Einsame Spitze

Eine junge Frau mit Rock, Bluse und soliden Stiefeln an den Füßen läuft mit einem Ausdruck des Entsetzens auf ihrem Gesicht zielstrebig auf den linken Bildrand zu. Ihre Hände halten die Träger eines Rucksacks fest, doch überraschenderweise gehören sie zu den Engelsflügeln auf ihrem Rücken. Es wirkt, als müsse sie die Flügel festhalten, damit diese ihr nicht vom Zurückbleibenden, dem sie zu entspringen versucht, abgerissen werden. Durch ihre energische Laufbewegung konnte sie sich im oberen Teil bereits davon lösen, aber an ihrem linken Flügel und ihrer linken Schuhsohle klebt es hartnäckig fest.

Der Titel mag sich auf die Frau beziehen, die im Kampf gegen die ihr anhaftenden Strukturen „einsame Spitze“ ist. Er kann sich aber auch auf das Spitzendeckchen beziehen, das ohne die Frau eine einsame Spitze sein wird.

Die sich in die Länge ziehenden Fäden des Garngeflechts suggerieren, dass sie bisher fest mit dem Spitzendeckchen verbunden gewesen war. Die Verstrickungen der Vergangenheit – dem Deckchen nach waren sie mal kleiner gewesen – sind übergroß zu einer Bedrohung und einem Gefängnis geworden. Die ursprünglich perfekten, aber starren Strukturen haben sie offenbar wie eine Fliege in einem Spinnennetz festgehalten. Damit sie gemäß ihrer Engelsnatur leben und handeln kann, ist es not-wendig, panikartig zu fliehen, alles Altbekannte entschieden abzustreifen und den Sprung ins Haltlose und unbekannte Dunkle zu wagen.

Die Kreisstrukturen der Spitzendecke lassen vermuten, dass ihr Leben immer wieder im Kreis verlaufen ist. Hat sie vielleicht den Ausbruch gebraucht, um sich weiterentwickeln zu können? Spitzenmäßig gebunden konnte sie ihre Flügel nicht gebrauchen. Doch nun scheint sie fliehen und sich losreißen zu können, wodurch auch der Abflug in neue Sphären möglich scheint. Die Dunkelheit vermag allerdings keine Antwort zu geben, wohin sie die Flucht bringen und wie die neue Freiheit aussehen wird.

Doch woher hat sie die Kraft für diesen Befreiungsschlag, was beflügelt sie derart, dass sie nichts mehr halten kann? Ist es das Ziel vor Augen, welches sie das schier Unmögliche vollbringen lässt? Der Glaube an das Mögliche, die feste Überzeugung, dass es ein anderes Leben geben muss? Ein Leben, das von der Freiheit geprägt ist, dieses selbst zu gestalten? Vielleicht hat sie ähnlich wie der blinde Bartimäus ihre Bitte nach Freiheit an Jesus herangetragen und von ihm auch die Antwort erhalten: „Geh! Dein Glaube hat dich gerettet.“ (Mk 10,52)

In dem Fall könnte die Flucht vom Althergebrachten – denn die Spitzenarbeit steht nicht nur für das Kunsthandwerk und die Lebensgestaltung unserer Ahnen, sondern auch für deren Strukturen und Traditionen – nicht aus eigener Kraft, sondern wie es die Flügel andeuten, aus der engen Verbundenheit mit Gott gelingen. Die verbleibenden, anhaftenden Fäden lassen allerdings auch durchblicken, dass wir unsere Vergangenheit nie ganz abstreifen können, dass sie wie auch immer ein Teil unseres Lebens bleibt und dieses weiterhin prägt. Der Blick darauf und der Umgang damit werden durch den Glauben an Jesus gewandelt und relativiert. Jesus selbst antwortet auf die Frage des Petrus, wer denn noch gerettet werden könne: „Amen, ich sage euch: Jeder, der um meinetwillen und um des Evangeliums willen Haus oder Brüder, Schwestern, Mutter, Vater, Kinder oder Äcker verlassen hat, wird das Hundertfache dafür empfangen. Jetzt in dieser Zeit wird er Häuser und Brüder, Schwestern und Mütter, Kinder und Äcker erhalten, wenn auch unter Verfolgungen, und in der kommenden Welt das ewige Leben. Viele Erste werden Letzte sein und die Letzten Erste.“ (Mk 10,29-31)

Das ist einsame Spitze.

Das Leben nicht vorbeiziehen lassen

Eine kunterbunte Menschengruppe ist in der Nacht unterwegs. Ihre leuchtenden Farben und außergewöhnlichen Kleider erinnern vielleicht an Karneval, doch der Stacheldraht im Vordergrund passt nicht zu diesem Gedanken.

Diese Frauen, Männer und Kinder, die hier in scheinbar endloser Reihe vorbeiziehen, haben sich nicht zum Spaß verkleidet, sie kommen von woanders her, sie sind in anderen Kulturkreisen aufgewachsen und vom Leben dort geprägt. So lassen ihre Kleider auf eine afrikanische Herkunft oder muslimische Religion schließen, der Totenkopf und die Zielscheibe, dass sie vom Tod begleitet werden und im Fokus vieler Menschen stehen. Die Linienführung ihrer Kleider oder deren Musterung lässt zudem an lange und vielfältige Erfahrungen denken, die sie mitbringen.

Weil sie anders sind, fremd, nicht dazugehörend, müssen sie vorbeiziehen, ausgesperrt durch eine Stacheldrahtrolle. Die Fremden sollen auf der anderen Seite bleiben und vorüberziehen. Sie sind unerwünscht und sollen nicht hereinkommen. Weshalb sollen sie auch ein Gesicht haben, wenn sie von unserer Seite her gar nicht gesehen werden wollen?

Doch vor dem Hintergrund der dunklen Nacht und hinter dem winterlich kalten Stacheldraht sind diese Menschen der einzige Lichtblick im Bild und erfüllen es mit Wärme. Sie sind Symbol für das Leben und seine Vielfalt und machen deutlich: Wer Menschen ausgrenzt, grenzt das Leben aus.

Dabei haben wir nicht erst seit Jesus den Auftrag, das Leben zu schützen und zu fördern. Wir machen das in der Familie, vielleicht zeigen wir auch Nachbarn oder sogar Landsleuten diese Solidarität. Aber bei Fremden stoßen viele von uns an Grenzen und wir tun uns schwer, sehr schwer sogar.

Wahrscheinlich hat gerade deswegen Jesus in der Bergpredigt sein Augenmerk auch darauf gelegt, wenn er sagt: „Liebt eure Feinde; tut denen Gutes, die euch hassen. Gib jedem, der dich bittet! Und wie ihr wollt, dass euch die Menschen tun sollen, das tut auch ihr ihnen! Wenn ihr die liebt, die euch lieben, welchen Dank erwartet ihr dafür? Denn auch die Sünder lieben die, von denen sie geliebt werden. Und wenn ihr denen Gutes tut, die euch Gutes tun, welchen Dank erwartet ihr dafür? Das tun auch die Sünder. Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist! Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden! Gebt, dann wird auch euch gegeben werden! Ein gutes, volles, gehäuftes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß legen; denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch zugemessen werden. (Lk 6,27, 30a,31-33,36-37a,38)

Den ersten Satz könnte man leicht abgewandelt auch auf die Fremden beziehen, ohne aus ihnen gleich Feinde zu machen: Liebt die Fremden, tut denen Gutes, die ihr nicht kennt. Und in Anlehnung an Mt 25 „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Als ich fremd war, habt ihr mich aufgenommen; ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben. (nach V. 40 und 35)

Wir sollten das Leben nicht vorbeiziehen lassen und erst recht nicht Jesus, wenn er uns als Fremder unverhofft besuchen möchte!

Sich in den Frieden retten

Bilderrätsel haben es so an sich, dass ihre Elemente für den Betrachter nur Vermittler zur wesentlichen Botschaft sind. Diese ist unter den Zeichen verborgen und wird erst durch das Enträtseln des Symbols sichtbar.

In der vorliegenden Arbeit bildet der Bildausschnitt eines wie zufällig unter einem Fluchtwegschild an die Wand gelehnten Blindenstocks den Anreiz, dem Bildrätsel nachzugehen und die eigenartige Erscheinung zu ergründen. Zuerst mag auffallen, dass die Zeichen auf dem Schild verändert worden sind. Anstelle des rechteckigen Symbols für die Tür ins Freie hat der Künstler das Symbol für “peace” – Frieden gesetzt. Die Botschaft des Schildes heißt jetzt in etwa “Suche den Frieden” oder “Dein Fluchtweg ist der Frieden”, “Rette dich in den Frieden”.

Dass diese Suche des Friedens, dieses aus den mit Unfrieden angezündeten und brennenden Häusern, Räumen und Gemeinschaften Flüchten nicht so einfach ist wie auf dem Schild dargestellt, darauf weist der Blindenstock hin. Der Friede ist da, doch wie Blinde sehen wir ihn meistens nicht. Wir vermögen ihn oft nicht zu erkennen und suchen ihn wie Blinde mit den verschiedensten Hilfsmitteln, vor allem in Notsituationen, eben wenn Unfrieden im Haus ist und sein zerstörerisches Unwesen treibt.

Und doch ist der Frieden so nah. Er könnte bei mir beginnen. Es liegt in meiner Hand, es gehört zu meinem Vermögen, Frieden zu stiften. Ja, ich kann Friedensstifter sein, doch gleichzeitig ist es schwer, den Frieden zu bewahren und nach einem Bruch wiederherzustellen. Er ist so zerbrechlich …, gerade bei großer Unzufriedenheit und starken Zerwürfnissen scheint der Frieden oft eine Sehnsucht zu bleiben. Und obwohl die Sehnsucht nach Frieden grenzenlos ist, obwohl man ihn sich wie nichts anderes wünscht, tappt man bei der Suche oft im Dunkeln.

Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb u.a. die katholischen Gottesdienste wesentlich vom Erbarmen Gottes geprägt sind, das in allen Beziehungen Vergebung und Versöhnung ermöglicht. Jesus ist der Friedensstifter, der durch seine Hingabe alles Trennende wegnimmt und die Basis schafft für neue Beziehungen. Er sagt den Gläubigen zu: „Frieden hinterlasse ich Euch, meinen Frieden gebe ich euch,“ und „Gehet hin in Frieden.“

Im Gleichgewicht mit Gott und sich selbst kann das Kunststück gelingen, rücksichtsvoll zu all jenen in unserer Gesellschaft zu sein, die nicht der Norm entsprechen, ja ihnen sogar zuvorkommend zu begegnen. Frieden beginnt im zwischenmenschlichen Bereich in der gegenseitigen Achtung, im behutsamen Umgang miteinander, im Bemühen, niemanden zu verletzen, usw. Der Blindenstock erinnert uns daran, dass wir dafür immer wieder unsere Umgebung nach „Hindernissen abtasten“ und ihnen gegebenenfalls ausweichen müssen, damit der Friede bewahrt wird und niemand zu Schaden kommt. Es liegt an uns, den Frieden zu „retten“ und ihn Tag für Tag „in Sicherheit zu bringen“ vor allen zerstörerischen Kräften. Gott hat uns alle Fähigkeiten dazu gegeben.

Schiffbruch der Barmherzigkeit

Ein halbes Ruderboot liegt auf vier Rundhölzern, als ob es gerade auf ihnen nach einem Schiffbruch an Land gezogen worden wäre. Es sind keine Menschen zu sehen, nur wenige Objekte, die ihre frühere Anwesenheit bezeugen. Wer um das Boot herumgehen kann, findet eine Schwimmweste, eine schwarze Puppe, einen Teddybär, einen Geldschein und eine Muschel, die wie ein Aschenbecher auf dem Bootsrand liegt. Alle erzählen nachvollziehbar von Menschen, die eine Zeit auf diesem Boot verbracht haben, von Erwachsenen und Kindern, die mit wenigen Habseligkeiten die Überfahrt in ein Land der Verheißung gewagt hatten, um sich vor Not und Verfolgung in Sicherheit zu bringen.

Doch das Boot ist leer. Es hinterlässt nur Fragen zu seinen Passagieren: Wo sind sie nun? Wer und wie viele waren es? Woher kamen sie? Konnten sie sich retten nach dem Schiffbruch? Oder sind sie ertrunken? Übrig geblieben ist nur ein Steinkreuz mit dem Gekreuzigten. Mitten im Boot mutet es befremdend an. War es vor dem Unglück schon da oder erst danach? Wie ein abgebrochener Segelmast ragt das Kreuz in die Höhe. Ein erbärmlicher Anblick. Jesus ist hier so fremd wie die Fremden. So ist er, der Gekreuzigte, mit den Gescheiterten solidarisch .

Die fehlenden Extremitäten von Jesus sind durch Metallstücke ersetzt, was ihm noch stärker eine geschundene und bedürftige Gestalt gibt. Der linke Unterschenkel ist mit einem Winkeleisen angedeutet, der linke Arm bildet eine Stange, die mit einer Kette ans Kreuz gekettet ist, sein rechter Arm wird aus einem Stahlträger geformt. Auch das Kreuz hat verschiedene „Ecken ab“. Zudem steht auf dem Schriftband über Jesus nicht I.N.R.I., sondern „STATUS QUO“ (= bestehender aktueller Zustand). Wie um klar zu stellen, dass es nun so ist, obwohl die Flüchtlinge alles daran gesetzt haben, um der Bedrohung und Verfolgung zu entkommen und in ein Land mit besseren Lebensmöglichkeiten zu gelangen..

Die Flüchtlinge haben milde Umstände erwartet, damit ihnen die Flucht gelingt: ein ruhiges Meer, Menschen, die es gut mit ihnen meinen. Sie haben auf Barmherzigkeit gehofft. Sie haben gehofft, dass die Barmherzigkeit sie wie das Boot auf dem Wasser trage und sicher ans Ziel bringe. Vielleicht steht deshalb „BARMHERZIG“ in roter Schrift auf dem blauen Bootsrand und in ägyptischer Schrift als Name des Bootes am Rumpf.

Damit wird angedeutet, dass es weniger um die Barmherzigkeit an sich geht als vielmehr um eine barmherzige Haltung und ein entsprechendes Handeln daraus. Die Motivation dafür resultiert für den gläubigen Menschen aus der biblischen Vermittlung und Selbsterfahrung, dass Gott ein barmherzig Handelnder ist, in der Gegenwart genauso wie in der Vergangenheit (vgl. Ex 34,6 par). Wir leben durch die Liebe und Barmherzigkeit Gottes und in ihnen. Sie sind die Grundlage unseres und eines jeden Lebens. In der Haltung und in den Situationen, in denen wir uns selbst für das Leben des Nächsten einsetzen, treten wir in die Liebe und Barmherzigkeit Gottes ein, handeln wir wie ER und mit IHM zu seiner Verherrlichung. Wo oder wann das nicht geschieht, erleidet seine und unsere Barmherzigkeit „Schiffbruch“. Durch das Kunstwerk wird deutlich, dass bei unbarmherzigem Handeln etwas ganz Wesentliches und Tragendes zwischen den Menschen zu Bruch geht, das man mit Vertrauen und Solidarität beschreiben könnte. Es ruft mahnend in Erinnerung, dass dabei nicht nur der Notleidende unter Umständen mit dem Leben bezahlen muss, sondern auch der Wohlhabende an Menschlichkeit verliert.

Die Installation war im Rahmen des Projektes “Da-Sein in Kunst und Kirche” in der Kirche St. Franziskus in Regensburg-Burgweinting zu sehen.

Hochgebirge

Der Regensburger Künstler präsentiert die Rauminstallation „Hochgebirge“ und übersetzt damit die Leidensgeschichte von Flüchtlingen in eine künstlerisch-abstrakte Darstellung. Die Leiter als Symbol für die Verbindung von Himmel und Erde, für den Übergang in eine andere Welt, in eine höhere Sphäre, als Zeichen des Aufstiegs und der Entwicklung, steht stellvertretend für die Hoffnung der Flüchtlinge auf ein besseres Leben. Die Sprossen, die der Mensch nur alleine erklimmen und herabsteigen kann, stehen zugleich für die Alleingelassenheit der Reisenden, die ihren Weg auf sich allein gestellt bewältigen müssen (Detailansicht). Mit Wasser gefüllte Bottiche lassen an die lebensgefährlichen „Nussschalen“ afrikanischer Flüchtlinge denken, mit denen das Mittelmeer überquert werden soll.

Kaufers Installation meint allerdings nicht eine bestimmte politische Flüchtlingskonstellation, sondern das Flüchtlingsdasein im Allgemeinen. Der Titel „Hochgebirge“ spielt auch nicht auf eine konkrete geographische Situation an, sondern bezieht sich auf die Strapazen des Flüchtlingsdaseins. Auch der Bergsteiger hat ein fernes Ziel, den Gipfel, vor Augen, muss aber bis zu seinem Erreichen Gefahren überwinden (weitere Ansicht der Installation).

Die Bottiche sind mit Wasser gefüllt, scheinen Leck geschlagen zu haben. Wasser als Quell des Lebens wird im Kontext der Flucht Spiegelbild der Zerstörung und des Todes. Die Hoffnung begegnet der Naturgewalt, der zerstörerischen Kraft des Meeres. Die Leiter wirkt hier wie ein Rettungsweg, der aus der Gefahr führt, aber nicht jeden retten wird. Ein Blick in die Bottiche offenbart eine weitere Perspektive: Durch ihre Spiegelung in der Wasseroberfläche erhalten die Leitern eine bedrohliche Doppelrolle. Sie führen nicht nur nach oben, sondern auch hinab in die Tiefe.

Der Parcours endet im Blättermeer aus Genfer Flüchtlingskonvention, EU-Richtlinien, Verwaltungsvorschriften und Gesetzen. Repräsentativ stehen diese Texte für eine auf Normen ruhende Gesellschaft, deren humanistische Ideale in Bürokratie und im Vorschriftenwust unterzugehen drohen. Der Betrachter kann die Ratlosigkeit und die Frustration der Migranten nachvollziehen. Sie sehen sich nun den Gefahren eines neuen Meeres aus Paragraphen gegenüber. Gesetze und Vorschriften sollen für Gerechtigkeit sorgen, sind ein Weg zu retten und zu helfen, sie beinhalten aber auch viele Restriktionen, die die gesellschaftliche Wertedebatte in der Flüchtlings- und Zuwanderungsfrage zu keinem Ende kommen lassen.

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Erstveröffentlichung im Ausstellungskatalog: Ich bin da. Künstlerische Perspektiven zum Thema Flucht. Regensburg 2015, S. 16.

Entwurzelt!

Die eine Hälfte eines Baumes liegt am Boden, die andere Hälfte schwebt aufgehängt im Raum. Eine verkehrte Welt: Außen befindet sich innen und was normalerweise in die Höhe ragt und tragfähig ist, liegt am Boden bzw. hängt an einem Seil in der Luft. Im Wurzelbereich finden sich zudem Schuhe, die mit Stacheldraht befestigt sind. (Großansicht) Sie weisen darauf hin, dass es hier um Menschenschicksale geht, drastisch dargestellt am Beispiel dieses Baumes.

Als Baum hat der Künstler eine Weide gewählt. Diese wachsen bevorzugt am Wasser – am Lebenselixier par excellence. Mit der Wurzel wurde sie ausgegraben und in zwei Teile zersägt in eine absolut fremde Umgebung transportiert: einen Innenraum ohne direkten Wasser- oder Luftkontakt zur Außenwelt. Die Brutalität der Entwurzelung wird gesteigert durch die Überwindung der Schwerkraft und die enge Verbindung mit den Schuhen. Durch den Stacheldraht wird ihr Schicksal untrennbar und lässt sie beide zu Treibgut der derzeitigen gesellschaftlichen Strömungen werden. (Großansicht) Ihnen beiden ist der Boden unter den Füssen weggezogen worden. Ihr Schicksal hängt an diesem „seidenen Faden“. Werden sie gehalten – oder fallen gelassen?

Die Skulptur hält uns einen Spiegel vor Augen, was mit vielen Zeitgenossen geschieht, die durch politische, religiöse oder wirtschaftliche Krisen in die Flucht getrieben werden. Sie nehmen die Entwurzelung von allem, was sie bislang umgeben und gehalten ha,t in Kauf, um ihr Leben und das ihrer Familien zu retten. Der Sprung in die Freiheit verlangt allerdings Ausdauer, er ist wie beim Baum eine lange Durststrecke, bei der in keiner Weise sicher ist, ob der Baum / Mensch je wieder Wurzeln schlagen kann oder ob er ein Entwurzelter / Heimatloser in der Fremde bleiben wird. Das deuten auch die mit Stacheldraht am Baum gefangenen Schuhe an. Diese sind mit Gewalt an den Baum gebunden, so dass ein Weitergehen in den eigenen Schuhen nicht mehr möglich ist.

Der ausgestellte Baum bringt auch schmerzvoll zum Ausdruck, dass die geflüchteten Schutzsuchenden am neuen Ort wohl Schutz erfahren, aber zu sinnloser Untätigkeit verurteilt sind. Sie sind ihrer natürlichen Handlungsfähigkeit weitgehend beraubt und „liegen“ und „hängen“ deshalb tatenlos herum.

Der sich jeder Definition entziehende Werkname „Ohne Titel“ trifft hier den Kern der Sache. Das Erschrecken über die Entwurzelung im Kontext von Flucht, Vertreibung und sozialer Entwurzelung kennt keine Worte.

Das einzig Notwendige sind mutige Entscheidungen und aktives Zupacken von unserer Seite, um Zeichen der Menschlichkeit und Mitmenschlichkeit zu setzen: Die in unserem Lebensraum Angekommenen zu besuchen und sie nicht länger als „angeschwemmte“ Fremdkörper zu betrachten oder zu behandeln. Die Darniederliegenden sind aufzurichten, den Entmutigten ist Mut zuzusprechen, den Heimatlosen neuer Boden unter den Füßen zu geben, die in den Gesetzesvorschriften Gefangenen sind zu befreien und zu neuer Lebensqualität zu führen. Zu all dem und noch viel mehr kann diese eindrückliche Arbeit von Eduard Winklhofer Anstoß geben.

Die Ausstellung Ich bin da. Kulturelle Perspektiven zum Thema Flucht, Vertreibung und Migration war bis zum 12. Juli 2015 im ehemaligen Kloster St. Klara in Regensburg zu sehen. Sie gehörte zu einem reichhaltigen kulturellen Programm, das mit Ausstellungen, Konzerten, Lesungen, Kino, Exkursion und mehr … offene Blicke auf ein aktuelles Thema freigab.

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Leid und Flucht

Die Farben des Bildes scheinen sich von den beiden rechten Ecken her zur Mitte und nach rechts hin zu verdunkeln. Der lichterfüllte Sand verfärbt sich von oben und von unten her glühend rot, um dann von einer aschgrauen Schicht überdeckt zu werden. Darin sind schwarze Gestalten unterwegs, gerade noch als Menschen erkennbar. Im harten Gegensatz zu den dunklen Menschengruppen leuchtet am oberen Bildrand ein halb verdecktes rundes Licht. Ob es für die Sonne steht, welche das Land einst in warmen Farben leuchten ließ, bevor sie durch die Flammen und den Rauch eines anderen Feuers verdeckt wurde?

Unheil ist aus dem Bild herauszuspüren. Als Betrachter fragen wir uns unwillkürlich, was geschehen ist, dass eine solche Finsternis das Land bedeckt und die Menschen zur Flucht bewegt. Die Farben assoziieren Wüste, Hitze, brennendes Land und verbrannte Erde. Krieg lässt sich erahnen und lässt an die vielen Konflikte in Nahost denken, in denen immer und immer wieder Heimat zerstört und Menschen in Angst und Finsternis gehüllt werden. In Gruppen sind sie in der Sehnsucht nach neuer Sicherheit und Heimat unterwegs.

Von den Menschen sind nur Silhouetten übrig geblieben. Als Schatten geistern sie durch das zerstörte Land, als „verkohlte“ Gestalten, bei denen mit der Umwelt zusammen auch vieles im seelischen Bereich verbrannt und zerstört worden ist.

Das Bild strahlt Trauer aus, aber nicht Trost- und Hoffnungslosigkeit. Denn noch leuchtet die Sonne. Aber sie hat keine Kraft, die Menschen in der Finsternis zu erreichen. Das Bild erinnert auch an das Volk Israel, von dem wiederholt berichtet wird, dass es in Dunkelheit und Finsternis lebt, aber über ihnen ein Licht aufstrahlt (vgl. Jes 9,1; 60,2).

Auch das große Kreuz, das verborgen als Symbol des Leidens und Sterbens über das ganze Bild gelegt ist, spricht die Hoffnung an. Die von Leid und Not betroffenen Menschen sind nicht allein. Jesus Christus hat sich durch sein eigenes Leiden mit ihnen solidarisiert und ist ihnen auf ihrem kreuzwegähnlichen Auszug aus der „heiligen“ Stadt nahe. Er trägt ihre Angst und ihr Leiden mit. Hebt sich im Bereich des linken Randes nicht schemenhaft ein schwarzer runder Kopf vom grauen Hintergrund ab und lassen sich darunter nicht die ausgebreiteten Arme und der Leib des Gekreuzigten sehen? Sein Sieg über Sünde und Tod lassen das warme Rot im Hintergrund in einem ganz anderen Licht sehen: als Künder des neuen Lebens, als Verheißung des neuen Tages, der neuen Zeit nach diesem Schrecken und dieser Not.