Die abstrakte Komposition ist nicht einfach zu beschreiben und verlangt eine herantastende Bestandsaufnahme. Deutlich sind drei schwarze, miteinander verbundene Kreisformen zu erkennen. Darüber rote und blaue Farbspuren. Im Vergleich zu den breiten schwarzen Pinselstrichen, welche so etwas wie eine Grundform bilden, wecken sie den Eindruck von Leichtigkeit, von spontan hingespritzter Farbe. Die roten Spritzer umrunden den oberen Kreis wie ein blutiger Dornenkranz, der nach unten strahlenförmig ausläuft. Die blauen Farbspuren überziehen das Bild in alle Richtungen, setzen einen Akzent, bleiben aber unaufdringlich im Hintergrund.
Diese erste Differenzierung bildet die Grundlage für die Interpretation der Bildaussage. Außer der Andeutung an eine Dornenkrone hat sich noch nichts Konkretes ergeben. Aber ob es das braucht? Bilder können doch auch einfach schön sein, Bewunderung hervorrufen oder Freude machen. Doch diese Gefühle sind in der vorliegenden Arbeit nicht wirklich anzutreffen. Hier müssten wir vielmehr von Schmerz sprechen, von einer dynamischen Aktion, einer Bewegung, die vom oberen Kreis ausgeht. Dieses Bild hat nichts Statisches an sich. Es ist voller Leben. Durch die verschiedenen Farben und Linien ereignet sich etwas, scheint sich etwas nach unten hin aufzumachen, in einer sich öffnenden Bewegung freizugeben.
Assoziativ lässt sich in den schwarzen Linien zudem eine vereinfachte Menschengestalt erkennen. Oben der Kopf, die beiden waagrechten Balken links und rechts können als Zeichen für die Arme stehen, die fast senkrechten Striche für den Oberkörper und die Beine, die unteren Kreisformen als Füße. Wenn ein Wesen so zeichenhaft dargestellt wird, möchte der Künstler meistens eine Haltung oder eine Eigenschaft des Dargestellten zum Ausdruck bringen. Insofern ist das Symbol auf seine Charakteristika zu befragen. Was ist anders dargestellt als sonst? Wie wirkt es auf uns? So erscheint dieser angedeutete Mensch von innen her offen, mit den erhobenen Armen freudig vital und bereit zu handeln. Mit den breit abgestützten Beinen bezeugt er zudem Standfestigkeit, aber auch ein mit großen Schritten Auf-dem-Weg-Sein.
Alles scheint vom wohlgeformten Kreis auszugehen. Die schwarze Farbe ist schön gleichmäßig verteilt und bildet eine feste, fast perfekte Form. Ein Zeichen für den Kopf, der mit seinen Gedanken alles steuert? Oder auf Grund der runden, anfang- und endlosen Form auch Zeichen für den unendlichen Gott, der in seinem Innersten Licht ist? Wie eine hoffnungsspendende Sonne leuchtet die helle Scheibe inmitten des Dornenkranzes. Soll sie Hoffnung für alle im Leid und in der Bedrängnis sein, Halt für die wie Jesus ungerecht Behandelten?
Thomas Werk hat seiner Arbeit den Namen „Barmherzigkeit“ gegeben und nicht „Der Barmherzige“. So muss es bei der Bildaussage um das Wesen der Barmherzigkeit gehen: wie es das Wort sagt, um das Erbarmen des Herzens. Dieses aus dem Innersten hervortretende Gefühl hat seinen semantischen Ursprung im Mutterschoß bzw. den Eingeweiden (hebr. răhāmīm). Barmherzigkeit ist demnach keine Sache des Verstandes, sondern des Bauches oder des Herzens. Wie im Bild dargestellt öffnet sich ein barmherziger Mensch von seiner gefühlten Mitte her. Ein Öffnen, das sich in sofortigem Tun äußert: in Form von Mitleid, Anteilnahme, Menschlichkeit und Güte, insbesondere in einer tragischen Situation, im Vergeben von Beleidigungen, im Gewähren von Gnade vor Recht.
Für den Gläubigen ist vor allem Gott barmherzig. So heißt es im Psalm 103,8: „Der Herr ist barmherzig und gnädig, langmütig und reich an Güte“ und Jesus schließt in der Bergpredigt seine Rede über die Vergeltung und die Liebe zu den Feinden mit den Worten: „Seid barmherzig, wie es auch euer Vater ist“ (Lk 6,36). Wir würden nun vielleicht sagen, Barmherzigkeit bedeute, sich dem Notleidenden zuwenden, dem Unterdrückten und ungerecht Behandelten beizustehen. Jesus fordert aber mehr, wenn er darauf hinweist, dass Gott „auch gütig gegen die Undankbaren und Bösen ist“ (6,35c). Gerade im Umgang mit unmoralischem Tun und Ungerechtigkeit, die wir religiös gesprochen als Sünden bezeichnen, stellt er wie bei seiner Zuwendung zum Zöllner Matthäus klar: „Darum lernt, was es heißt: „Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer. Denn ich bin gekommen, um die Sünder zu berufen, nicht die Gerechten“ (Mt 9,13).
All das kann auch aus den Linien und Farben, der Pinselführung und Anordnung der Formen herausgelesen werden. Dabei erzählt die Bildzeichnung mehrschichtig, so dass ein und dasselbe Gestaltungselement unterschiedlich gedeutet werden kann. Das barmherzige Handeln des Menschen soll nach dem Vorbild Gottes geschehen, soll also seinen Ursprung in Gott haben. Für diesen Gott haben wir den schönen runden Kreis als Symbol gedeutet. Von ihm gehen die beiden Linien aus, bei denen zu spüren ist, wie sie mit einem Pinselstrich gezogen wurden. Am Anfang war noch viel Farbe in den Pinselhaaren, doch dann verliert sie sich, reicht aber, um mit gleichsam geschwächten Konditionen die Vollkommenheit seines Ausgangspunktes zu erreichen. Menschlichkeit wird da im künstlerischen Vollzug spürbar. So sehr der Mensch sich auch nach seinem göttlichen Vorbild ausrichtet, er wird nie so vollkommen sein wie Gott. Er wird immer schwächer dastehen, behaftet mit Fehlern. Das soll ihn aber nicht entmutigen, sondern ihm Ansporn sein, gerade deswegen sein Ziel hoch zu setzen, um in seinem Tun das Bestmöglichste zu erreichen.
Im Bild kommt auch zum Ausdruck, dass Barmherzigkeit gerade dort notwendig und Not wendend ist, wo Gewalt angewendet wird. Thomas Werk deutet dies in seiner Arbeit mit dem roten „Dornenkranz“ an. Die vom für Gott stehenden Kreis ausgehende (Pinsel-)Bewegung durchbricht den blutigen Kreislauf der Gewalt und bildet außerhalb neue, gewalt- und konfliktfreie Lebenszentren. Gerade dort, wo andere Leben in Brüche gegangen sind oder zu schwach sind, um selbst wieder auf die Beine zu kommen (vgl. das Gleichnis vom barmherzigen Samariter, Lk 10,25-37). Barmherzigkeit eröffnet neue Perspektiven und damit einen Weg in die Zukunft.
Barmherziges Denken und Handeln muss im Leben immer wieder neu ansetzen, wie es der Künstler in den vier flüchtigen Spuren zwischen den beiden Hauptbewegungen angedeutet haben mag als Versuche, Zeichen der Barmherzigkeit zu setzen, die das Leben verändern, aus der Lebensmitte, dem Herzen wie aus Gott heraus. Die Tradition überliefert die sieben Werke der Barmherzigkeit – die Hungrigen speisen, den Durstigen zu trinken geben, die Nackten bekleiden, die Fremden aufnehmen, die Kranken und Gefangenen besuchen sowie die Toten gegraben Aber sind diese Werke heute noch aktuell? Es gibt Mittagstafeln und Suppenküchen, welche Speisen und Getränke verteilen. Die Toten werden von Bestattungsinstituten begraben, es gibt professionelle Gefängnis- und Krankenseelsorger/Innen. Außerdem gibt es für Asylsuchende, Obdachlose und Ausgegrenzte jede Menge Häuser und Heime, welche sie unentgeltlich aufnehmen. Aber obwohl viele Werke der Barmherzigkeit institutionalisiert worden und von Sozialgesetzen geregelt sind, bleibt weiterhin viel spontan und individuell Barmherziges zu tun.
Bischof Joachim Wanke ließ vor einigen Jahren Befragungen nach zeitgemäßen Werken der Barmherzigkeit durchführen und sie formulieren, weil er der Überzeugung ist, dass unser Land nicht nur Gerechtigkeit braucht. An den Beginn des Elisabeth-Jahres 2007 stellte er einige von ihnen, die zu praktischem Tun anregen, u.a. „Du gehörst dazu …“, „… ich rede gut über dich“, „ich gehe ein Stück mit dir …“, „ich teile mit dir …“, „ich besuche dich …“ und „ich bete für dich“.
Im Vergleich zu den traditionellen Werken der Barmherzigkeit sind dies geradezu einfache Dinge. Sie kosten nichts und sind nicht aufwendig. Aber sie sind in einer Gesellschaft mit zunehmendem Individualismus, in der viele Menschen vereinsamen, oft wirksamer als eine nur finanzielle Hilfe. Diese Werke lassen sich nirgends beantragen, sie kommen nicht vom Sozialamt, es gibt auch keinen Rechtsanspruch auf sie. Sie kommen aus Herzen, die sich öffnen, die teil-nehmen an der fremden Not.
Barmherzig zu sein ist nicht selbstverständlich. Aber Barmherzigkeit kann geübt werden, in dem ich mich ganz bewusst als Mensch in Situationen hineinbegebe, die meiner Anteilnahme bedürfen. Indem ich mich zum Mitmenschen aufmache und ihm durch meine Nähe und Hilfe zum Mitmenschen werde. Die Dynamik von Thomas Werks Arbeit lässt mich aufbrechen, sie fordert auf, “den Weg unter die Füße nehmen”. Dabei begleiten und motivieren Melodie und Text aus einem bekannten Adventslied: „Mache dich auf und werde Licht, …“ … denn Gott kommt unaufhörlich in unsere Welt, in mein Leben.