Durst nach Leben

Dynamisch geschwungene Liniengebilde schweben durch einen neutralen Bildraum. Alle haben mehr oder weniger die gleiche Strichstärke, sie unterscheiden sich nur in ihrer Intensität. Während die dunkleren Linien sich kraftvoll in den Vordergrund drängen, verschwinden die weniger stark betonten Linien im Hintergrund. Durch die auslaufenden Striche und offenen Formen entschwinden sie gleichsam in der unfassbaren Tiefe des Bildraumes.

Auf den ersten Blick mag dieses Spiel der Linien einfach faszinieren: Der Rhythmus von weiten Bögen und engen Kurven, der sich in der unteren Bildhälfte verdichtet und von diesem Zentrum aus in drei einzelnen Formen aufsteigt. Der luftige Tanz von Linien, der Assoziationen an eine Feuerstelle und den daraus aufsteigenden Rauch auslösen mag.

Bei längerer Betrachtung schließen sich die luftigen Gebilde jedoch zu Umrissen von Knochen mit langem Schaft (Diaphyse) und breiteren Knochenenden (Epiphysen). Noch sind sie zu erkennen, noch sind mit den Strichen Spurenelemente von ihnen übrig geblieben. Von wem sie wohl stammen mögen?

Ihre Ähnlichkeiten mit Arm-, Finger- und Beinknochen lassen auf den Menschen schließen. Aber jeglicher Anhaltspunkt für die Bestimmung einer Größe fehlt. So sind es einfach Knochen, die durch die Überlagerungen zum einen körperliche Zusammengehörigkeit signalisieren, durch die teils offenen Formen und erst recht durch den Umstand, dass sie sich über den Bildrand hinaus auflösen, auch Vergänglichkeit und Übergang in eine ungegenständliche und letztlich unsichtbare Wirklichkeit andeuten.

So sind die Knochen in ästhetisierender Transparenz von jeder menschlichen Nähe entfremdet. Einst zu Menschen wie du und ich gehörend, von Fleisch und Sehnen überzogen, waren sie das unsichtbare Gerüst für den aufrechten Gang und das Leben. Nun sind sie nur noch eine Ansammlung substanzloser Knochen, nicht viel mehr als eine Erinnerung, dass da einmal etwas war.

Diesen Zustand der äußersten Armut und Beziehungslosigkeit, der Abwesenheit von jeglichem Leben, verbindet die Künstlerin mit Jesu Sterben am Kreuz. Insbesondere bewegten sie bei der Ausführung dieser Werkreihe seine letzten Worte: „Mich dürstest.“ Dabei meint sie nicht seinen “Durst nach Wasser, sondern nach Trost, Hoffnung, Liebe von Mensch zu Mensch”. Damit setzt sie mit diesen Arbeiten (weitere Werke aus dieser Reihe) den Ruf Jesu am Kreuz fort. Die ihrer Substanz und ihrer Zuordnung beraubten Knochen bringen diese Sehnsucht nach Zuwendung, stabiler Beziehung und Erfüllung zum Ausdruck.

Doch diesen an Knochen erinnernden Linien hat Lilian Moreno Sánchez nicht nur die Sehnsucht nach Trost, Hoffnung und Liebe mitgegeben, sondern auch eine Bewegung, die Überwindung des trostlosen Zustandes andeutet. Scheint nicht ein Windhauch die Gebeine an einem Ort zusammenzuwehen und einige sogar hochzuwirbeln? Die Intervention einer äußeren Kraft wird damit sichtbar. Auferstehung zu einer neuen Lebensgestalt, die sich durch Auferweckung und liebevolle Zuwendung Gottes ergibt.

Das erinnert über die Auferstehung Jesu hinaus an die Weissagung des Propheten Ezechiel, bei dem er wiederholt den Geist Gottes über ein großes Feld mit Knochen herabrufen musste, damit diese sich zu Skeletten sammelten und letztlich mit neuem Leben erfüllt wurden (Ez 37,1-14). Eine wunderbare Erzählung, mit der Gott den im Exil verzweifelten Israeliten seinen Beistand kund tat und ihnen Mut machte, aus ihrer Hoffnungslosigkeit aufzustehen.

Heute ermutigt uns Lilian Moreno Sánchez auf ihre Weise auf Menschen zuzugehen, die sich hoffnungslos wie damals die Israeliten oder durstig wie Jesus am Kreuz fühlen.

Ganze Werkreihe “Tengo Sed – Mich dürstet”

Ausführliches Interview mit Lilian Moreno Sánchez anlässlich ihrer Ausstellung zum “Aschermittwoch der Künstler” 2013 in Hildesheim

Durst nach mehr …

Ein Mann und eine Frau sind an einem Brunnen miteinander ins Gespräch gekommen (Joh 4,1-42). Beide wollten Wasser holen, doch auf einmal ist die Begegnung wichtiger geworden. Das irdene Schöpfgefäß bleibt leer, weil die menschliche Seele nach „mehr“ Durst hat: Offenheit, Verständnis, Liebe, Vergebung, …

Sie kommt seit Jahren jeden Tag zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen. So ist es “ihr“ Brunnen geworden. Lässig hat sie ihr rechtes Bein auf den Brunnenrand gestellt, um den schweren Tonkrug abzustützen und andächtiger den Worten des Jünglings zuhören zu können, der von links in das Bild – in ihre „Welt“ – hineingekommen ist.

Er, ein Jude, hat sie Samariterin um Wasser gebeten! Die Künstlerin hat ihn als Bittsteller kleiner dargestellt als die Frau. Mit wirren Haaren, aber einer ruhigen Ausstrahlung, steht er im langen, einfachen Gewand vor ihr und schaut sie mit großen Augen an. Sie spürt, wie sein Blick in die Tiefe geht, wie ihm nichts verborgen bleibt.

Sprechen deshalb aus ihren Augen Angst, Zweifel und Fragen? – Ist er derjenige, den sie schon lange sucht? Derjenige, der in ihr den Durst zu stillen vermag, den kein Mann (vgl. V. 18) und kein Mensch zu stillen vermochte?

Der junge Mann offenbart ihr, dass sie unbewusst immer etwas oder jemand gesucht hat, der dem Wasser und dem Brunnen ähnlich und doch ganz anders ist: Gott! Jesus sagt zur Frau: „Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“ (Joh 4,13-14)

Worauf die Frau ihn bat: „Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen.“ – Das „lebendige Wasser“, das Jesus zu geben vermag, hat die Künstlerin so thematisiert, dass es aus seiner Hand als dem Ort des Gebens herausfließt. Gleichzeitig wird damit seine Kreuzigung angesprochen, bei der nach dem Lanzenstich Blut und Wasser aus seiner Seite geflossen sind (Joh 19,34).

Ein weiterer Wasserfluss zieht wie die Stola eines Diakons diagonal über das Gewand von Jesus und zeichnet ihn auch von dieser Seite als den Dienenden, Gebenden aus. Er bringt „Geist und Wahrheit“, er bringt den Glauben an seinen Vater zu den Menschen sowie vielfältige Erfahrungen des Heils und der Versöhnung für alle. Durch sein Geschenk hat die Frau zum wahren Glauben gefunden. Sie braucht kein tönernes Gefäß mehr (vgl. V. 28), weil sie selbst zur Wasserträgerin – Glaubensträgerin – geworden  war. Die Männer, die sie aus dem Dorf gerufen hatte, sagten doch auf ihr Zeugnis von Jesus zu ihr: „Er ist wirklich der Retter der Welt!“ (V. 42)