Spitzenidee

Über einer ordentlich ausgebreiteten Spitzendecke flattern Tauben in den tiefblauen Bildraum. Sich von der ausfransenden Spitzendecke losreißend erwecken sie den Eindruck, soeben eine Metamorphose durchgemacht zu haben und die letzten Fäden und Verbindungen zu den netz- und nestartigen Strukturen unter und hinter sich zu lassen.

Doch die befreienden Flügelschläge in eine dahinter liegende grenzenlose Freiheit sind nur möglich, wenn man die Spitzendecke nicht als auf einem festen Untergrund liegend betrachtet, sondern als filigranes, senkrecht und freistehendes Objekt, das zwischen dem Dies- und dem Jenseitigen steht, zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren, zwischen dem Jetzt und dem Kommenden. In dieser Perspektive ist ein Überwinden der Begrenzung und gleichzeitig ein Abtauchen in die Tiefen des Hintergrundes möglich.

Wahrscheinlich ist diese andere Betrachtungsweise das Momentum, in dem eine Spitzenidee geboren wird. Sie entspringt der alltäglichen Lebenswelt als geniale Inspiration. Sie ist ein gedanklicher Geistesblitz, der uns elektrisiert und uns motiviert, Dinge zu denken oder zu tun, die wir uns in den kühnsten Gedanken nicht zugetraut hätten. So gesehen sind Spitzenideen Überflieger, die uns abheben lassen vom Bisherigen, die uns durch ihre ungeheure Kraft zuversichtlich aufbrechen lassen in das Ungewisse.

Eine Spitzenidee gleicht von ihrer Dimension her einem winzigen Senfkorn, aus dem ein großer Baum wachsen kann (vgl. Mk 4,31-32). Der Spitzenidee wohnt die Dynamik inne, die eine Idee zu einem Gedanken werden lässt, der immer größer und konkreter wird, bis man merkt, dass sie wie Flügel das Körpergewicht tragen kann. Spitzenideen sind voller Zuversicht und verleihen die nötige Kraft, sich vom Bisherigen loszureißen und abzuheben in eine ungebundene, verstrickungsfreie Lebenswelt, die offen ist für alles Mögliche. Was trägt, ist die Luft, was bewegt, sind der Wind und die Flügelschläge.

Spitzenideen wohnt eine geradezu magische Begeisterung inne. Plötzlich sind sie da und geben dem Leben einen energetisierenden, kraftvollen Aufwind. Ein prickelndes Gefühl, etwas Einzigartiges zu erleben, das es so noch nicht gab und so nicht wieder kommen wird. Die Erlebnisindustrie hat dieses Bedürfnis nach dem Ungewöhnlichen und Besonderen schon lange für sich entdeckt.

Doch wie wäre es, solche Spitzenideen aus sich selbst heraus entstehen oder entspringen zu lassen? Hat Gott nicht allen Menschen seinen Heiligen Geist geschenkt, damit wir alle immer wieder neu sehen und denken können, frei werden für von der Norm ver-rückt-e Ideen, welche die Welt zum Guten verändern und erneuern? Grundlage wäre demzufolge eine Zuwendung zu dieser spirituellen Kraft, ein Sich-dem-Heiligen-Geist-Öffnen, damit wir von der Leistung aus eigener Kraft mehr und mehr wegkommen und aus der Verbundenheit mit dem göttlichen Geist die Welt wahrnehmen, denken, für sie entscheiden und in ihr handeln.

Dieses geistige Beschenkt-Werden ändert die Perspektive, so dass die Hingabe an einen Menschen oder eine Tätigkeit nicht als Last, sondern als Geschenk empfunden werden kann. Solch ein geistiger Perspektivenwechsel ist eine Spitzenidee. In der Hingabe an einen Menschen, im Ganz-bei-ihm-/bei-ihr-Sein, in der Hingabe an eine Tätigkeit, sei es ein Handwerk oder ein Hobby, in das man sich vertieft, wird man in eine andere Welt entrückt und emporgehoben über Zeit und Raum. Man lebt in der Be-Geist-erung und wird von dieser getragen und beflügelt.

Kraft der Gedanken

Ein vergittertes Bild … ungewöhnlich … auch die Erhebungen des Gitters über den hellen Bereichen … und wie es rechts oben aufgebrochen ist … faszinierend!

Grundlage dieser Arbeit bildet eine hohe rechteckige Leinwand. Sie scheint eine schwarze Oberfläche zu haben, aus der sich ein weißes Gebilde erhebt. Und doch muss die Leinwand im Ursprung weiß gewesen sein, denn sie wurde nur mit Kohle bearbeitet. Die weißen Flächen sind demzufolge frei und unbearbeitet geblieben.

Als übereinander geschichtete Waagrechte, deren Enden beidseits weich auslaufen, ergeben sie eine sanft nach rechts geschwungene und sich nach oben verdichtende Gestalt. Im Gegensatz zum schwarzen Hintergrund, der fest und gebunden wirkt, weckt das weiße Gebilde den Eindruck zu schweben. Unten scheint es dem Dunkel zu entsteigen, um dann sanft gleitend aufzusteigen und den Bildraum zu verlassen.

Darüber legt und erhebt sich – vom linken Bildrand ausgehend – das Drahtgitter mit seinen quadratischen Maschen, grau-silbern glänzend. Es spannt sich nicht flach über die Fläche, sondern ist über der weißen Gestalt aufbogen, in der rechten oberen Ecke gar aufgebrochen (Detailbild). Das Gitter scheint den Auftrag zu haben, stark und umfassend den Bildinhalt festzuhalten … und kommt doch nicht dagegen an. Die helle Kraft unter ihm ist stärker und hat sich einen Freiraum verschafft, der die festhaltende Struktur zwang, sich anzupassen. Schließlich war es dieser Kraft auch möglich, die begrenzende Struktur aufzubrechen und ihr zu entfliehen.

Was wohl die weiße Gestalt symbolisieren mag? Die unscharfe Kontur, die schwer fassbare Form lassen an eine immaterielle Erscheinung denken. Die Waagrechten wirken wie Schichtungen von etwas Wiederkehrendem, von etwas, das auf dem Vorhergehenden aufbaut und so Gestalt annimmt. Gestalt von jemandem, der Rückgrat gezeigt hat, denn die geschwungene Form erinnert auch an eine Wirbelsäule. Rückgrat in einer Situation, in der es von drei Seiten nur dunkle Bedrängnis (die schwarze Kohle steht symbolisch dafür) und nur ein Entweichen dorthin gab, wo keine irdisch-materielle Macht mehr Zugriff hatte, nämlich himmelwärts. Mutet die Abfolge nicht auch wie eine Wendeltreppe an, die nach oben führt?

So umschreibt die Künstlerin die Gedanken von Sophie Scholl, die sie konsequent im Widerstand gegen das Naziregime einsetzte. Sie zeigte Rückgrat angesichts der Bedrohungen und der Gefahr. Unerschrocken setzte sie das um, was sie als richtig erkannt hatte. Schritt für Schritt ging sie ihren Weg in der Gruppe der „weißen Rose“. In der Dunkelheit der Nazidiktatur waren ihre freien Gedanken ein Lichtschein und Hoffnung für viele Zeitgenossen. „Sophie war ein ganz normales Mädchen, keine Heilige, sie war fröhlich und nachdenklich, empfindsam, aber auch konsequent“, schreibt Werner Milstein ( „Mut zum Widerstand”, 2003, S.18). Sie mag vielleicht keine Heilige sein, aber ihr Mut und ihr Engagement für die Gerechtigkeit bleiben eine heiligengleiche Ermutigung für uns alle.

Die Arbeit von Sonja Schild gehört zum Kunstprojekt “Unsere Heiligen”. Viele Hintergrundinformationen finden Sie auf der hervorragenden Website zum Projekt.