Alles und nichts

Eine Morgenmesse lang, gemessene 44 Minuten, zeichnete die geöffnete Blende auf, was vor dem Altar geschah. Eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen: Verwischt ist der Priester, sind vielleicht auch Messdiener zu sehen, sitzend, stehend, der Priester vermutlich betend und segnend, feierlich in weißes Gewand gekleidet. Man erkennt Frauen in hellen Kleidern, offenbar mit Kopftuch, die die Kommunion empfangen oder darauf warten. Männer sind nicht auszumachen, waren aber möglicherweise dabei. Kerzen stehen so, also ob sie getragen worden sind. Das alles vor einem mächtigen barocken, vergoldeten Hochaltar, der in bestechender fotografischer Brillanz und Schärfe mit seinem Rocaille-Schmuck die imposante Rückwand bildet für den heiligen Ritus. Hinter dem mit weißem Tuch bedeckten Abendsmahlskelch – er steht und ist durch die Bewegung schattenhaft an verschiedenen Stellen gleichzeitig zu sehen – sieht man den verschlossenen Tabernakel: ein eindrucksvoll geschnitztes Relief, das den auferstehenden Christus zeigt, der mit der Siegesfahne aus dem Grab steigt. Die Anwesenheit des Abwesenden – die vice versa – die Abwesenheit des Anwesenden: Das lässt sich hier in vieler Hinsicht lesen.

Etwa an der Geschichte des vergoldeten Hochaltars: Die 1733 geweihte Kirche Igreja Matriz Nossa Senhora do Pilar in der Stadt Ouro Preto gilt als das wichtigste Gotteshaus aller barocken Kirchen aus der portugiesischen Kolonialzeit. Ouro Preto bedeutet “Schwarzes Gold”, das man dort damals im Überfluss fand. Tonnenweise wurde das Gold, das an der Oberfläche durch Erzeinlagerungen leicht oxidiert und deshalb dunkel war, nach Portugal geschafft. Kolonialgeschichte. Davon zeugt die Kirche, und mit ihrem gewaltigen Hochaltar auch von dem Reichtum jener Zeit, die längst verflossen ist: Für den Innenraum sollen mehr als 400 Kilo Gold verarbeitet worden sein! Nahezu alles scheint vergoldet, vor allem der Hauptaltar in seiner überbordenden Pracht.

Michael Wesely hat diese Kirche auch nicht zufällig ausgewählt, die in der historischen Altstadt steht und zum UNESCO-Kulturerbe zählt. Denn in seinem Bild spiegelt sich eine Geschichte vom Werden und Vergehen, von Ruhm und Reichtum, und gleichermaßen vom Versuch, Vergängliches vor dem Verfall zu schützen und zu bewahren: Zeitfluss, und der Versuch ihn anzuhalten, wenigstens zu verlangsamen. “Es kann die Spur von meinen Erdetagen I nicht in Äonen untergehn”, lässt Goethe seinen Faust am Ende des Dramas in falscher Hoffnung auf Beständigkeit ausrufen. Der Augenblick verweilet eben nicht. Auch das teilt sich in der Arbeit des Künstlers mit. Zugleich öffnet er mit der Fotografie noch eine weitere, tiefere Ebene, indem er die Messe aus dem linearen Zeitverlauf in die simultane Zeit hebt und damit in die Gegenwart. Genau das geschieht während der Liturgie.

Die gemeinsame Feier nimmt die Menschen hinein in einen Raum des Heils, der keine irdischen Grenzen kennt. Das Heil ist keine Frage historischer Zeitlichkeit, sondern stete Gegenwart. Alles ist gleichsam angefüllt mit diesem Heil: die Menschen, der Raum, die Abläufe. Die gesamte, außerordentlich komplexe Dynamik der Messe ist daraufhin angelegt. Alle Gläubigen sind in diesen geheimnisvollen heiligen geistigen Raum hineingenommen: Die Menschen feiern mit, bewegen sich innerlich – und zuweilen auch äußerlich – und werden teilhaftig all der Heilsereignisse. Sie berühren und verbinden sich gleichsam mit dem Himmel. Man könnte auch sagen, in der Messe durchzieht die Menschen eine Ahnung davon, wo ihre schöpfungsgemäße Bestimmung liegt: in der Teilhabe an der Herrlichkeit des Herren. Deshalb ist im Zentrum der Fotografie von Michael Wesely der Priester erkennbar, der die Kommunion austeilen wird / austeilt / ausgeteilt hat – die Reihenfolge ist nicht ersichtlich. Der Verlauf, der Zeitpfeil, spielt dabei ohnehin keine Rolle mehr. Über die Eucharistie, die man im Bild nicht sieht, aber ahnt, sagt Ludwig Mödl: “Die Eucharistie als Bild ist ein abstraktes Bild. Es zeigt alles, und es zeigt zugleich nichts.”

Weselys Foto, das die 44 Minuten einer Morgenmesse in der brasilianischen Kirche Igreja Matriz Nossa Senhora do Pilar gewissermaßen in sich vereint, scheint die Entsprechung zu zeigen: Sie zeigt alles und zeigt nichts. Aber, schreibt Ludwig Mödl: “Jedes Bild bleibt einseitig – man könnte sagen: weltlich – und kann … bei seiner Faszination den Beschauenden verführen, zu meinen, er sehe schon alles. Das Göttliche ist aber immer mehr als jedes Bild. (Die Spiritualität des Schauens, Bildverehrung und adoratio in der christlichen Frömmigkeitspraxis, in: Eichstätter Hochschulreden, Regensburg, 1995, S. 16)

Der Text stammt mit freundlicher Genehmigung der Herausgeber aus dem 28. Jahrbuch des Vereins für christliche Kunst in München (S. 105-106), das dem langjährigen Vorsitzenden Prof. Ludwig Mödl gewidmet ist, der im März 2018 seinen 80.  Geburtstag feiern konnte. In diesem Jubiläumsjahrbuch werden die sieben Originalgrafiken der Edition 2018 und ihre Künstler vom Kulturjournalisten Wilhelm Warning eingehend vorgestellt.

Flyer mit der Präsentation der sieben Grafiken

Augenkreuz, Augenblicke, Durchblicke

Aus vier quadratischen Bildtafeln schauen den Betrachter 16 Augen an. Als Lichtpunkte heben sie sich von den schwarzen Flächen ab, bzw. scheinen sie hinter ihnen zu leuchten. Wie durch Löcher schauen sie in den Kirchenraum hinein. Menschenaugen, aber immer nur eines, nie ein Augenpaar. Das irritiert. Es ist, als würden viele Leute hinter dieser Verkleidung ein Auge zukneifen, um mit dem anderen besser durch das Loch sehen zu können. Weit offene, wachsame Augen. Augen, die ruhig schauen, beobachten.

Zu wem sie wohl gehören mögen? Entfernt erinnern die vielen Augen an die Vision des Propheten Ezechiel, der den Thron Gottes von vier himmlischen Wesen (Cherubim) begleitet sah, die ringsum voller Augen waren (Ez 10,12). Andererseits erinnert die Darstellung von jeweils einem Auge an Abbildungen des einen Auges des einen Gottes. Es steht für die alle Geheimisse durchdringende Gegenwart Gottes. Stephan Balkenhol interpretiert es frei. Das Gegenüber bleibt im Wesentlichen verborgen, genauso wie das Kreuz hinter den vier Relieftafeln. Das Gegenüber, das alles zu sehen andeutet, gibt sich selbst bedeckt, maskiert. Aber die Augen signalisieren eine wachsame Präsenz.

Dabei stellt sich die Frage, ob es wirklich nur EIN Gegenüber ist. Die Überlagerung des Kreuzes durch vier Quadrate, die mit ihren Innenkanten einen kreuzförmigen Freiraum bilden, legt es nahe. Es sind irgendwie auch die Augen dessen, der am Kreuz gestorben ist und durch den Glauben der Menschen sich nun immer wieder neu in den Augen und deren Blicken zu erkennen gibt (“Augenkreuz” im Kontext des Altars).

Die Begegnung mit IHM muss und will gesucht werden. Die dem Kreuz vorgelagerte Arbeit weist darauf hin, dass Er – wenn auch verborgen – da ist und aus dem Geheimnis heraus uns sieht, schaut und liebt. Umgekehrt können auch wir ihn nur schauen, wenn wir durch das Vordergründige, durch das Sichtbare hindurchschauen, den Durchblick auf das Wesentliche der Dinge und Vorgänge suchen. Die profane Arbeit in der Kirche zeigt zudem, dass Gott nicht ausschließlich über religiöse Symbole „zu sehen ist“, sondern sich hinter / in allen Dingen der Welt versteckt, um sich dem zu offenbaren, der den Durchblick und damit „den Blick dahinter“ wagt.

In der Gesamtansicht der Kirche ergeben sich neue Perspektiven für das Kunstwerk. An zentraler Stelle der Chorwand wandelt sich die Arbeit zu einer Art Black Box. Visuell mögen vielleicht Analogien zum heiligen Stein (Kaaba) in Mekka aufsteigen, der von den Muslims als das Haus Gottes betrachtet wird, zu dem er alle einlädt. Parallelen zum christlichen Kirchenraum sind offensichtlich. Vom Wort „black box“ selbst sind auch Verbindungen zu einem Flugschreiber möglich, der alle Daten und Vorgänge in einem Flugzeug aufzeichnet und speichert. Im Zusammenhang mit den Augen könnte diese Funktion auch auf einen Gott übertragen werden, der alles sieht und erinnert. Das wäre allerdings eine verkürzte Sicht. Denn so verborgen sich Gott gibt, der Zugang zu ihm ist weder verschlossen noch unzugänglich. In der Arbeit zeigt sich das durch den kreuzförmigen Zwischenraum, der das große Würfelquadrat – ohne es auseinanderbrechen zu lassen – in vier kleinere Quadrate aufteilt und dadurch Ein- und Durchblicke auf Dahinterliegendes, auf Inneres ermöglicht. Das schwarze Quadrat  weckt die Neugierde des Betrachters und gibt Blicke in sein Innerstes frei. Da hier der Gekreuzigte zu sehen ist, Gottes geliebter Sohn, der sein Leben für unseres hingegeben hat, liegt die Deutung nahe, im „Augenkreuz“ von Stephan Balkenhol ein modernes Symbol für Gott Vater zu sehen, das Einblicke in sein Innerstes ermöglicht.

Die sechs weiteren Figuren, die an den Seitenwänden der Kirche befestigt wurden, bringen „Augenblicke“ der Geschichte Gottes mit den Menschen zur Sprache. Links vorne in einem Diptychon ein Mann und eine Frau, einander zugewandt (Ansicht), die vor einem grünen und goldenen Hintergrund stehen. Ihre Nacktheit und die beiden Hintergrundfarben deuten, ohne es explizit zu betonen, das Paradies an, die ursprüngliche Fülle des Lebens. Gegenüber sind vor einem silber-braunen Hintergrund ein Skelett und ein Mann zu sehen, der allseits gegenwärtige Tod, der uns Menschen begleitet und unsere Vergänglichkeit in Erinnerung ruft. In den mittleren Positionen stehen sich Maria mit dem Jesuskind im Arm und der Auferstandene (Ansicht) gegenüber. Irritieren mag, dass Jesus nach heutigem Dress-Code gekleidet ist, dadurch verwurzelt der Künstler nach alter christlicher Tradition das vor 2000 Jahren Geschehene in unserer Zeit. Dies wird auch im dritten Figurenpaar deutlich, das eine junge Frau und einen jungen Mann unserer Zeit zeigt. Gott will seine Heilsgeschichte in unserer Zeit fortschreiben, … mit jedem von uns. Stephan Balkenhol hat mit seinen Kunstwerken eine wunderbare zeitgenössische Katechese geschaffen: als Einladung, Gott und sein Wirken näher kennenzulernen.

Weiteres Bild: Mann im Turm

Dieses und weitere Werke waren im Sommer 2012 im Rahmen der documenta 13 in der Kath. Kirche Stankt Elisabeth zu sehen. Weitere Informationen zu Stefan Balkenhol in St. Elisabeth.

Zur Austellung ist der Katalog STEPHAN BALKENHOL in SANKT ELISABETH erschienen. Auf 96 Seiten dokumentieren 90 Farbabbildungen und Texte des Bischofs von Fulda, Josef Meyer zu Schlochtern, Matthias Winzen, Rainer Marten und Helmut Krausser die Bedeutung dieser außerordentlichen Ausstellung. Snoeck-Verlagsgesellschaft Köln, 2012, ISBN 978-3-86442-020-7, Euro 19,80

Pressemeldungen zu den Arbeiten von Stephan Balkenhol in Sankt Elisabeth:

Jetzt

Ist es nicht verwegen, den jetzigen Augenblick in einem gemalten Bild einfangen zu wollen? Käme dem“ Jetzt“ eine fotografische Momentaufnahme nicht näher?

Wie Gesteinsschichten hat die Künstlerin waagrechte Farbschichten übereinander gestapelt, so dass der Eindruck eines großen Felsmassivs entstehen kann, von dem nur gerade ein Ausschnitt eingefangen werden konnte. Eine erste Spur? – Der jetzige Moment ist doch auch so etwas wie ein „Fenster“ aus dem größeren Ganzen der Zeit, die in ihrer unendlichen Größe ähnlich unfassbar wie ein Berg ist.

Über das ganze Bild verstreut sind auf diesem „Zeitberg“ vertikale, leuchtende, blaue Striche zu sehen. Sie scheinen wie Spuren hinterlassende Sternschnuppen von oben herab in den horizontalen Zeitfluss dieser Welt hineinzukommen und seine Gleichmäßigkeit zu durchbrechen, in dem sie leuchtende Augenblicke schaffen. Symbolisieren diese Striche den ach so flüchtigen Augenblick, der meist unbemerkt verstreicht? Wie um ausdrücklich darauf hinzuweisen, hat die Künstlerin unten in die Mitte das Wort „Jetzt“ hineingeschrieben.

Eine vage, hell leuchtende Dreiecksform zieht den Blick nach oben. Wie ein Zelt ruht die Erscheinung auf einem Absatz, der, durch die hellere Farbgebung entstanden, das Bild waagrecht durchquert. Von der unsichtbaren Spitze der Dreiecksform geht eine Kraft aus, die das ganze Bild durchströmt und auch uns als Betrachter in seinen Bann zu ziehen vermag. Es ist, als würde unser Blick auf einmal nicht mit der Zeit in die Zukunft oder die Vergangenheit gehen, sondern sich quer zur Zeit stellen – und dadurch des Augenblicks, des Jetzt’s gewahr werden.

Die weiße Dreieckserscheinung erinnert an den dreieinigen Gott, den Schöpfer der Welt. Er wohnt im “unzugänglichen Licht“ (1 Tim 6,16) und hat mit der Welt auch die Zeit geschaffen (Gen 1). Es ist der Blick auf IHN, der die Bedeutung und die Kostbarkeit des Augenblicks wahrhaben lässt. Wir können nur in der Gegenwart leben und aus ihr heraus handeln. Je intensiver und bewusster wir dieses Jetzt leben, um so erfüllter wird unser Leben am Ende sein.

Paulus schreibt an die Korinther: „Jetzt ist sie da, die Zeit der Gnade; jetzt ist er da, der Tag der Rettung.“ (2 Kor 6,2) Täglich, zu jeder Zeit, in jedem Augenblick macht Gott uns Menschen das Angebot, mit Ihm durch das Leben zu gehen. Mit seiner Gnade möchte er uns befähigen, die Zeit sinnvoll zu gestalten und zu nutzen, die Fülle der Chancen und Möglichkeiten im Jetzt zu erkennen und zu ergreifen.