Rampenlicht der Gnade

Eine Frau steht dem Betrachter zugewandt in gelblich-weißem Licht. Ihre Silhouette zeichnet sich klar vom Hintergrund ab. Der Blick folgt den Konturen ihrer Haare, dem Zweiteiler, den sie trägt. Ihre Arme sind leicht angehoben, die Hände in lockerer Haltung. Ihre Gestalt ist erdig braun, um anzudeuten, dass sie von der Erde geschaffen und irdischer Natur ist.

Sie steht in einem gegenstandsfreien offenen Raum. Unter ihr breitet sich eine bläuliche Wolke aus, darüber ist nur Licht, das sich durch die hellere Mitte bühnenartig nach hinten öffnet. Vertikale Farbverläufe deuten ein herabkommendes Geschehen an, das sich insbesondere in der Mitte über und um die Frau herum konzentriert.

Ohne sichtbaren äußeren Halt über den Wolken zu gehen braucht ein gesundes Maß an Selbstvertrauen. Sie sieht nicht wie eine Seiltänzerin aus oder dass sie mit dem Gleichgewicht zu kämpfen hätte. Im Gegenteil, es scheint für sie eine Selbstverständlichkeit zu sein (man beachte, dass in einem Wort drei wesentliche Wörter vereinigt sind: selbst, verstehen und stehen), vom Licht umgeben zu sein, in ihm zu stehen und zu leben.

Da die Künstlerin das Bild durch ihr Bibelzitat aus Röm 5,5b „denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist“ eindeutig in einen christlichen Kontext stellt, darf das Licht als eine Kraft gesehen werden, die von Gott ausgeht und für den Menschen gedacht ist.

So kann man das fließende Licht als Symbol für die Liebe Gottes sehen. Durch den Heiligen Geist umgibt sie jeden Menschen, der Gott als seinen Vater angenommen hat. Durch den Heiligen Geist pulsiert sie mit dem Blut in unseren Herzen und unseren Adern, um uns und alles, was wir tun, zu durchdringen und mit seinem Geist zu erfüllen.

Das Licht ist ein Ausdruck seiner Gnade, die er allen Menschen zukommen lässt, die offen für sein Wirken sind, ob sie ihn kennen oder nicht. Gott ist da – stark wie das Tageslicht, wärmend wie die Sonne, darüber hinaus am Tag und in der Nacht und auch im Innern von uns. Gottes liebende Gegenwart durch den Heiligen Geist gibt von unseren Herzen ausgehend einen Halt, der alle anderen Sicherheiten überflüssig macht. Seine Liebe ist wie eine Boje, die im Sturm am Ort und über Wasser hält. Sie ist wie ein Heißluftballon, der seine Passagiere sicher durch die Luft trägt, wenn es einem den Boden unter den Füßen weggezogen hat. Seine Liebe ist das Licht, das auch dann scheint, tröstet und gegen allen Anschein Halt und Orientierung gibt, wenn sich überall Dunkelheit und Hoffnungslosigkeit breit gemacht hat.

In Seinem Licht zu stehen bedeutet für Christen die Selbstverständlichkeit, dass Gott durch seinen Heiligen Geist da ist: immer, überall, in allen Lebenslagen. Das Licht symbolisiert von Gott her die Gnade und vom Menschen her das Vertrauen, dass er da ist und handelt, auch wenn es nicht danach aussieht (vgl. Ps 23). Es ist ein heiliges Miteinander, das wie das Licht weit über sich hinaus segensreich Gutes bewirken kann.

Durst nach mehr …

Ein Mann und eine Frau sind an einem Brunnen miteinander ins Gespräch gekommen (Joh 4,1-42). Beide wollten Wasser holen, doch auf einmal ist die Begegnung wichtiger geworden. Das irdene Schöpfgefäß bleibt leer, weil die menschliche Seele nach „mehr“ Durst hat: Offenheit, Verständnis, Liebe, Vergebung, …

Sie kommt seit Jahren jeden Tag zum Brunnen, um Wasser zu schöpfen. So ist es “ihr“ Brunnen geworden. Lässig hat sie ihr rechtes Bein auf den Brunnenrand gestellt, um den schweren Tonkrug abzustützen und andächtiger den Worten des Jünglings zuhören zu können, der von links in das Bild – in ihre „Welt“ – hineingekommen ist.

Er, ein Jude, hat sie Samariterin um Wasser gebeten! Die Künstlerin hat ihn als Bittsteller kleiner dargestellt als die Frau. Mit wirren Haaren, aber einer ruhigen Ausstrahlung, steht er im langen, einfachen Gewand vor ihr und schaut sie mit großen Augen an. Sie spürt, wie sein Blick in die Tiefe geht, wie ihm nichts verborgen bleibt.

Sprechen deshalb aus ihren Augen Angst, Zweifel und Fragen? – Ist er derjenige, den sie schon lange sucht? Derjenige, der in ihr den Durst zu stillen vermag, den kein Mann (vgl. V. 18) und kein Mensch zu stillen vermochte?

Der junge Mann offenbart ihr, dass sie unbewusst immer etwas oder jemand gesucht hat, der dem Wasser und dem Brunnen ähnlich und doch ganz anders ist: Gott! Jesus sagt zur Frau: „Wer von diesem Wasser trinkt, wird wieder Durst bekommen; wer aber von dem Wasser trinkt, das ich ihm geben werde, wird niemals mehr Durst haben; vielmehr wird das Wasser, das ich ihm gebe, in ihm zur sprudelnden Quelle werden, deren Wasser ewiges Leben schenkt.“ (Joh 4,13-14)

Worauf die Frau ihn bat: „Herr, gib mir dieses Wasser, damit ich keinen Durst mehr habe und nicht mehr hierher kommen muss, um Wasser zu schöpfen.“ – Das „lebendige Wasser“, das Jesus zu geben vermag, hat die Künstlerin so thematisiert, dass es aus seiner Hand als dem Ort des Gebens herausfließt. Gleichzeitig wird damit seine Kreuzigung angesprochen, bei der nach dem Lanzenstich Blut und Wasser aus seiner Seite geflossen sind (Joh 19,34).

Ein weiterer Wasserfluss zieht wie die Stola eines Diakons diagonal über das Gewand von Jesus und zeichnet ihn auch von dieser Seite als den Dienenden, Gebenden aus. Er bringt „Geist und Wahrheit“, er bringt den Glauben an seinen Vater zu den Menschen sowie vielfältige Erfahrungen des Heils und der Versöhnung für alle. Durch sein Geschenk hat die Frau zum wahren Glauben gefunden. Sie braucht kein tönernes Gefäß mehr (vgl. V. 28), weil sie selbst zur Wasserträgerin – Glaubensträgerin – geworden  war. Die Männer, die sie aus dem Dorf gerufen hatte, sagten doch auf ihr Zeugnis von Jesus zu ihr: „Er ist wirklich der Retter der Welt!“ (V. 42)

Nicht verurteilen

Die zentrale Person dieses Bildes muss die Frau sein. Mit langen wehenden Haaren und nur leicht bekleidet steht sie im Blickpunkt der fünf Männer im Hintergrund, des Jünglings auf der Seite und nicht zuletzt von mir als Betrachter/in. Mit der linken Hand bedeckt sie ihren Körper, als wäre sie nackt, mit dem rechten Zeigefinger fasst sie nachdenklich ans Kinn. Dabei blickt sie gebannt auf den sitzenden Jüngling, als erwarte sie ausschließlich von ihm eine Antwort.

Der junge Mann mit den wirren Haaren schaut sie seinerseits fragend an, den Kopf nachdenklich in seine linke Hand gestützt. In der anderen Hand hält er einen Stab und schreibt in den Sandboden. Ist es nicht der Anfang des hebräischen Wortes „Gott“? Und was macht ein Fisch etwas fremd zu seinen Füßen? Beide Symbole weisen den sitzenden Mann als Jesus aus. Die Frau ist demzufolge die von den Schriftgelehrten und Pharisäern auf frischer Tat ertappte Ehebrecherin.

Wie eine Mauer stehen die Ankläger in langen, verhüllenden Gewändern und hochgezogenen Kapuzen hinter ihr. Mit verschlossenen Blicken schauen sie die Frau an, beraten oder vergewissern sie sich, um schließlich davonzugehen auf die Frage von Jesus: “Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als Erster einen Stein auf sie.“ (Joh 8,7) So bleiben die Steine am Boden liegen und mögen in Form einer Weintraube ein Hinweis auf die Versöhnung sein. Jesus ist doch der Weinstock, sein Blut wird zur Vergebung der Sünden vergossen.

Im Gegensatz zu den fünf Männern, die sich moralisierend über die Frau erhoben haben, hat sich Jesus klein gemacht. Er will nicht ihr Richter sein, sondern ihr Diener. Er schaut die Frau von unten an, um sie nach der Erniedrigung durch die Ältesten wieder groß zu machen. Gleichzeitig weist er auf die Anfangsbuchstaben von „Gott“, wie um seine Worte laut werden zu lassen: „Auch ich verurteile dich nicht, geh, und sündige von jetzt an nicht mehr.“ (Joh 8,11)

Nach diesen Worten von Jesus kann und will ich als letzte/r Betrachter/in nichts mehr sagen. Ich möchte mir nur die Haltung Jesu zu eigen machen. Und ganz leise singt es in mir – als wäre es das aus der Ferne erklingende Glück jener von Jesus begnadigten Frau: „Meine Seele preist die Größe des Herrn, und mein Geist jubelt über Gott, meinen Retter. … Er erbarmt sich von Geschlecht zu Geschlecht über alle, die ihn fürchten. Er vollbringt mit seinem Arm machtvolle Taten; er zerstreut, die im Herzen voll Hochmut sind; er stürzt die Mächtigen vom Thron und erhöht die Niedrigen.“ (Lk 1,46-47.50f)