Das echte Verhalten vor dem Kunstwerk

“Was … beim Auffassen des Kunstwerkes gefordert wird, ist nicht nur ein Sehen oder Hören, wie bei den Gegenständen der Umgebung sonst; gar ein Genießen und Sich-Vergnügen, wie bei irgendeiner Erfreulichkeit. Das Kunstwerk öffnet vielmehr einen Raum, in welchen der Mensch eintreten, in dem er atmen, sich bewegen und mit den offen gewordenen Dingen und Menschen umgehen kann. Darum muss er sich aber bemühen – und damit wird, an einem besonderen Punkt, jene Aufgabe deutlich, die für uns Heutige so dringlich ist wie kaum eine sonst, die Kontemplation. Wir sind Aktivisten geworden und Stolz darauf; in Wahrheit haben wir verlernt, still zu werden, uns zu sammeln, zu öffnen, zu schauen und die Wesenheiten aufzunehmen. Darum haben auch, trotz allen Redens von Kunst, so wenige ein echtes Verhältnis zu ihr. Die meisten fühlen wohl irgendetwas Schönes; oft kennen sie Stile und Techniken; manchmal suchen sie auch nur nach stofflich Interessantem oder sinnlichen Anreizendem. Das echte Verhalten vor dem Kunstwerk besteht darin, dass man still wird, sich sammelt, eintritt, mit wachem Sinn und offener Seele schaut, lauscht, miterlebt. Dann geht die Welt des Werkes auf.”

Romano Guardini, Über das Wesen des Kunstwerks, Tübingen 9/1965, S. 30f.