verbrechen zum Tode verurteilt worden.

Diese sechs Einzelbilder führen erschreckend vor Augen, dass auch in unserer Zeit täglich Tausende von Menschen umgebracht werden oder sich selbst das Leben nehmen. Es ist die dunkle, bedrohliche Seite des Lebens, die deutlich macht, wozu wir Menschen fähig sind. Dies geschieht trotz des Jahrtausende alten Gebotes „Du sollst nicht töten“ (Dtn 5,17), auf das Gott das Volk Israel und seine Nachkommen in den Zehn Geboten verpflichtet hatte. Dies geschieht trotz des im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verankerten Grundrechts auf Leben Art. 2 Abs. 2: „Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich.“

Doch gerade weil das menschliche Leben so verletzlich ist, muss es geschützt werden. Die Zehn Gebote erinnern immer wieder an die wesentlichen Werte, die jedem menschlichen Miteinander zu Grunde liegen und an denen sich unser Tun messen und beurteilen lassen muss. Das Verbot zu töten ist letztlich ein Gebot, das Leben in jeder Form zu achten, zu schützen und zu erhalten. Es ist ein Angebot zum Glück.

Gabi Weiss hat zu allen zehn Geboten Bildtafeln geschaffen, die mit Texten von Theresia Hafen zusammen wertvolle Grundlagen für Überlegungen zur gegenseitigen Wertschätzung und Rücksichtnahme bilden und ein gutes Zusammenleben ermöglichen. Das Kartenensemble im Format Din A 5 kann auf der Website der Künstlerin angeschaut und zum Setpreis von 8.- € bestellt (Bestellformular) werden.

Gold, Weihrauch und Myrrhe

Warme Farben beherrschen das Bild. Goldgelb, Weiß, Gold und ein erdiges Rotbraun hüllen das Geschehen in ein festliches Kleid. Zwei Welten scheinen sich dabei zu begegnen. Die untere Bildhälfte ist durch eine intensivere Farbgebung und scharfe Konturen irdisch verhaftet, die obere kann durch ihre Bildposition, die helleren Farbtöne und verschwommenen Konturen mehr dem Himmel zugeordnet werden.

Dadurch hat die Künstlerin eine Bildtiefe geschaffen, die das himmlische Geschehen zu einer mystischen Schau werden lässt. Ein Mensch in goldgelben Farben ist in einem Kreis zu erkennen, umgeben von rauchähnlichen Aufhellungen. Erhoben und erhaben steht er da. Doch wen stellt er dar? Nur der Kopf und der rechte Arm können klar bestimmt werden. Um den Kopf lässt sich auch ein Leuchten beobachten, ein religiöses Zeichen, das zusammen mit der goldgelben Farbe auf seine Heiligkeit hinweist. Als Lichtgestalt kommt er von oben in das Bild hinein und wird die Mitte des Erdenrunds bilden. Umgeben von undefinierbaren Lichtgestalten, nimmt er die Position eines Weltenherrschers ein und darf somit als Jesus gedeutet werden.

Ihm gegenüber stehen im diesseitigen Bildteil drei Elemente mit gleichem Aufbau, jeweils aus einem stabähnlichen und einem kugelförmigen Teil bestehend. Sie könnten Menschen symbolisieren, doch ihre einfache Gestaltung, wie sie von unten in das Bild hineinragen und auf Jesus ausgerichtet sind, legen die Vermutung nahe, dass es sich vielmehr um drei gleichwertige Gegenstände handelt, die in das Bild hineingereicht werden. Ihre Geber müssen eine ähnliche Position wie wir Betrachter eingenommen haben. Doch während wir uns vor dem digitalen Abbild einer künstlerischen Wahrnehmung befinden, standen sie vor der Wahrheit selbst, dem Sohn Gottes.

Die drei Bildelemente symbolisieren also die drei Gaben der Sterndeuter bzw. Magier aus dem Osten. Die Charakteristika von Gold, Weihrauch und Myrrhe kommen besonders deutlich in der Gestaltung der Stäbe zum Ausdruck. Das Gold nimmt den zentralen Platz ein und korrespondiert mit der goldgelben Gestalt Jesu. Der Stab des Weihrauchs ist bläulich-weiß gemalt und hat eine rauchig-transparente Gestalt. Der Stab der Myrrhe befindet sich links im Bild und trägt mit klaren Konturen die symbolischen Farben violett und schwarz.

Über diesen Stäben schweben kreisförmige Elemente, welche die Symbolik von Gold, Weihrauch und Myrrhe weiterführen. So kann die zweiteilige Scheibe über dem Gold, die hintergründig durch eine weitere zusammengehalten wird, für die Doppelnatur des Neugeborenen stehen. Der Reichtum und die Herrlichkeit, die durch das Gold zum Ausdruck kommen, gründen darin, dass er als Mensch die Größe Gottes offenbart. Dieser Kreis steht durch seine Helligkeit der Sonne und ihrem Licht nahe. Die horizontale Bewegung im Kreis mag auch symbolisieren, dass Gold beim Menschen für den Geist und das Denken steht.

Das Element über dem Weihrauch nimmt die Bewegung des Rauchs auf. Es besitzt in der Spiralbewegung etwas Verbindendes, das aus zwei gegensätzlichen Welten eine einzige entstehen lässt. Weihrauch steht für das Leben und dient der Gottesverehrung. Als solches ist es in feierlichen Gottesdiensten zu sehen und zu riechen. In Bezug zum Menschen steht es symbolisch für die Seele und das Fühlen.

Die Kreisscheibe der Myrrhe gibt sich haptisch materiell aus Papier. Das Element hat farblich etwas vom Gold, ist aber in seiner Beschaffenheit vergänglicher und unvollkommener Natur. Da die Myrrhe als Medikament angewendet wird und bitter schmeckt, wird es dem menschlichen Körper und Willen zugeordnet. In dem Sinne steht es für Leiden, Vergänglichkeit und Tod.

Wie in den biblischen Quellen (Mt 2,1-12) stellt das Bild den Besuch der drei Weisen aus dem Morgenland und ihre Gaben in den Mittelpunkt, nicht aber die Magier selbst. Über sie selbst erfahren wir nur, dass sie den Stern gesehen haben, ihm gefolgt sind, beim Anblick von Jesus mit „sehr großer Freude erfüllt“ niederfielen und ihm huldigten. Was sie damals gemacht haben, danach sollen wir heute handeln. Heute sind wir eingeladen, die Zeichen Gottes zu erkennen und ihnen zu folgen, um in der Begegnung mit Jesus von „sehr großer Freude erfüllt“ zu werden und ihn zu ehren. Die drei Geschenke im Bild bleiben für jeden Besucher griffbereit. Im Geist kann er sie ergreifen, sie mit einem eigenen Wert zu einem kostbaren Geschenk machen und Jesus darbringen.

Heilige Nacht

Punkte, wo man hinschaut. In dichten Reihen bedecken sie das Bild und legen eine bunte Schicht über den Bildgrund. Dennoch ist klar eine dunkelblaue Dreieckform zu erkennen, die von den unteren beiden Ecken bis zur Mitte des oberen Bildrandes aufsteigt. Vor dem helleren Hintergrund gleicht sie einer Pyramide oder einem Zelt, das in sich ein helles, längliches Element birgt.

Vor dem dunklen Hintergrund werden die Farbpunkte intensiver, leuchtender, und einzelne strahlen wie Sterne. Doch nur die weißen Punkte sind durchgehend gemalt. Die pinkfarbenen Punkte sind vor allem im Dreieck anzutreffen, überragen es aber wolkengleich im unteren und im oberen Bereich. Die gelben Farbtupfer sind bis auf die linke untere Ecke des Dreiecks überall anzutreffen. Zum einen umgeben sie das Dreieck wie eine Aura, zum anderen betont ein gelber Schatten das helle Element und lassen es als einen eigenständigen Körper wahrnehmen. Bei längerem Hinschauen meint man Füße und einen Kopf zu erkennen, eine hoch aufragende, menschliche Person zu sehen. In ihr scheinen die weißen Punkte Materie und Gestalt anzunehmen und eine Lichtgestalt zu formen.

Aber ist das möglich? Es sind doch nur das dunkelblaue Dreieck, die innenliegende weiße Form und die Farbtupfer in Weiß, Pink, Gelb und Blau zu sehen. – Doch all diese Elemente sind voller Symbolik! Kraft der ihnen innewohnenden Verbindungen vermögen sie ein weihnachtliches Geschehen anzusprechen. So haben die vielen Farbtupfer eine Ähnlichkeit mit einem Regenschauer und vermögen das Lied zu erinnern, in dem das Volk singt:

„Tauet, Himmel, den Gerechten!
Wolken! regnet ihn herab!
Rief sein Volk in bangen Nächten
Aus der Sünde finsterm Grab.
Und Er kam. – Mit Ihm kam Segen,
Wie ein milder Frühlingsregen
Wie des Himmels sanfter Tau
Rings erquicket Feld und Au.“
(nach Christoph von Schmid, 1811)

Gleichzeitig lassen die vielen gelben Farbtupfer an ein Lichtermeer denken, wie es an einem Christbaum oder auch in der Osternacht zu beobachten ist. In ihm vermeint man auch die göttliche Gnade und Herrlichkeit aufleuchten zu sehen, die sich auf die Erde niedersenkt und sich insbesondere auf bzw. im dunkelblauen Dreieck manifestiert, dem Symbol für Maria. Es verweist einerseits mit der Zeltform auf die temporäre und bewegliche Behausung, die jede Mutter ihrem Kind gibt, es beschützend und behütend. Andererseits mag sie die Glaubenshaltung Mariens zum Ausdruck bringen. Fest auf dem Boden der Erde stehend ist sie doch mit ihrem ganzen Wesen auf den Himmel und auf Gott ausgerichtet. Dies so stark, dass sich ihr äußeres Erscheinen mit dem Symbol für den dreieinigen Gott deckt.

So wird deutlich, dass Gottes Sohn die göttliche Lebensgemeinschaft nie verlassen hat, um durch Maria Mensch zu werden. In Maria nimmt Gott Menschengestalt an, vor dem Hintergrund ihres Glaubens und ihrer Liebe hebt er sich als Licht vom unerschaffenen Lichte ab. Vor Maria oder in ihr vermag die Lichtgestalt damit einen Durchgang zum ewigen Licht zu bilden.

In einer ganz anderen Sichtweise kann das dunkelblaue Dreieck auch als eine sich in der Tiefe des Bildes verlierende Straße gesehen werden. Einsam steht dann die hochaufragende Lichtgestalt auf dem Weg. Als Licht in der Dunkelheit wie als Weg weist die Lichtgestalt auf Jesus hin. Er mag auf uns zuzugehen, aber genauso gut könnte er eine Einladung darstellen, ihm zu folgen. Vielleicht schwingt in der Darstellung aber auch beides mit und suggerieren die vielen Lichtpunkte, dass Begegnung und Nachfolge eins sind und zusammen mit unzähligen Menschen geschehen. Hin zu Mitmenschen, die auf unser Kommen und unsere Zuwendung warten, und durch sie zu Gott selber.

Durch die bunten Farbtupfer breitet sich Wärme über das Bild aus. Auch Freude schwingt mit. Außerdem ist eine neue Gemeinschaft zu spüren. Symbolisch zum Ausdruck gebracht durch die Farbtupfer untereinander, andererseits durch den Bezug zu den grundlegenden Farbelementen. Letztlich wird damit die neue Gemeinschaft unter den Menschen angesprochen, die durch Maria und die Geburt ihres Sohnes eine neue Basis erhielt – und weihnachtliche Dimensionen.

Der ganze Bild-Zyklus wird im Buch „CREDO“ von Herausgeber Norbert Lammert präsentiert. Das Buch beinhaltet einen einführenden Text vom Herausgeber, eine Auswahl an Credotexten aus den frühen Jahrhunderten bis heute und die Abbildung des 19-teiligen Credo-Zyklus.

Hier können Sie den ganzen Zyklus auf der Website des Künstlers anschauen.

Verkündigung / Empfängnis

Wie der Blick in der Nacht durch ein hell erleuchtetes Fenster angezogen wird, so zieht das helle, scharf umrissene Bildelement des Betrachters Aufmerksamkeit auf sich. Die Lichtöffnung gibt Einblick in ein an sich verhülltes Geschehen. Sie offenbart sich zudem als Erleuchtung von oben.

In ihrem Zentrum stehen zwei abstrahierte Menschengestalten, deren Köpfe von einem hellen Schein umgeben sind. Beide Körper sind als Kreisbogen gestaltet, der eine in goldgelber, der andere in violetter Farbe. Ihre Radien scheinen das gleiche Zentrum zu haben. So kommt die rechte Gestalt von der Mitte her und zudem als Lichtgestalt. Mit ihrem ganzen Gewicht scheint sie sich ihrem Gegenüber zuzuneigen, es dadurch fast zu bedrängen. Denn diese macht den Eindruck zurückzuweichen.

Die Erscheinung des Engels ist auch gewaltig. Große Farbschwünge künden von seinem Herabkommen vom Himmel, um dann wieder aufzusteigen und Flügel andeutend in des Engels Gestalt einzumünden. Es ist der Bote des Höchsten, der nicht nur schwungvoll an sein Gegenüber herantritt, sondern sich auch als Diener dieser Frau erweist. Denn trotz seiner imposanten Herkunft hat er sich vor ihr erniedrigt, schaut er zu ihr, Maria, auf.

Denn diese Frau hatte bei Gott Gnade gefunden. Ein gelbes Licht, das sie kreuzt, mag Ausdruck dieser Auserwählung sein und gleichzeitig das Herabkommen des Heiligen Geistes andeuten. Es endet über einer runden lichten Stelle, welche die Begegnung zu einer Berührung und das „Dazwischen“ zu einer „Übergabe“ werden lassen. Im Freiraum zwischen der noch nassen Farbe von Maria und dem Engel hat der Künstler einen Wassertropfen aufgetragen, der sich bis in die Farben der beiden Personen ausgebreitet hat und durch den deren Farben ein Stück weit ausgeblutet sind. Dadurch konnte sich in ihrer Mitte eine zarte sternförmige Erscheinung bilden. Ein wunderschönes Symbol für Jesus als „Licht der Welt“ (Joh 8,12) und „Wasser des Lebens“ (Joh 4,14), ein wunderbares stilistisches Symbol für ein gleichzeitiges Geschehen bei allen Betroffenen und insbesondere für das glaubende Empfangen oder Aufnehmen durch Maria.

Ihr Auftreten ist zurückhaltend, sie steht am Rand, halb von der blauen Farbschicht verdeckt. Aber sie steht, wenn auch irgendwie überwältigt, mit dem Gleichgewicht kämpfend, wie sich anlehnen müssend. Und sie steht im Licht. Im Licht dessen, der auf die Niedrigen schaut und die Hungernden mit seinen Gaben beschenkt. Ein heiliges Geschehen – das sich auch darin kundtut, dass der doppelte Kreisbogen von Engel und Maria auf der rechten Seite eine stille Entsprechung in dem blauen Kreisbogen und dem innenliegenden Schatten haben und sie zusammen eine Mandorla andeuten. In der Verkündigung an Maria und ihrer gläubigen Zusage beginnt Gottes Herrlichkeit aufzustrahlen, die im auferstandenen Jesus und Weltenherrscher ihre volle Kraft offenbaren wird. Damit kommt mit grafischen Mitteln nichts anderes zum Ausdruck als der Engel bereits bei der Verkündigung gesagt hat: „Er wird groß sein und Sohn des Höchsten genannt werden. Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen und seine Herrschaft wird kein Ende haben.“ (Lk 1,32f)

Diese Verheißung dürfen wir als Betrachter schauen. Und wenn wir uns wie Maria der Berührung Gottes öffnen und seine Gegenwart annehmen, dürfen wir glauben und hoffen, dass ER auch in uns und durch uns seine Gnade und Herrlichkeit entfalten wird.

Kalender, Kunstkarten und -drucke von Eberhard Münch sind in verschiedenen Formaten im Buchhandel oder direkt über www.adeo-verlag.de erhältlich.

Kosmologisch

Runde und rechteckige Formen gestalten dieses in blau-grün-weißen Farbtönen gemalte Bild. Dabei stehen freie Elemente geometrischen gegenüber. Eine Symmetrie wird angedeutet und doch überall aufgebrochen. Mehrschichtig führt das Bild in die Tiefe, die angeschnittenen Elemente jedoch über den Bildrand hinaus in die Weite.

Zwei Welten berühren sich in den verschiedenen Formen. Von unten her erhebt sich im Symbol des Rechtecks die Erde bzw. das Irdisch-Materielle. Von oben her senkt sich in den runden Formen sanft das Unendliche, Göttliche in das Bild hinein.

Die Basis bilden zwei leicht nach links geneigte Rechtecke mit bewegtem Rand. Weiche Formen, in denen sich spiralförmige Abdrücke und gepunktete Spuren befinden, die an Fingerabdrücke erinnern, aber auch an entstehendes Leben. Neblige Goldspuren deuten die Kostbarkeit dieses Bereichs genauso an wie der minimale rote Farbtupfer seine Verletzlichkeit. Im breiten Riss, der die beiden Elemente voneinander trennt, kommt ihre frühere Einheit zur Sprache, vielmehr aber ihre jetzige Zerrissenheit und Trennung.

Im oberen Teil werden sie durch einen halbkreisförmige, weiße konzentrische Linien überlagert und klammerartig zusammengehalten. Diese wiederum werden nach oben gespiegelt und von dort auch nach links und nach rechts, so dass sich eine T-Form ergibt, die auf den beiden aufrecht stehenden Rechtecken aufliegt. Diese weiße Manifestation im Zwischenbereich des Bildes vereint in sich rechteckige wie runde Formen, irdische wie göttliche Elemente. Sie überhöht die rechteckigen unteren Formen, bildet gleichsam einen Altar. Zudem stellt sie einen Übergangsbereich dar, hinter und über dem sich verschiedene Kreisformen erheben.

Der mit lebendiger Linie ganz dargestellte Kreis scheint über dem altarähnlichen Tisch zu schweben. Rund wie ein Himmelskörper ist er doch von der Farbe her anders. Erinnerungen an eine Sonnenfinsternis mögen aufsteigen, auch die seltsamen Gefühle, die einen beschleichen, wenn sich der Mond vor die Sonne schiebt und es immer dunkler wird. Doch im weiß gefaßten Kreis finden sich die gleichen Farben wie außen herum. Allerdings sind sie in ihm anders vermischt, hier kommen sie klarer zum Ausdruck – das helle Blau außen, übergreifend, innen das dunklere, intensivere, geheimnisvollere Blau, das die hellen Lichtpunkte besser zur Geltung bringt. Das Firmament ist das Kleid von diesem Himmelskörper, der von oben her wie von einem Kometen besucht oder befruchtet wird. Zu beiden Seiten wird er von runden Linien flankiert und ein erstes Mal gehalten. Wirklich eingebettet ist dieser schwebende kleine Kreis in dem großen, das Bild weit übersteigenden Kreis, der sich an seiner Außenseite mit einer intensiven grünen Bewachsung zeigt und sich fest in das altarähnliche Tischblatt einsenkt – bleibende Gegenwart, bleibende Ver-Bund-enheit.

Eine Schalenform zeichnet sich ab, ein darbietendes Gefäß, über dem sich der weiß umrandete Kreis erhebt. Gedanken an die Eucharistie mögen aufsteigen, Erinnerungen an das eucharistische Hochgebet, das der Priester – während er Kelch und Hostienschale erhebt – mit den preisenden Worte abschließt: „Durch ihn und mit ihm und in ihm ist dir, Gott, allmächtiger Vater, in der Einheit des Heiligen Geistes alle Herrlichkeit und Ehre jetzt und in Ewigkeit. Amen.“ Danksagung in ihrer reinsten Form für die Größe und die Schönheit der Schöpfung, für ihre Rettung, für ihre Vollendung durch Gott.

Schreitender

Turmartig erhebt sich die grün-blaue Figur in der Bildmitte. Die einfachen Formen mögen spontane Assoziationen zu einem Pfosten oder einem stilisierten Baum auslösen. Doch die zwei Füße im Seitenprofil lassen die Gestalt eindeutig einem Menschen gleichen, auch wenn keine Arme oder eine klare Kopfform zu sehen sind. Aber verjüngt sich die Körpergestalt nicht in der Halsgegend und weitet sie sich nicht im Bereich des Kopfes, so dass eben doch eine Kopfform ausgemacht werden kann? Und könnte nicht die blaue Farbe einem Gesicht zugeordnet, die verwaschene runde Form daneben als Auge, die Unschärfe links unten im blauen Bereich als Mund gedeutet werden?

Auch die Farbgebung der solitären Gestalt verweist auf den Menschen. Grün mag hier symbolisch für die irdische Herkunft stehen, für das dynamische Wachstum, für das emporstrebende Leben. Dieser Mensch steht in seinem Saft, ist voller Leben. Die blaue Farbe hingegen deutet auf seine geistige Kraft hin, mit der er fähig ist, das sinnlich Wahrnehmbare durch seine Intelligenz zu durchdringen.

Aber durch die gestalterische Vereinfachung konzentriert sich alles in den beiden Füßen, scheint alle Energie in sie zu fließen bzw. von ihnen auszugehen. Der vordere Fuß befindet vollflächig auf dem Boden, der hintere ist leicht angewinkelt. Spannungsvoll zieht eine Bogenlinie von der Ferse bis zum Scheitel. Eine unsichtbare Kraft scheint sich ihm in den Rücken zu pressen und ihn voranzutreiben.

Beinbewegung wie Körperhaltung zeigen also an, dass dieser Mensch in Bewegung ist und von rechts nach links schreitet. Den Kopf hat er dabei leicht in den Nacken gelegt, die Haare sind wie von einem heftigen Gegenwind zerzaust nach hinten geweht. Dieser Mensch scheint ein Ziel vor Augen zu haben. Gleichzeitig kämpft er gegen die Kräfte von hinten und von vorne, um nicht schneller oder langsamer, sondern in seinem eigenen Tempo voranzukommen. So achtet er mit angespanntem Leib auf jeden Schritt, so scheint er als vorsichtig Schreitender jeden Schritt zu bedenken.

Nach der Betrachtung der solitären Figur sind nun noch die roten Bildelemente zu erforschen. Die dickere Diagonale gleicht mit seiner auslaufenden, spitzen Form einem Speer oder einem Lichtstrahl, welcher die Figur durchdringt. Ist er ein von der Liebe getroffener und gleichzeitig beflügelter? Denn die vier gleichfarbigen Linien, die rechtwinklig zur Diagonalen von der Körpermitte nach hinten abstehen, muten wie Federn oder wie Pfeile im Köcher an, haben aber auch ein flügelähnliches Aussehen.

Assoziativ dazu kann die rote Diagonale als Bogen gesehen werden, den der Schreitende locker in der Hand hält, bevor er ihn zum Schießen auf Augenhöhe hochnimmt. Bei dieser These wäre der Schreitende Jäger und Opfer zugleich, weil die Waffe an ihm selbst zeigt, was durch seinen Schuss demnächst geschehen wird. Auch die rote Farbe würde zu dieser Thematik passen, die stolze Haltung, das hoch aufgerichtete Haar, das wie eine Krone wirkt.

Eine ganz andere Deutung ergibt sich, wenn die rote Diagonale als Stange gesehen wird, die der Schreitende auf Beckenhöhe trägt. Könnte es nicht auch sein, dass er eine Balancestange trägt, um sein Gleichgewicht zu halten? Könnte die geringe Schrittlänge nicht auch darauf hindeuten, dass er sich gar nicht auf dem Boden, sondern auf einem Seil befindet, im „luftleeren“, haltlosen Raum, wie es der neutrale Hintergrund andeutet? Dass er deshalb die Balancestange braucht, um das Gleichgewicht zu halten und nicht herunter zu fallen? Auch hier könnten die vier Linien hinter ihm die Stabilität geben oder ihn beflügeln.

Der Schreitende lässt unterschiedliche Zugänge oder Deutungen zu. Wie diese auch aussehen mögen, regt er an, über unser Schreiten nachzudenken. Wie selbstverständlich bewegen wir uns doch in der Regel vorwärts. Doch welche Kräfte drängen uns, so dass wir schneller als gewollt laufen? Welche Kräfte oder Ereignisse bieten uns Widerstand und hindern uns am Vorwärtskommen? Sind wir Jäger oder Gejagte? Was hilft uns, Gleichgewicht und innere Ruhe zu behalten? Gerade in schwierigen Zeiten oder auf unwegsamen Passagen, bei denen ich mir – auf mich allein gestellt – wie auf einem Hochseil vorkomme, bei denen ich mich Schritt für Schritt vorwärts tasten muss und es oftmals „mehr ein Zögern denn ein Schreiten ist“? Das Aquarell regt auch zum Nachdenken an, welche Menschen, welche Fähigkeiten und Erlebnisse als „Balancierstange“ helfen, das Gleichgewicht zu halten und langsam, aber konzentriert vorwärts schreiten zu können.

Kraft der Gedanken

Ein vergittertes Bild … ungewöhnlich … auch die Erhebungen des Gitters über den hellen Bereichen … und wie es rechts oben aufgebrochen ist … faszinierend!

Grundlage dieser Arbeit bildet eine hohe rechteckige Leinwand. Sie scheint eine schwarze Oberfläche zu haben, aus der sich ein weißes Gebilde erhebt. Und doch muss die Leinwand im Ursprung weiß gewesen sein, denn sie wurde nur mit Kohle bearbeitet. Die weißen Flächen sind demzufolge frei und unbearbeitet geblieben.

Als übereinander geschichtete Waagrechte, deren Enden beidseits weich auslaufen, ergeben sie eine sanft nach rechts geschwungene und sich nach oben verdichtende Gestalt. Im Gegensatz zum schwarzen Hintergrund, der fest und gebunden wirkt, weckt das weiße Gebilde den Eindruck zu schweben. Unten scheint es dem Dunkel zu entsteigen, um dann sanft gleitend aufzusteigen und den Bildraum zu verlassen.

Darüber legt und erhebt sich – vom linken Bildrand ausgehend – das Drahtgitter mit seinen quadratischen Maschen, grau-silbern glänzend. Es spannt sich nicht flach über die Fläche, sondern ist über der weißen Gestalt aufbogen, in der rechten oberen Ecke gar aufgebrochen (Detailbild). Das Gitter scheint den Auftrag zu haben, stark und umfassend den Bildinhalt festzuhalten … und kommt doch nicht dagegen an. Die helle Kraft unter ihm ist stärker und hat sich einen Freiraum verschafft, der die festhaltende Struktur zwang, sich anzupassen. Schließlich war es dieser Kraft auch möglich, die begrenzende Struktur aufzubrechen und ihr zu entfliehen.

Was wohl die weiße Gestalt symbolisieren mag? Die unscharfe Kontur, die schwer fassbare Form lassen an eine immaterielle Erscheinung denken. Die Waagrechten wirken wie Schichtungen von etwas Wiederkehrendem, von etwas, das auf dem Vorhergehenden aufbaut und so Gestalt annimmt. Gestalt von jemandem, der Rückgrat gezeigt hat, denn die geschwungene Form erinnert auch an eine Wirbelsäule. Rückgrat in einer Situation, in der es von drei Seiten nur dunkle Bedrängnis (die schwarze Kohle steht symbolisch dafür) und nur ein Entweichen dorthin gab, wo keine irdisch-materielle Macht mehr Zugriff hatte, nämlich himmelwärts. Mutet die Abfolge nicht auch wie eine Wendeltreppe an, die nach oben führt?

So umschreibt die Künstlerin die Gedanken von Sophie Scholl, die sie konsequent im Widerstand gegen das Naziregime einsetzte. Sie zeigte Rückgrat angesichts der Bedrohungen und der Gefahr. Unerschrocken setzte sie das um, was sie als richtig erkannt hatte. Schritt für Schritt ging sie ihren Weg in der Gruppe der „weißen Rose“. In der Dunkelheit der Nazidiktatur waren ihre freien Gedanken ein Lichtschein und Hoffnung für viele Zeitgenossen. „Sophie war ein ganz normales Mädchen, keine Heilige, sie war fröhlich und nachdenklich, empfindsam, aber auch konsequent“, schreibt Werner Milstein ( „Mut zum Widerstand“, 2003, S.18). Sie mag vielleicht keine Heilige sein, aber ihr Mut und ihr Engagement für die Gerechtigkeit bleiben eine heiligengleiche Ermutigung für uns alle.

Die Arbeit von Sonja Schild gehört zum Kunstprojekt „Unsere Heiligen“. Viele Hintergrundinformationen finden Sie auf der hervorragenden Website zum Projekt.

Was dann? – Wohin?

Ein kleiner Mensch wird von einem von oben kommenden Händepaar gehalten. Das Bild gibt keine Auskunft, woher dieses Menschlein kommt, das klein wie ein Kind ist und das mit seinen großen Händen, dem festen Haar auf dem Hinterkopf, ja von den Proportionen selbst die Züge eines Erwachsenen trägt. Doch dem Künstler scheinen zwei Umstände bei der Wahl des Bildausschnittes wichtig gewesen zu sein. Zum einen der haltlose, schwebende Zustand des kleinen Menschen, zum anderen der Halt, den dieser in diesem Moment erhält. Die Hände von oben sind noch offen, sie haben noch nicht zugegriffen. Aufschluss über die Zusammenhänge gibt erst ein Blick auf den bekannten Holzschnitt aus dem 15. Jahrhundert, aus dem der Künstler die dem Mund eines Sterbenden in Form eines Menschleins entschwebende Seele zitiert, die von einem Engel erwartet wird, um sie dann zu Gott zu führen.

Diese Darstellung entspricht dem Glauben, dass der Mensch genauso nackt, klein und arm wie er bei der Geburt diese Erde betritt sie beim Tod auch wieder verlassen wird. Doch der Künstler hat dem mittelalterlichen Blatt durch die Auswahl und Freistellung des besagten Ausschnittes „den religiös-christlichen Kontext entzogen, verallgemeinert und die konkrete Vorstellung der Aufnahme der Seele in eine jenseitige Sphäre z.B. des Paradieses aufgelöst. Dadurch wird die ins Allgemeine gerückte existentielle Frage des Wohin – hinauf oder hinab? – aufgeworfen, ebenso taucht der im sozialen Sinn gültige Gedanke des Geborgen- und Aufgehobenseins, der Assistenz und des Beistands“ (Nolte) auf.

Zu hinterfragen ist demzufolge, wieso der Künstler diesen „ergreifenden“ Moment nun auf einen sandfarbenen Hintergrund gemalt hat. Denn dieser bildet jetzt den neuen Kontext. In 56 kleinen Bildtafeln sind schattenhafte Farbvariationen sichtbar, die in manchen auch Gesichtspartien einer jungen Frau erkennen lassen, die nach rechts schauen – auf die Seele. Ob die Hervorhebung ihrer Augen daran erinnern möchte, dass auch die Augen Spiegel der Seele sind? In anderen Bildtafeln verliert der Betrachter durch Übermalungen den Blickkontakt, muss er die Augen unter den Farbschichten zurück- und loslassen, so dass nur noch verschwommene Silhouetten auszumachen, vage Schatten von einer verborgenen Gegenwart erkennbar sind. In diesen Farbschichten wird die Vergänglichkeit des Lebens durch die sandfarbenen „Verwehungen“ oder den wie bei einer Sanduhr herabrieselnden Sand immer wieder neu thematisiert.

Einen formalen und inhaltlichen Gegensatz dazu bildet ein gutes Dutzend Kreisformen, welche die aufsteigende Seele wie Luftblasen zu begleiten scheinen. Die großen Kreise sind wie die Seele in reinen Umrisslinien gemalt, allerdings in einer kontrastierenden Perfektion. Die kleinen Kreisformen sind flächig dargestellt, gleichen eher Fixpunkten. Insgesamt muten sie wie moderne Sternzeichen an, die in Dreierkonstellationen und runder Geschlossenheit den Übergang in die Ewigkeit andeuten.

Leichtigkeit wohnt ihnen inne. Ist nicht auch eine helle Freude zu spüren? So vermittelt das Bild in neuer Gestaltung die ursprüngliche Hoffnung und Zuversicht weiter, dass es ein Danach gibt, einen Ort und eine Gemeinschaft, in der das Wesentliche von uns – unsere Seele –, aus der Vergänglichkeit gerettet, eine unvergängliche Heimat finden wird.

Fasziniert vom Wort

Ganz in die Lektüre versunken sitzt ein ungewöhnlich gekleideter Mann vor seinem Buch. Die Welt um ihn herum scheint sich aufgelöst bzw. eine transzendente Form angenommen zu haben. Mit seiner Leibesfülle fest auf dem irdischen Boden sitzend ragt seine Gestalt in den hellen Hintergrund hinein, im Geiste mit ihm eins werdend. – Wer ist dieser Mann? Was beschäftigt und fasziniert ihn derart, dass er mit seinem Kopf geradezu in anderen Sphären schwebt?

Unter einem ellbogenlangen scharlachroten Schulterumhang (Mozetta) trägt der Mann ein langes dunkelblaues Gewand. Der rote Schulterumhang wird überdeckt von einer zweiten Stoffschicht, die spitz nach hinten ausläuft und wie ein Flügel vom Körper absteht. In seiner Grundform bildet der Körper dieses Mannes ein Dreieck, das, obwohl leicht nach hinten geneigt, zum Ausdruck bringt, dass dieser Mann fest wie ein Fels in sich ruht und weder zu erschüttern noch umzuwerfen ist. Im Gegensatz zu dem mit kräftigen Farben gemalten Rumpf wirkt der Kopf blass und teilweise geradezu transparent. Leicht nach vorne geneigt, ist er mehr durch seinen Platz am Körper als durch kopfspezifische Details zu erkennen. Viel bedeutungsvoller erscheint der Hut, dessen Mittelteil genau die Form des Kopfes fortsetzt, dessen Krempe allerdings nur als ein Strich in Erscheinung tritt. Damit wird er als bedeckendes Kleidungsstück wahrgenommen, gleichzeitig bildet seine Silhouette eine auffallende Verbindung zwischen dem Buchstaben H und dem Buch, das die vordere Hutkrempe beinahe berührt.

Mit weit gespreizten Fingern hält der Mann mit der linken Hand den dickeren Teil des Buches, indes er die rechte Hand, die dunkel und wie eine Tierpranke gemalt ist, zurückzuziehen scheint. So, also würde ihm das, was er gerade liest, Furcht einflößen und ihn erschrecken. Rechts neben ihm bzw. zwischen dem Mann und dem Betrachter erhebt sich die Rückensilhouette eines Tieres. Von den Farben her lässt es sich als Löwe identifizieren. Er hat seinen Kopf erhoben und schaut zum Mann oder vielmehr zum Buch hoch. Damit sind die Hutkrempe, das Gesicht und die Hände des Mannes als auch der Tierkopf auf das Buch ausgerichtet.

Dieses Trio – Mann, Löwe und Buch – ist im 21. Jahrhundert ein eher exotisches Bild. Ob es in seiner Symbolik noch zu verstehen ist? Die Kleidung des Mannes erinnert an einen kirchlichen Würdenträger, seine Farbe und sein Hut an einen Kardinal. Seine ganze Aufmerksamkeit gilt dem Buch und dem, was er darin liest. Doch der Künstler hat leere Seiten gemalt, genauso leer wie der asketisch eingerichtete Raum, der den Mann umgibt. Und doch erscheinen weder die Wand noch die Buchseiten leer, sondern durch den feinen und transparenten Farbauftrag von einer geheimnisvollen Gegenwart beseelt, die mit Worten nicht zu fassen ist. So materiell fest der Körper des Kirchenmannes in der Bildmitte aufragt, die weitere Umgebung lassen seinen vergeistigten Zustand spüren.

Die dem sitzenden Mann beigegebenen Attribute Löwe und Buchstabe lassen in ihm Hieronymus sehen, der von 347 bis 420 lebte. 382 wurde der sprachgewandte Theologe im Auftrag des damaligen Papstes Damasus I. mit der Revision der bereits vorhandenen lateinischen Übersetzungen des Neuen Testamentes beauftragt. Drei Jahre später wandte sich Hieronymus der Übersetzung des hebräisch verfassten Alten Testamentes zu. Die einheitliche Übersetzung der ganzen Bibel bekam den Namen „Vulgata“ (was mit „allgemein bekannt“ übersetzt werden kann) und wurde im Mittelalter zur wichtigsten Bibelübersetzung. Zum Löwen kam er, weil er der Legende nach während seiner Zeit als Einsiedler in der syrischen Wüste einem Löwen einen Dorn aus der Pranke gezogen und seine Wunde gepflegt haben soll, so dass dieser bei ihm blieb.

Siegfried Anzinger hat mit diesem Bild ein Thema aufgegriffen, das v.a. im 15. bis 17. Jahrhundert öfters gemalt worden ist (u.a. Jan van Eyck, Antonio da Messina, Domenico Ghirlandhaio, Giovanni Bellini, Albrecht Dürer, Michelangelo Caravaggio, Peter Paul Rubens). Im Gegensatz zu ihnen setzt er Hieronymus in eine geradezu transzendente Umgebung und lässt den Betrachter, indem dieser dem Gelehrten „über die Schulter schauen“ darf, an seinem Bibelstudium teilnehmen. Dabei scheint es dem Künstler weniger um die Übersetzung der Schrift von einer Sprache in die andere Sprache zu gehen (Hieronymus ist nicht am Schreiben), als vielmehr um die Vermittlung der Faszination, die vom Wort Gottes ausgehend den Gelehrten Hieronymus erfasst. Er kann nicht aufhören, dieses Wort immer wieder neu zu schauen und mit Herz und Geist auf seine Bedeutung hin zu ergründen. Aber nicht nur darin kann er uns heute noch Vorbild sein. Auch als Übersetzer der Heiligen Schrift in die damalige Umgangssprache erinnert er uns, dass jeder und jede von uns das Wort Gottes mit Leib und Seele in sein Leben und seine Zeit hinein zu übersetzen hat.

 

Ein wunderbares „Bilderbuch“ mit weiteren faszinierenden Arbeiten aus dem Jahre 2011 ist von Rudi Fuchs unter dem Titel Siegfried Anzinger: Bilder 2011 bei der Snoeck-Verlagsgesellschaft Köln erschienen. Auf 80 Seiten verführen 40 Farbabbildungen in die traumhafte Bilderwelt Siegfried Anzingers. Format 30 x 24 cm, Soft­cover, ISBN 978-3-86442-004-7, 24,80 €

Trinität

Ganz hell präsentiert sich dieses dreiteilige Bild. Bis auf drei dunklere Bereiche sind alle Farben so stark aufgehellt, dass das Dargestellte nur wie durch einen Nebelschleier hindurch zu erkennen ist.

Irgendwann assoziieren wir das Dargestellte vielleicht mit drei menschenähnlichen Gestalten, die sich um eine gelbe Mitte versammeln, denn der Bildaufbau verwendet die gleichen Hauptelemente wie Andrej Rubljow am Anfang des 15. Jahrhunderts in seiner berühmten Dreifaltigkeitsikone. Doch während dieser die drei göttlichen Personen durch Engelsgestalten darstellte, deutet Bernd Zimmer sie als energiegeladene Außerirdische in einer transzendenten Atmosphäre an. Beim einen sind sie um den Tisch (Altar) mit Schale und Brot versammelt, beim anderen um ein lichtes Ereignis in ihrer Mitte. Sind die drei göttlichen Personen in der Ikone als solche klar erkennbar, steht man beim Triptyk eher einem Rätsel gegenüber. Hier wird zweifelsfrei eine Trinität dargestellt, die im Wesen eins ist, aber sie entspricht nicht unseren Vorstellungen, sondern ist anders als wir. Es bestehen wohl Ähnlichkeiten, so dass wir bei ihnen von einem Körper und einer Art Kopf sprechen können, aber Gott bleibt der Nicht-Darstellbare, der ganz Andere.

Wie hat sich Bernd Zimmer nun dennoch bildlich ihm angenähert? Als erstes wählte er drei gleich große Leinwände, die er durch die Farben und das gleiche Motiv zu einem Triptyk vereint. Dann stellt er die drei Gestalten in ein blendend helles Licht, so dass sie wie auf einem überbelichteten Foto nur ganz schwach zu erkennen sind. Je nach Lichteinfall sind sie mehr zu erahnen als zu sehen. Ihre Körper bestehen aus weißen Energieströmen, die von einer gelben Mitte auszugehen scheinen und individuell zu drei aufrechten Gestalten aufsteigen und je in einem kopfähnlichen Gebilde enden. Diese bestehen stets aus einer dunkleren, grünlicheren Innenform (rechts am wenigsten), bräunlichen Strichzeichnungen, in denen Kopfformen ausgemacht und Gesichtszüge gesehen werden können sowie mit etwas Abstand dazu einer rundlicheren Umrisslinie, die an die Außenform einer Glühbirne oder gar an einen Heiligenschein denken lässt.

So wie die „Köpfe“ eine dreiteilige Erscheinung haben, so durchzieht das Thema „Trinität/Triade“ die Arbeit in immer neuen Variationen. Wir haben ein dreiteiliges Bild mit drei gleichbedeutenden Gestalten, deren Einheit nur durch die Trennung der Leinwände unterbrochen wird. Jede Gestalt besteht im Wesentlichen durch eine grau-weiße, bzw. in der Mitte durch eine gelb-weiße körperliche Abgrenzung vom lindgrünen Hintergrund (je drei Farben) und dem dreifach ausgeformten einen „Kopf“.

Die drei Gestalten sind um das leuchtend gelbe Ereignis versammelt, das wiederum von einer kreisrunden Mitte auszugehen scheint. Etwas Spritziges wohnt diesem Ereignis inne, ebenso etwas Leichtes im schwebenden Überlagern der anderen Farben, etwas Vereinendes im Übergreifen auf die seitlichen Bildteile. Wie von einer gemeinsamen Energiequelle scheinen die Drei aus diesem einen Wesen zu leben.

Der Künstler bleibt in seiner Darstellung der Trinität offen. Er hat mit den „schemenhaften weißen Phantasmen“ … „eine Figuration, die aber ohne Identität ist“ geschaffen, eine Präsenz, „die eine kultische Assoziation zulässt, ohne sie zu definieren“ (Walter Grasskamp im Gespräch mit Bernd Zimmer in: Das menschliche Format, S. 41/43, München 2010). Für den Künstler muss das Bild „als strahlende Erkenntnis erscheinen, die Nichtfarbe Weiß, fast neutral in ihrer Erscheinungsform, muss den Bildraum bestimmen. Eine weiße Leinwand, gleich einer durchbrochenen Nebelwand, symbolisiert die Anwesenheit des Undarstellbaren“ (ebda.).

So kann das Bild durch die drei Gestalten mit der Erscheinung Gottes an Abraham bei den Eichen von Mamre (Gen 18,1-15) verbunden werden, durch das feurige Ereignis in der Mitte aber genauso gut mit der Erscheinung Gottes an Mose im brennenden Dornbusch, bei der er sich als „Ich-bin-da“ offenbarte (Ex 3,14). Er ist der Lebendige, der aus seiner Mitte heraus der ganzen Schöpfung Leben schenkt. Nicht nur den Menschen hat er als sein Abbild geschaffen (Gen 1,27), sondern auch des Menschen Familie, die traditionell aus Vater, Mutter und Kind besteht. Vielleicht verbinden wir gerade wegen dieser ursprünglichen Erfahrung so viel mit der Zahl Drei. So kann eine dreifache Manifestation kein Zufall mehr sein und steht somit für ein glaubwürdiges Zeugnis. Gleichzeitig deutet sie auf Vollkommenheit hin. In dem Sinne hat die Zahl Drei als eine allumfassende Zahl in vielen Religionen vielseitige Anwendung gefunden (u.a. z.B. Erde, Himmel, Hölle; Glaube, Hoffnung, Liebe), im Christentum ganz ausgeprägt im dreieinigen Gott. Er ist die Fülle des Lebens, aus der alle leben, in ihm findet auch alles Leben seine Vollendung. Und ist es nicht so, dass das Leben gerade in den Beziehungen seine Vollkommenheit erfährt, in der gelebten Liebe zu Gott und zu den Mitmenschen? – Auch da ist uns die Trinität Vorbild.

Durch Ihn, mit Ihm und in Ihm

Aus grau-blauen Schattierungen und Linien heraus entwickelt sich ein Geschehen, das räumlich schwer einzuordnen ist. Es hat mit Kreisen zu tun, vor allem einem Umkreisen des Kreuzes.

Alles überragend schwebt es im Bildraum. Es weist keine irdische Größe oder Beschaffenheit auf, sondern verbindet als transzendente Erscheinung mit seinen Kreuzarmen das Oben und Unten, das Links und Rechts und macht das hinter ihm Befindliche für den Betrachter sichtbar.

So erhält das Kreuz eine diffus leuchtende Mitte, die im Gegensatz zum als Menschen ausgeformten Schatten an seinem unteren Ende steht. Aufrecht und mit ausgestreckten Armen steht er in Kreuzform – als von Kreuz Geprägter – unter dem Kreuz, er erscheint als Mittler zwischen den Welten, als derjenige, der auf dem Weltenrund steht, es gleichzeitig überragt, ja in einem weiteren Schattenbild ihm zu entwachsen scheint.

Er steht auf einer Linie, die einen inneren von einem äußeren Bereich trennt. Außen zeigen sich die Striche und Farben verwaschener als Innen. Dadurch wird im Innenbereich das sich offenbarende Geschehen klarer ersichtlich, das sich in den Raum hinein und auf den Betrachter zu entfaltet. Umgeben von einer rötlichen Aura, zieht das „ungeschaffene“ Licht so lange in unregelmäßigen Linien seine „Kreise“, bis es die Mitte der kleinen Weltkugel am unteren Bildrand umfangen hat. Wie der Mensch so in der Verlängerung des senkrechten Kreuzarmes steht, wird neben der Menschwerdung Gottes zudem sein Hinabsteigen thematisiert, umgekehrt auch seine Himmelfahrt und Rückkehr an die Seite seines Vaters angedeutet.

Unaufdringlich werden damit die Worte des Apostels Paulus an die Gemeinde in Philippi (2,6-10) hörbar: „Er war Gott gleich, hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein, sondern er entäußerte sich und wurde wie ein Sklave und den Menschen gleich. Sein Leben war das eines Menschen; er erniedrigte sich und war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz. Darum hat ihn Gott über alle erhöht und ihm den Namen verliehen, der größer ist als alle Namen, damit alle im Himmel, auf der Erde und unter der Erde ihre Knie beugen vor dem Namen Jesu und jeder Mund bekennt „Jesus Christus ist der Herr“ – zur Ehre Gottes, des Vaters.“

Und an die Gemeinde in Kolossä (1,16) schrieb er: „Denn in ihm wurde alles erschaffen, im Himmel und auf Erden, das Sichtbare und das Unsichtbare … Alles ist durch ihn und auf ihn hin geschaffen. Er ist vor aller Schöpfung, in ihm hat alles Bestand.“ (Kol 1,16)

Der unfassbaren Größe dieses Geschehens Rechnung tragend hat die Künstlerin das Kreuz in einen kosmischen Raum gestellt. Als unübersehbares Zeichen für Gottes Wirken in Jesu Leben, Tod und Auferstehung wie für seine bleibende transzendente Gegenwart verbindet es über unsere irdische Wahrnehmung hinaus Raum und Zeit. Durch das Bild wird auch der Betrachter dezent „Gott“ gegenübergestellt, eröffnet sich ihm die Möglichkeit, Gott zu begegnen. Gott war nicht nur am Anfang der Welt die schöpferisch treibende Kraft, sondern begleitet bleibend den Entstehungsprozess der Welt und seiner Menschen. Wesentlich, von innen heraus, durch seinen Sohn Jesus Christus, mit dem Heiligen Geist.

Aufgerufen mitzuwirken

Zwei Hände strecken sich dem Licht entgegen. Sie sind offen, bereit zu geben, vor allem aber zu empfangen. Nur mit Strichen dargestellt wirken sie transparent wie geistige Wesen. Sie erscheinen im Einklang mit dem Licht, ganz auf es ausgerichtet, ganz von ihm durchdrungen. Insbesondere die beiden weißen Lichtbündel treffen auf die Hände, berühren sie, enden in ihrer Durchdringung.

Die Armansätze führen mit einem Unterbruch zu einem amorphen Gebilde, das sowohl die Schulter eines Menschen als auch die Teilansicht einer etwas unförmigen Weltkugel sein kann. Im ersten Fall schaut der Betrachter jemandem über die Schulter. Da kein Kopf zu sehen ist, kann die Schulter im Bild aber auch zur Schulter des Betrachters werden, die beiden ausgestreckten Hände zu seinen eigenen. – Ein eigenartiges Gefühl, seine Hände vergeistigt im Licht zu spüren, von den beiden Lichtstrahlen quasi stigmatisiert. Aber vielleicht ist es auch ein schönes, beglückendes Gefühl, so angesprochen und befähigt zu werden.

Im zweiten Fall wirken die Hände als Ausdruck der ganzen Welt. In den asketisch-knöchrigen Fingern wie auch der Handhaltung liegen ein Bedürfnis, eine Geste des Bittens um Führung, um Erfüllung. Von der materialistischen Welt her gedacht, könnte man meinen, dass sich die Hände ins Nichts hinausstrecken. Doch die Farben Gelb und Orange umgeben und erfüllen die Hände mit einer Wärme und Festigkeit aus einer anderen Welt, die Halt und Zuversicht schenken.

Nach zehn dunkel gestalteten Kreuzwegbildern (ganzer Kreuzweg auf der Website der Künstlerin) bildet dieses Bild das erste von vier in warmen Gelbtönen gemalten Bildern, in denen die Hände eine zentrale Rolle spielen. Unwillkürlich mag einem dazu das Lied von Julie von Hausmann in den Sinn kommen: „So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich! Ich mag allein nicht gehen nicht einen Schritt; wo Du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit!“ Doch es geht nicht nur um den letzten, schwersten Weg durch den Tod hindurch. Die Bilder wollen den Betrachter jetzt anregen, seine von Gott erhaltenen Fähigkeiten aktiv für die Gestaltung seines Lebens und seiner Um- und Mitwelt einzusetzen. Diesbezüglich ist die ambivalente Gestaltung der „Schulter“ gelungen, denn es sind meine Hände, ich bin es, der oder die sich für das Gute in der Welt einsetzen soll. Letztlich sind wir alle angesprochen mitzuwirken. Wir alle sind von Gott aufgerufen, in der Nachfolge Christi unseren Beitrag zur Gestaltung der Welt zu leisten.

Belebende Kraft

Ähnliche Farben und Bildsymbole bilden vereinen diese drei Quadrate zu einem Triptychon. Unwillkürlich vergleicht das Auge die drei Bilder und sucht einerseits Entsprechungen, andererseits Unterschiede. So sind Gelb, Rostrot und Weiß in allen drei Bildern zu finden, Blau nur in den rechten beiden Quadraten in drei verschiedenen Symbolen. In den seitlichen Quadraten sind die Symbolzeichen zudem klar und eindeutig (Zoom Bild links / Bild rechs), während sie in der Mitte (Zoom Bild Mitte) verwaschen und undeutlich gemalt sind. Im Weiteren korrespondieren die beiden Quadratzeichen oben links und rechts durch ihre Position wie durch die invertierten Farben miteinander. Außerdem treten das orange und das blaue Quadratmotiv oder das weiße geometrisch abstrahierte Tiermotiv links mit den beiden Motiven rechts durch ihre Ähnlichkeit miteinander in Beziehung.

Den Untergrund oder die Basis für dieses Beziehungsgeflecht bildet ein sattes, kräftiges Gelb. Dieses wird entweder durch Schattierungen in sanftem Rostrot oder durch grau erscheinende Einschlüsse, die von Spachtelspuren stammen, unterbrochen. In der Mitte treten diese Texturen auffälliger in Erscheinung, teilweise sogar einen fast ornamentalen Rahmen bildend. Zudem ist dieses Bild stärker als die anderen von vertikalen rötlichen Bereichen geprägt.

Was die Symbole wohl zu bedeuten haben, die Schattierungen und Farberscheinungen? In der Mitte kann von Abdrücken gesprochen werden, von Spuren, die bezeugen, dass hier mal etwas war. Die rostrote Farbe lässt zusätzliche Wärme spüren, der angedeutete Kreis mit eingeschriebenem Kreuz ein überragendes Geschehen.

Der Künstler hat die drei Bilder aus einer Auferstehungserfahrung heraus gemalt. Ob sich dadurch auch für uns „Auferstehung“ darin sehen lässt, hängt von unseren Erwartungen ab. Aber unabhängig von konkreten Vorstellungen, die letztlich durch andere „Vor-Bilder“ geformt wurden, können wir das kräftige Gelb mit Licht und Wärme verbinden. Der Künstler hat eine schöne Farbe verwendet, in der man sich wohl fühlen kann. Diese Farbe trägt gewissermaßen das neue Leben. Sie überlagert auch die Spuren des vorhergehenden Lebens. Dieses ist wohl noch spürbar und teilweise auch sichtbar, aber im Wesentlichen hat alles eine neue Gestalt.

In den Symbolzeichen liegt etwas Geheimnisvolles. Sie lassen sich nicht eindeutig erklären. Was sollen sie genau darstellen? Aber müssen sie das? Hat sich die Auferstehung Jesu nicht auch im Verborgenen ereignet und weiß deshalb niemand, wie sie vor sich gegangen ist? Die Symbolzeichen stehen somit als Platzhalter für das Unerklärliche und doch Gewesene und dadurch Nachwirkende.

Zum Schluss gehen die Gedanken nochmals zurück zum Aufbau des Triptychons. Die Dreizahl legt eine Verbindung mit den drei Tagen zwischen Tod und Auferstehung nahe, aber das Geschehen gruppiert sich um eine Mitte herum. Vielleicht will damit eine Konzentration zum Ausdruck gebracht werden, die auch mit der hellroten Farbe zu tun hat? Vielleicht hat sich eine hoffnungslose Situation gerade durch den Einfluss der Liebe oder die Hingabe eines Menschen zu einem unerwarteten Aufbruch in eine neue Welt gewandelt. Es lässt sich nicht sagen, nur vermuten, wie die Dreiheit gedeutet werden soll. Traditionell steht ein dreimaliges Erscheinen, ein dreimaliger Ritus auch für ein absolutes Geschehen, das mit Sicherheit so passiert ist, das wirklich war und dem geglaubt werden darf.

In seiner Abstraktheit vermittelt das Triptychon also Wesentliches einer Auferstehung: das Unerwartete, das sich geheimnisvoll ereignet und sich letztlich kraftvoll vor unseren Augen und in unserem Leben manifestiert und Freude verbreitet. Wer wie Maria Magdalena oder die Jünger hingeht und schaut, wird diese aufstellende, belebende Kraft erfahren.

Einladung zum Abend-Mahl

Zwölf Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts umgeben einen mit einem weißen Laken bedeckten Tisch. Die einen sind bekleidet, die anderen nackt. Sie sitzen, stehen, kauern und liegen. Die Gemeinschaft wirkt ungewöhnlich und doch familiär. Fremd und doch vertraut befinden sie sich dem Betrachter gegenüber. Überraschen mag die Versammlung um den Tisch, die bedeutungsvolle Zahl von zwölf Personen, irritieren die Ähnlichkeit der Darstellung mit bekannten Bildern, die uns herausfordert, das Andere, Unterschiedliche in diesem Bild zu suchen. Denn ob Nacktheit oder Haltung, ob Beziehung oder Einsamkeit, die verschiedenen Lebensalter und -situationen sind uns alle bekannt. Wir haben sie am eigenen Leib, in unserer Familie oder im Bekanntenkreis kennen gelernt.

In ausgesprochener Schönheit hat der Künstler die Menschen vom Baby bis zur Greisin, vom Neugeborenen bis zum Verstorbenen dargestellt. Der Künstler hat sich mit seiner Frau (beide schwarz gekleidet), mit Tochter, Sohn und Mutter, mit Freunden und Bekannten in dieses Bild eingebracht. Sie erscheinen als feiernde Gemeinschaft. Allerdings ist keine Freude zu beobachten, kein großes Essen, keine wirkliche Beziehung zueinander. Die einzelnen Personen stehen sich durch ihre Position im Raum nahe, aber außer der Mutter, die ihre Hand auf die Schulter der Tochter gelegt hat, berührt sich niemand, spricht niemand.

Die Gemeinschaft scheint in dieser fast bedrückenden Ruhe zu warten. Das Brot ist geteilt, aber noch nicht verteilt. Wie als Einladung an den Betrachter wird als einzige aktive Handlung das Glas an der Vorderkante des Tisches mit Wein gefüllt. Erwartungsvoll wird der Betrachter von einigen im Bild angeschaut. Wie wird er auf diese Einladung reagieren? Wird er sich an den wirklichen Tisch vor dem Hauptbild setzen oder sich wie andere Personen im Bild aus welchem Grund auch immer vom Tisch abwenden?

Wer die Einladung annimmt, wird auf ganz unerwartete Weise erfahren, wie sehr er zu dieser menschlichen Schicksalsgemeinschaft gehört. Denn nach einer halben Minute sieht er sein Portrait (gefilmt von einer in der Installation versteckten Kamera und von einem in der Wand eingelassenen Beamer auf das Bild projiziert) inmitten der Tischrunde. Wie eine Erscheinung taucht er so an der freien Stelle in der Bildmitte auf (Ansicht 2). Es ist, als wolle der Maler dem Betrachter sagen: in diesem Bild ist ganz viel von Dir. Setz Dich und setze Dich mit uns auseinander, verweile bei uns, trink mit uns ein Glas Wein, brich mit uns das Brot. Erst mit Dir kann das Fest beginnen.

Doch was für ein Fest soll denn hier gefeiert werden? Es irritiert, dass nur die eine Hälfte der Tischgemeinschaft angezogen ist. Auffallend auch, dass sie ausschließlich schwarze oder weiße Kleider tragen und nur beim jungen Mädchen ein paar Farbklekse zu sehen sind, beinahe als Pendant zum Dunkelrot des Weines. Sind sie eine Trauergemeinschaft? Oder sollen Schwarz und Weiß dezent auf seelische Zustände der diese Farben tragenden Personen hinweisen? Die Fragen bleiben unbeantwortet. Sicher ist, dass sie im Gegensatz zu den unbekleideten Personen stehen. Diese haben nichts Exhibitionistisches an sich, sondern integrieren sich auffallend natürlich in diese Gemeinschaft. Sie lassen den Menschen in seiner ursprünglichen und elementaren Beschaffenheit wahrnehmen, so wie er geboren wird (Kleinkind), aufblüht (junge Frau) und letztlich auch stirbt (liegender Mann). Der Künstler hat schöne Menschen gemalt, die Schönheit und die Würde des Menschen hervorgehoben. Auch nackt hat er nichts zu verbergen. Er darf in diesem geschützten Raum seine Anfälligkeit und Vergänglichkeit genauso zeigen wie seine unbekümmerte Offenheit und sein geradezu paradiesisches Vertrauen (vgl. Gen 2,25). Er hat nichts zu befürchten und darf in seiner existenziellen Körperlichkeit ganz sich selbst sein. Ist das nicht so im Kreis der Familie?

Erstaunlich ist und für manche mag dies auch blasphemisch wirken, dass der Künstler dem Betrachter den Platz zuweist, den Jesus in traditionellen Abendmahldarstellungen einnimmt. – Doch zuerst mal ist der zentrale Platz einfach leer, allerdings auch nicht unbesetzt. Denn dahinter öffnet sich der Raum für einen weiten Blick über das Land und in den Himmel. Die Sonne scheint gerade untergegangen zu sein. Noch erleuchten ihre Strahlen den Himmel, doch sie selbst ist nicht mehr zu sehen. Auf diese Weise wird eine andere Dimension unseres Lebens im Bild sichtbar, ein zentraler Bezugspunkt, der mit einer immateriellen Kraft und einem Licht zu tun hat, die auf eine andere Weise als das von links durch ein Fenster in den Raum hineingeworfene Licht für unser Leben wichtig sind. Wir nennen die unerschaffene Kraft Gott, sein Licht, von dem wir heute noch die Strahlen sehen dürfen, Jesus. Er nimmt in dieser aktualisierten Darstellung des Letzten Abendmahls, allerdings in einer anderen Gestalt, weiterhin den zentralen Platz ein.

Wenn nun das Bild des Betrachters an dieser Stelle erscheint, dann um zu sagen, dass Jesus auch durch ihn sichtbar wird und wirkt. Zum einen, weil der Künstler ihn als Hungrigen und Dürstenden an seinen Tisch geladen hat und sich dadurch das Wort Jesus erfüllt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Zum anderen, wenn der Betrachter bereit ist, an Gott zu glauben und bereit ist, sein Leben aus der lebendigen Beziehung zu Ihm zu gestalten. Denn jeder Christ hat in seiner Taufe „Christus angezogen“ (Gal 3,27) und soll sich in seiner Haltung und seinem Verhalten, in seinem Reden und Handeln möglichst wie Jesus verhalten, denn „der Christ ist ein anderer Christus“, wie es der Kirchenvater Cyprian auf den Punkt brachte.

Das Mittelbild der Installation weitet sich seitlich in je sechs kleineren Bildern in den Raum hinein (linke Ansicht 2). Mit Bildzitaten aus dem Abendmahlbild und Inschriften wie „bekennen, vergeben, vergehen, opfern, empfangen, Brot brechen, vergessen, suchen, täglich Brot, Anmut, spiegeln, schlafen“ wird der Dialog zwischen dem im Hauptbild Dargestellten und wesentlichen Handlungen und Erfahrungen im Leben jedes Menschen zusätzlich angeregt (linke Bilderreihe / rechte Bilderreihe / kurze Erläuterungen zu den „12 Begleitern“).

Was in dem Bild geschieht, geht jeden etwas an. Auch der dem Bild vorgelagerte Tisch mit weißem Tischtuch, gebrochenem Brot, dem Messer und der Blume, einem Glas und einem Teller sowie einer goldenen Kugel will dem Betrachter die Tatsache nahe bringen, dass jeder auf irgend eine Art und Weise am Tisch des Lebens sitzt und aufgefordert wird, im Geben und Empfangen daran teilzuhaben und zur Lebensfülle beizutragen. Der wie beim Letzten Abendmahl sparsam bestückte Tisch lässt spüren, dass es auch beim gedächtnishaften Abend-Mahl im Familienkreis weniger um das Essen als vielmehr um die Anwesenheit, die Gemeinschaft und die gegenseitige Zuneigung und Hingabe geht.


Digitale Materialien für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk:
> Das Kunstwerk auf der Website des Künstlers.
> Predigt von Pfr. Bodo Windolf (Fronleichnam 2011).
> Video und Diskussionsforum 1.
> Diskussionsforum 2.

Unterm Kreuz

Mächtig durchqueren die beiden Kreuzbalken das quadratische Bildformat. Sie durchkreuzen es geradezu, so als sollten sie kundtun: No way – kein Durchkommen hier. Dabei sind sie ganz leicht gemalt, fast Ton in Ton mit dem Hintergrund. Auch die Kanten des Kreuzes sind oftmals mehr angedeutet als sichtbar. So erscheint es nicht wirklich schwer und doch ist das ungeheure Gewicht in den intensiver werdenden Farben und der Verdichtung der Striche in der unteren Bildhälfte zu spüren.

Der andere Strichduktus lässt vage Gestalten und Gesichter wahrnehmen. Auf der linken Seite sind die Umrisse eines größeren Kopfes und seiner Haare auszumachen. Man mag an einen geneigten Jesuskopf denken. Allerdings bleibt die Gesichtspartie leer bzw. erscheint sie wie von heftigen diagonalen Strichen zerstört. Dafür tauchen darunter geradezu verstörend fratzenhafte Gesichter mit starrem Blick aus der Dunkelheit auf. Hinzu kommt, dass von rechts her ein diabolisches Ziegenkopfgesicht mit weit geöffneten Augen auf dieses traumhafte Geschehen im gerade erwähnten Kopf blickt. Zwischen den beiden Köpfen vermag man zeitweise auch den Kopf und den Oberkörper eines Jugendlichen zu sehen, wenn sich sein Kopf bei längerem Hinschauen nicht wie bei einem Vexierbild in das rechte Auge eines noch größeren Gesichtes verwandelt, das oben durch zwei angedeutete Hände, die aber genauso gut Haarsträhnen sein können, begrenzt wird.

„Was ist hier los? Was geht hier vor?“, mag der eine oder andere sich erschreckt fragen. Auf diese Weise mitten in das Geschehen unter dem Kreuz hineingezogen, meint man in den intensiven Farben den fieberhaften Zustand und die Anstrengung des unter dem Kreuz Leidenden zu spüren. In den vielen Gesichtern werden seine Ängste, seine Auseinandersetzungen und Versuchungen sichtbar. Hier werden dem Betrachter auf subtile Art und Weise die psychischen Leiden des zum Tode Verurteilten bewusst gemacht. Die bedrängende Nähe all dieser Geister ist schrecklich. Offensichtlich gibt es kein Entrinnen, keinen Ausweg. Zwar taucht immer wieder der auf den Leidenden zulaufende Jugendliche auf, aber er kommt gegen die Übermacht des Bösen nicht an. Nach kurzer Zeit entschwindet er wieder den Blicken des Betrachters und man fühlt sich wieder in die Not des unter dem Kreuz Gefangenen zurückgeworfen. Ein nicht enden wollender Albtraum.

Sehnsucht nach Hoffnung mag sich breit machen. Überm Kreuz ist das Bild lichter und wie ein Halluzinierender meint man weitere Gesichter zu erkennen, freundlichere, und einen Lichtstreifen am Horizont. Aber gehören die Gesichter tatsächlich zu Hilfe eilenden Engeln? Ist das Licht ein wahrer Hoffnungsschimmer? Oder gaukelt die irrelaufende Fantasie des Gefolterten ihm all das vor, um wenigstens einen Funken Hoffnung zu haben, dass er in dieser ausweglosen Bedrängnis nicht ganz allein ist?

Dann, irgendwann, vielleicht auch schon früher, die Wahrnehmung eines noch ganz anderen Gesichtes im Kopf des Leidenden. Es zeigt sich von der Seite. Mehr oder weniger auf der unteren Kante des nach rechts aufsteigenden Kreuzbalkens (ein Symbol des aufstrebenden Lebens) lässt sich das Profil eines Gesichtes erkennen: die Stirn geht in einem Bogen in die Nase über, weiter unten die geschlossenen Lippen, ein Kinn. Die Augen sind nur ein Strich. Eine Ruhe geht von ihm aus … wie bei einem Schlafenden. Ganz in sich gekehrt, eins mit dem Kreuz, strahlt dieses Gesicht eine innere Kraft aus, die von außen gar nichts berühren, geschweige denn zerstören kann. Stark istdiese totale körperliche Auslieferung, noch stärker die das Leiden und den nahen Tod überwindende geistige Kraft, die der selige Ausdruck dieses Gesichtes ausstrahlt.

Vergebung ist überflüssig

Die vielen roten Striche stechen ins Auge. Hier ist etwas aufgeschrieben und festgehalten worden. Hier wird ein Geschehen so genau gezählt, dass die Anzahl durch die Häufigkeit schon ins Unzählbare übergegangen ist. Was hier auch gezählt wird, es geht definitiv um eine große Menge.

Darüber ist in der gleichen Farbe „Vergebung ist überflüssig“ geschrieben. Wie eine Überschrift stehen die drei Worte über der steinzeitlichen Strichsammlung. Im Vergleich zur Schrift muten sie an wie ein uralter, immer gleicher Text. Es scheint immer nur um das Eine zu gehen: die Vergebung.

Der Titel irritiert in seiner Mehrdeutigkeit. Denn „überflüssig“ lässt sich zum einen mit „unnötig“, „nutzlos“ oder „wirkungslos“ übersetzen. Doch das kann es nicht sein. Vergebung ist gerade dort nötig, wo jemand nach schuldhaftem Handeln Reue zeigt und mit dem Geschädigten wieder ins Reine kommen will. Wem eine Schuld vergeben wird, der wird entlastet, dem wird verziehen, der wird entschuldigt. Vergebung kann in diesem Sinne nicht überflüssig sein.

Zum anderen kann „überflüssig“ von seiner Wortherkunft her als etwas Überfließendes gelesen werden. Aber die Vergebung ist keine Flüssigkeit, die ab einem bestimmten Maß wie bei einem vollen Fass Wasser überfließen würde. Und doch muss es etwas damit zu tun haben, denn einen weiteren Wortsinn für „überflüssig“ gibt es nicht.

Vergebung ist ein Zeichen, eine Zusage, die jemandem gegeben wird, der einen Fehler gemacht hat, der eine Person oder deren Eigentum verbal oder materiell verletzt und noch gravierender beeinträchtigt hat. Wer vergibt, rechnet dem anderen das Vergehen nicht an, sondern verzeiht ihm. Vergebung hat mit Nachsicht zu tun, mit der Absicht, dem Anderen das Vergehen nicht nachzutragen, sondern ihm die Chance für einen Neubeginn zu geben. Vergebung setzt ein großes Herz voraus, den Mut, anders zu handeln als „Aug um Aug“. Vergebung braucht ein großzügiges, überfließendes Herz, das aus der Fülle der Liebe auf den Anderen zuzugehen vermag und durch dieses Übermaß an Liebe die Schuld quasi auszugleichen vermag, so dass sich beide wieder in die Augen schauen können.

Vergebung gründet in einer überfließenden Großzügigkeit. Nicht nur in der einzelnen Handlung. Auf die Frage des Petrus, wie oft er seinem Bruder vergeben muss, der sich ihm gegenüber schuldig gemacht hat und ob siebenmal reichen würde, antwortete Jesus: „Nicht siebenmal, sondern siebenundsiebzigmal.“ (vgl. Mt 18,21-22) Jesus wünscht sich kein berechnendes Vergeben, sondern eine großzügige Haltung gegenüber demjenigen, der immer wieder fehlt und fällt. Im Lukasevangelium (6,36) mahnt er seine Jünger: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist.“

Schrift und Striche sind auf einem weißen Hintergrund aufgetragen, der als Ausschnitt von etwas Größerem gesehen an ein helles Kreuz in dunkler Nacht denken lässt. Durch Jesu Tod, aber auch durch sein letztes Gebet (Lk 23,34) steht gerade das Kreuz im Zeichen der Vergebung. Auch der farbliche Gegensatz von Schwarz und Weiß lassen Schuld und Vergebung anklingen. Dass in der schwarzen Fläche auch weiß und rot eingezeichnet ist, mag den Grund darin haben, dass in jeder Schuld das Potential der Vergebung steckt, dass durch Vergebung in jede Dunkelheit Licht gebracht werden kann.

Letztlich geht es darum, Vergebung zu praktizieren, sie wie eine Flüssigkeit auszugießen. Daran mag vielleicht das einfache Gefäß links oben erinnern. Von der Form her ist es einer Gusspfanne in der Stahlindustrie angelehnt, mit der das heiße und flüssige Eisen in die Formen gegossen wird. Obwohl es ganz mit der Farbe des Lebens und der Liebe gefüllt und auch leicht geneigt ist, ergießt sich nichts aus ihr. Es ist, als wolle der Künstler zum Betrachter sagen: In Dir steckt das Potential der Vergebung. An Dir liegt es, dass Vergebung von Dir auf den Bedürftigen überfließt.

Von diesem Bild ist eine Kunstkarte zum Preis von 1 Euro + Porto erhältlich, die beim Künstler bestellt werden kann: Mailadresse

Den richtigen Weg finden

Sieben farbige Kreise umgeben einen goldenen Mittelpunkt. Die Farb- wie die Richtungswechsel der Linien faszinieren. Veränderung wird spürbar. Je nachdem, wie man schaut, können die Kreise treppenförmig in die Tiefe hinunter oder auf einen Kegelspitz hinaufführen. Entscheidend ist die Sichtweise.

Ebenso geht es mit dem Zugang zur Mitte. Er ist auf der linken Seite des Kreises in Form einer dynamisch aufsteigenden Diagonale angeordnet, die sich aus den Kehrtwendungen der farbigen Linie ergibt. Doch welches ist der Eingang zur Mitte? Ist der lehmbraune Hintergrund die Gehfläche, so würden sich gleich zwei Zugänge und zwei Verzweigungen zwischen den farbigen Begrenzungen ergeben. Aber alle endeten früher oder später in Sackgassen, denn nur der direkte Weg hinter dem rechten Zugang führte zur Mitte.

Bei dieser Sichtweise stellt sich unweigerlich die Frage, ob dieser siebenfach geschützte goldene Mittelpunkt so leicht zugänglich sein kann. Schließlich stellt er in seiner goldenen und runden Vollkommenheit etwas sehr Kostbares und für die meisten Menschen Unerreichbares dar. Und doch, so wie sich die goldene Mitte frei im Innenraum befindet, auf der gleichen Ebene wie der Hinter- oder der Untergrund, bietet sich visuell diese Möglichkeit des Zugangs. Wer die Kraft dieses goldenen Mittelpunktes spürt, der wird nicht lange Umwege machen wollen, sondern so schnell wie möglich die größtmögliche Nähe dieser Kraftquelle suchen.

Von oben betrachtet und von der Mitte ausgegangen wird jedoch sichtbar, dass die farbige Linie – wenn auch mit Umwegen – der einzige Weg ist, der direkt auf den Mittelpunkt zuführt. In sieben Kreisen umrundet ihr Lauf die Mitte, bis sie unmittelbar vor ihr endet – allein schon durch die Anzahl ein geradezu heiliges Ritual.

Dieser eine Weg hat den Vorteil, dass es unmöglich ist, sich zu verirren. Dadurch wird er einem aber nicht leichter gemacht. Die Wegführung wirkt manchmal gar zermürbend. Relativ schnell vermag man das erste Drittel zurückzulegen und bis zur Mitte vorzudringen. Doch dann beginnen die Seitenbewegungen. Hin und her führt der Weg über drei Wendungen an den Rand und zum Anfang zurück. Dieser Wegbereich ist durch die Farbe Magenta geprägt.

Ein weiteres diagonales Wegestück führt zu den nächsten drei Rundungen. Sie sind in der Grundfarbe Cyan gehalten. Die äußerste von ihnen bildet gleichzeitig die mittlere der sieben Umrundungen. An ihrem Ende führt sie nach einer Linksbiegung in die unmittelbare Nähe des goldenen Kreises, aber auch an ihm vorbei. In der roten Farbe ist erstmals die Kraft der goldenen Mitte erfahrbar. Was muss von dieser goldenen Mitte für eine Energie ausgehen, dass der in ihre Nähe Kommende wie von einem immateriellen Feuer ergriffen zu glühen und brennen beginnt?

Doch der Weg führt wieder von der Mitte weg. Erst nach zwei weiteren Umrundungen schwenkt er direkt auf sein Ziel zu. So abrupt wie er draußen begonnen hat, hört er vor dem kleinen goldenen Kreis auf. In der unmittelbaren Begegnung mit der goldenen Mitte flammt die rote Farbe wieder auf. Sie lässt spüren: der Weg war nicht vergebens. Angesichts des mühsam Gesuchten, des ganz Anderen, geht seine unendliche Kraft auf den über, der den Ruf der Mitte angenommen und bis zu ihr durchgehalten hat. Verweilen wird angesagt sein, bevor der Weg dann wundersam gestärkt von innen nach außen gegangen werden kann. Erfüllt von der Begegnung mit ihm wird man als Verwandelter in den Alltag zurückkehren und dort allein schon durch die persönliche Ergriffenheit sein Dasein in unserer Mitte verkünden.

Alle Bilder aus diesem Zyklus 12 x 1

Durchblick – Anblick

Schwer zu sagen, wohin der Blick durch diesen schwarzen Rahmen führt. Außen klar abgegrenzt verläuft der breite Strich am inneren Rand und geht verwaschen in das blaue Innenfeld über. Feine Linien in weißer bis golden brauner Farbe erfüllen diesen gewölbten Raum mit Leben, scheinen von unten wie Rauch aufzusteigen, wie geistige Feuerzungen den Raum zu füllen, wie Wasser einer dreifach gefassten Quelle zu entspringen.

Die Dreiviertelkreise in der unteren Hälfte umgeben eine Mitte, die nur von unten zugänglich ist. Dadurch wird die Tiefenwirkung verstärkt, der Blick durch den dicken, festen Tür- oder Fensterrahmen hindurch und weiter die drei Bögen in das Bild hineingezogen. Man kann nur eintauchen in die Tiefe und Weite dieser von Licht durchdrungenen blauen Farbe, sich berühren lassen von dem feinen Leben, das der geheimnisvollen Mitte kraftvoll und doch ruhig entströmt.

Ob man zu weit geht, wenn man in der innersten Umschreibung die Andeutung eines Kinderkopfes sieht, bei dem mit der Öffnung unsichtbar das Kinn suggeriert wird? Vielleicht wird mit dem Zwischenraum auch auf den Mund dessen hingewiesen, der Worte voller Weisheit sagte, ja das Wort selbst ist, das göttliche Wort. Sieht es nicht aus, als würde aus dieser in unendlicher Tiefe gründender Mitte unaufhörlich gegeben und wir dadurch stets empfangen?

So ist es letztlich kein Blick in die Ferne. Eher steht man beim Verweilen vor dieser Arbeit unmittelbar vor dem Antlitz Christi, das zurückhaltend von der Ausstrahlung seines Wesens umgeben wird. Ein Blick durch das Fenster in ein Haus, das alle Begrenzungen übersteigt, ein Blick auf den, der uns einlädt, einzutreten und ihm nachzufolgen, denn er selbst ist die Tür zu einem erfüllten Leben.