Kreuzgestalt

Über dem unbehauenen Sockel eines Baumstamms erhebt sich eine kreuzartige Skulptur. Kreuzartig, weil einerseits die Proportionen und die rechteckigen Ausformungen an ein lateinisches Kreuz erinnern, dem allerdings der zentrale „Stamm“ des Kreuzes fehlt, andererseits zwei flankierende Vertikale wie angelegte Arme oder Beine das Kreuz stützen und dabei Assoziationen an eine menschliche Gestalt wecken, der ein Balken durch die Brust gestoßen wurde.

Mit der Kettensäge grob aus dem oberen Teil dieses Stammes herausgearbeitet, kann die Skulptur nicht ohne die Geschichte des Baumes gesehen werden. Im mächtigen Durchmesser sind seine früheren Dimensionen zu spüren, mit dem Wurzelansatz seine Standfestigkeit, in der Ausformung der Rinde seine widerstandsfähige Erscheinung als prachtvoller Kastanienbaum.

Obwohl der Baum seines Lebens und seiner Macht beraubt worden ist, gibt er sich nicht tot. Die Kreuzskulptur ist wie ein neuer Spross aus seinem Stamm gewachsen und damit ein Zeichen der Hoffnung, vielleicht sogar der Auferstehung. In Ruhe und Gelassenheit steht das Kreuz erhöht auf dem Stück Baumstamm. Es neigt sich spielerisch leicht zur Seite, als suche es sein Gleichgewicht; es neigt sich dem Betrachter zu und lädt ihn ein, sich auf seine Eigenart einzulassen.

Indem der Künstler es direkt aus dem „Leib“ des Baumes herausgebildet hat, wurde dessen schwere und massive Erscheinung aufgebrochen, alles Verhüllende entfernt, ja sogar in seiner Mitte ein Durchbruch geschaffen, der Lichtblicke ermöglicht und im neuen Leerraum neue Perspektiven zulässt.

So schmerzhaft und tief diese gewaltsamen Einschnitte im Leben (hier symbolisiert durch das Holz) sind, haben sie nicht auch etwas Erlösendes, Befreiendes an sich? Haben sie nicht – wohl durch das Leid gezeichnet – eine bisher unbekannte Gestalt zum Vorschein gebracht, die von einer zeitlosen immateriellen Mitte geprägt ist, einem Freiraum unter dem Kreuz, der ihm eingeschrieben ist? Einem Freiraum, der jedem Menschen innewohnt und für seine geistige Freiheit lebensnotwendig ist?

Konnte nicht Jesus, für den diese Kreuzgestalt durchaus Symbol sein kann, unbeirrt und gewaltfrei seinen Weg bis zum Tod am Kreuz gehen, weil er zutiefst in seinem Wesen von seinem unsichtbaren Gott und Vater geliebt und gehalten wurde? Wie die Skulptur sich in der großen schönen Kirche sperrig und unangepasst gibt und dadurch zum Nachdenken über die eigenen Werte und das eigene Tun anregt, hat sich Jesus mit seinen Worten und Taten den Menschen seiner Zeit in die Quere gestellt.

Damit spricht die Skulptur auch uns Betrachter an und wirft die Frage auf, welche geistigen Werte unser innerster Halt sind und uns befähigen, vereinnahmenden totalitären Strömungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft oder Religion entgegenzutreten, ihrer Gewalt um keinen geringeren Preis als dem des Lebens Widerstand leisten – für die Freiheit des Lebens!

Diese Arbeit von Felix Droese war bis zum 9. April 2007 im innovativen Kreuzweg des ökumenischen Ausstellungsprojektes “VESTIGIA CRUCIS / Kreuzspuren – Gegenwartskunst in 14 kath. und evang. Kirchen im Landkreis Tuttlingen” zu sehen. Zur Ausstellung erschien ein Katalog (48 Seiten, ISBN 3-932764-16-1, 8 Euro).