Sprache der Bilder

Wir können (…) Bilder „lesen“, wie wir ein Buch lesen, obwohl wir dies wahrscheinlich gar nicht sagen würden. Wir „lesen“ ein Buch, aber Bilder „betrachten“ wir, wir lassen sie auf uns wirken, ihre Formen und Farben, und dann „verstehen“ wir sie aus unserer inneren Erwartungshaltung heraus, d.h. wir „wollen“ bestimmte Formen erkennen, auch wenn uns dies erschwert wird. Aber wenn wir sie nicht finden, dann konstruieren wir diese Formen. Es ist das Recht des Betrachters, bestimmte Formen oder Formelemente so zu ordnen, dass sie für ihn „etwas“ darstellen. Diese Formelemente haben, genau wie die Schriftzeichen unserer Schriftsprache, eine von Regeln bestimmte Anordnung ihrer Elemente, und zwar so, dass sie, genau wie ein Satz in der Sprache, Sinn übermitteln.
Allerdings folgt diese nichtsprachliche Syntax nicht den Regeln der sprachlichen Zeichen. Während ich die Wörter in dem Satz „Das Gesicht ist rot“ nacheinander anordnen muss, sind die entsprechenden nichtsprachlichen Zeichen im Bild, die Linien, Halbkreise, Striche und Punkte nicht hintereinander angeordnet, und sie sind als solche zugleich in bestimmten Farben an einer bestimmten Stelle des Bildes realisiert. Die Syntax eines Bildes ist also nicht linear, sondern simultan, die Wahrnehmung der nichtsprachlichen Zeichen erfolgt gleichzeitig. Farbe und Form sind im selben Augenblick wahrnehmbar, und damit wird mehr Information gegeben als durch das sprachliche Zeichen. Hinzu kommt ihre Mehrdeutigkeit, durch die sie mehrere Funktionen erfüllen können. Ein Strich, ein Kreis, ein Punkt kann in den verschiedenen Zeichenkombinationen ganz unterschiedliche Bedeutungen haben.
So erzählen diese Bilder auch verschiedene Geschichten. Sie sind jeweils die Geschichte dessen, der das Bild betrachtet, und sie sind unabhängig von dem, was der Künstler gemeint hat oder erzählen wollte. Der Betrachter erzählt „seine“ Geschichte zu diesem Bild, und sie deckt sich nie völlig mit der Geschichte eines anderen Betrachters. Ein Bild ist keine unbewegliche Größe, sondern das Ergebnis der Wahrnehmung, abhängig von unserer Stimmung, unserer Absicht, abhängig von Zeit und Ort und Umgebung, abhängig auch von unserem Wissen, unseren Gesprächen mit anderen, vor allem aber von unserer eigenen Geschichte und unseren Erfahrung mit Engeln, die unser Sehen und Verstehen bestimmen. Es sind immer „unsere“ Engel, die wir sehen.

Prof. Dr. Edeltraud Bülow (Michael Blum und Erich Purk, Ein Engel für dich. Verlag Katholisches Bibelwerk Stuttgart, 2002, S. 46