Wäre da nicht der mächtige Stern mit seinem langen Schweif, würde man die Szene in dem tristen Gefängnishof wahrscheinlich nicht mit der Geburt Jesu in Verbindung bringen, denn es ist nirgends ein Neugeborenes zu sehen. Vielmehr muss Jesus gesucht und gefunden werden, wie es das englische Wort WANTED über der Wandzeichnung des erwachsenen Jesus andeutet.
Aus der Sehnsucht nach Jesus ist im Gespräch mit Gefangenen, den Seelsorgern und dem Künstler diese Kontrast-Krippe entstanden. Es war ihnen wichtig, dass Jesus auch zu ihnen kommt, mitten im Gefängnisalltag, fast unbemerkt. So sitzt Jesus denn als junger Gefangener wartend auf der kargen Pritsche – wie viele von ihnen. Doch seine überkreuzten Arme und Beine deuten bereits seinen Tod am Kreuz an. Er selbst scheint von oben her gekommen zu sein, da seine Füße als einzige der Figuren keine Bodenhaftung haben. Frontal schaut er uns Betrachter an. Was will er uns wohl sagen?
Drei Frauen und zwei Männer sind heute zu Besuch bei ihm. Sie sind ihm zugewandt und ihre Hände weisen auf ihn als Hauptperson hin. Maria trägt mit ihren Blue-Jeans und der roten Kitteljacke ihre traditionellen Farben. Darunter ein weißes Shirt, das auf ihre Reinheit und Unbeflecktheit deutet. Ihr gegenüber steht nicht Josef, sondern ein älterer Mann. Denn wenn die Eltern fehlen, sind es oft die Großeltern, die weiter zu den Jugendlichen halten und nicht selten die Elternrolle übernehmen. Auch die anderen drei Besucher sind anders als die drei Könige besetzt, auch wenn die Frau im knallgrünen Mantel eine Königskrone trägt. Sie verkörpert die Hoffnung und den Sieg über die gegenwärtigen Leiden. Ihr gegenüber verweist eine aufrecht und streng stehende Anwältin mit dem roten Gesetzbuch auf Rechte und Pflichten, die einzuhalten sind, um wieder in die Freiheit zurückkehren zu können. Der dritte Besucher macht Jesus in der Gestalt eines Wärters seine Aufwartung. Er trägt ein Funkgerät, um jederzeit Hilfe rufen zu können, Verstärkung, wenn Gefahr im Verzug ist. Hinter seiner grau getönten Brille und in der Dienstkleidung verschwindet er in der Anonymität eines Staatsdieners. Er sieht nichts, aber er hört offenbar. Könnte das Funkgerät trotz allem auch für die Kommunikation mit Gott stehen?
Aus dem dunklen Zellentrakt eilt mit großen Schritten ein beflügelter Mann in den lichten Innenhof. Seine beige Latzhose beschreibt ihn als Handwerker, doch seine Flügel weisen ihn als Boten Gottes aus. Die coole, schwarze Sonnenbrille lässt ihn wie einen Blinden daherkommen, der von einer inneren Kraft erfüllt dem Betrachter mit lauter Stimme eine frohe und befreiende Nachricht verkündet. Doch niemand scheint dem hippen Himmelsstürmer Beachtung zu schenken. Nur einer der drei Kartenspieler schaut staunend auf das unglaubliche Geschehen, so dass seine linke Hand herunterhängt und ein Teil seiner Karten für seine beiden Mitspieler sichtbar wird. Trotzdem hängen ihre Blicke gebannt an seinem erstaunten Gesichtsausdruck, der den suchenden Betrachter über den Engel wieder zur Hauptperson zurückführt.
WANTED – gesucht, ersehnt, erwartet wird der Retter und Erlöser, der mit dem Einsatz seines Lebens und seines Blutes – die rot verschmierten Wände deuten es an – alle Schuld sühnt und Gefangene befreit. Könnte es sein, dass der Engel uns zuruft: „Komm! Komm zu uns! Raus aus den immer gleichen Konventionen deines Weihnachtsfestes. Hier, am Rande der Gesellschaft, ganz unten, wo Jesus auch geboren wurde, da kannst Du Weihnachten ganz neu und anders erleben.“
Zum Entstehungsprozess der Gefängniskrippe aus dem Ausstellungskatalog: „Ist das überhaupt eine Krippe? Da gibt es keinen Stall, sondern eine Zelle mit einer schmalen Pritsche, einem vergitterten Fenster und einem Fernseher an der Wand. Auch die Heilige Familie fehlt; stattdessen sitzt ein junger Gefangener zusammengesunken auf dem Bett, daneben stehen eine Mutter und ein Großvater als Besuch. „Auf den ersten Blick war ich erschrocken“, erzählt ein Gefangener. „Aber je mehr ich geschaut habe, desto mehr wurde mir klar: Jou, das sind wir. Das ist mitten im Leben – und nicht die heile Welt.“ „Wir wollten die Lebensrealität der Gefangenen hineinbringen in die Krippe“, erklärt Gefängnisseelsorger Michael King. „Darum haben wir Inhaftierte gefragt: Was hat die Geburt Jesu eigentlich mit uns im Gefängnis zu tun?“ Michael King und sein Kollege Stefan Thünemann waren es, die den Künstler Rudi Bannwarth eingeladen haben, gemeinsam mit Gefangenen eine Knastkrippe zu gestalten. Im Gespräch entstanden ganz spezielle Gedankenverbindungen zum traditionellen Krippenpersonal: Maria? Das ist die Mutter, die sich weiter um ihren Jungen sorgt – ein hochsensibles Thema für die Gefangenen, wie Stefan Thünemann erklärt. Beleidigungen der Mutter gehören denn auch zu den hochexplosiven Situationen im Knast. „Da weiß man, dass es am nächsten Tag richtig Stress gibt“, erklärt W., ein weiterer jugendlicher Gefangener. Was ist mit Josef? Der wird zum Großvater – denn die Väter fehlen oft, und es sind die Großeltern, die weiter zu den Jugendlichen halten und nicht selten die Elternrolle übernehmen. Der Verkündigungsengel? Ein cooler Typ, wie es sie haufenweise gibt im Gefängnis. Und das Jesuskind? Das blieb lange offen. Schließlich wurde es ein jugendlicher Gefangener – ein Mensch an einem dunklen, unangenehmen Ort. Geburt Jesu – das bedeutet, Gott kommt runter vom Himmel, auch dahin, wo es nicht gut ist. Kann ich ihm also auch im Knast begegnen?“ (Michael King in „Heller Stern“ – 84. Telgter Krippenkunst Ausstellung, 2024, S. 21)
Die Krippe von Rudi Bannwarth ist bis zum 26. Januar 2025 in der 84. Telgter Krippenkunst Ausstellung “Heller Stern” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen.