In warmen Farben offenbart sich dem Betrachter dieses Fensters eine geistige Schau. Von goldgelbem, geradezu göttlichem Licht umgeben und durchdrungen lebt das Glasfenster von dem großen, ruhig bewegten und fließenden Element, welches in seinem Inneren eine statische Personengruppe beherbergt.
Der Darstellung liegt ein aus dem 14. Jahrhundert stammendes Andachtsbild zu Grunde – Anna Selbstdritt (Anna zu dritt) –, das die heilige Anna als Mutter Marias und Großmutter Jesu zeigt. Stets hält sie als Erwachsene das Jesuskind und eine kindlich dargestellte Maria in ihren Armen und bietet ihnen mütterlichen Schutz. Frontal und sitzend dargestellt kommen bei ihr herrschaftlich bzw. „frauschaftlich“ gütige Fürsorge und Beständigkeit zum Ausdruck. Mutter bzw. Großmutter wird und bleibt man (bzw. frau) für alle Zeiten.
Den Jüngeren wird die Darstellung der Anna Selbdritt nicht mehr so bekannt sein. Meist trat sie als geschnitzte Skulptur oder als Andachtsbild mit einer neutralen Landschaft im Hintergrund in Erscheinung. Im Glasfenster von Christina Simon werden die drei Personen jedoch in einen Kontext gestellt, aus dem das göttliche Wirken stärker zur Geltung kommt. So sind die drei Personen in einem erdigen Braun dargestellt, während sie von gelb-weißem Licht umflutet werden, das seine höchste Konzentration in der weißen Aussparung oberhalb der drei Köpfe erreicht.
Breit und unerschütterlich nimmt die heilige Anna den Platz in der Mitte ein. Ihre Grundform bildet ein Dreieck. Auf ihren Knien sitzen rechts ein Mädchen – Maria –, links ein nackter Knabe – Jesus. Beide sind im Seitenprofil zu sehen, sich gegenübersitzend, einander anschauend und die Hände reichend. Dabei ist Maria nur minimal größer dargestellt. Das scheint von Bedeutung zu sein und zum Nachdenken anregen zu wollen, denn auf vielen alten Darstellungen ist der Größenunterschied zwischen Mutter und Kind dadurch ausgeglichen, dass der kleine Jesus auf Annas Schoß steht.
Die Künstlerin schreibt dazu: „Das Physiognomie und Gestik beschreibende Linienspiel innerhalb der Figuren verweist auf das familiäre Geflecht und gleichzeitig in seiner Dreiheit auf das zentrale Mysterium des Christentums, die Dreieinigkeit. Drei Generationen stehen auf unterschiedliche Art und Weise zueinander in Beziehung. Der Enkel im kindlichen Spiel mit seiner mädchenhaft wirkenden jungen Mutter, die wie eine Schwester erscheint. Die alte Großmutter mit ihrem wachen und behütenden Auge und ihrer Verantwortung den Kindern gegenüber. Familiäre Bindung wird durch das vom Himmel herabfließende Tuch, das die Figurengruppe umhüllt und diese wie in einer Gondel über die irdischen Zeiten hinaus trägt, in die geistliche Sphäre gehoben. Hier verweist das Tuch als ein Medium zwischen Himmel und Erde auf die Verbindung von Geist und Fleisch.“
Es ist, als würde sich der Himmel öffnen, um Geschenke in das (Welt)Bild einströmen zu lassen. Mit fließenden Bewegungen öffnet sich das Tuch nach den zopfartigen Windungen, um in seiner höhlenartigen Mitte ein Geheimnis freizugeben: die unveränderlich gültige Grundstruktur für gelingendes menschliches Zusammenleben: der Zusammenhalt zwischen den Generationen in Liebe und gegenseitigem Respekt.
Bei weiterem Nachdenken kann man über die Darstellung der Anna Selbdritt hinausgehend einen Bogen durch die Heilsgeschichte schlagen. Dann steht Anna sinnverwandt für das Prinzip des Lebens, für die Liebe, ja für Gott selbst. Dann kann die ikonenhafte Darstellung auch den Erschaffungsmythos der ersten Menschen mit dem schöpferischen Ursprung des neuen Adams und der neuen Eva verbinden – Ehrentitel, welche die mittelalterlichen Theologen für Jesus und Maria verwendeten. Und auch in diesem Zusammenhang wurde Anna angerufen als Hüterin und Fürsprecherin für Familie, Volk und Kirche.