In der als Diptychon geteilten, kleinformatigen Arbeit begegnen sich und auch uns ganz unterschiedlich gestaltete Bildwelten, die scheinbar unvermittelt nebeneinanderstehen:
Das linke Bild zeigt Maria aus der von Matthias Grünewald zwischen 1512 bis 1516 gemalten Verkündigungstafel des „Isenheimer Altars“. Durch den knapp bemessenen Bildausschnitt ist die Gestalt Mariens aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst und von allen umgebenden Bildsymbolen freigestellt. So bleibt der Fokus auf ihrem seitlich abgewendeten und nach hinten geneigten Kopf, der ihr überraschtes Zurückweichen vor dem Engel, aber auch ihr konzentriertes Hinhören zum Ausdruck bringt. Am rechten Bildrand – in Verlängerung der diagonal ins Bild führenden gelockten Haarsträhne – weisen die zum Gebet gefalteten Hände bereits auf die andere Seite des Diptychons.
Die zweite Bildfläche ist bis auf die Zeichnung rechts oben ganz in lichtem, changierendem Grau gehalten. Eine zart angedeutete Mauer füllt die unteren zwei Drittel des Hochformats. Die obere Abschlusskante setzt sich in das linke Bild fort und verbindet dadurch beide Bildtafeln miteinander. Wo in Grünewalds Originalbild mächtig der rot gewandete Engel vor Maria steht, ragen hier von rechts oben nur zwei im gleichen Rot gehaltene Hände ins Bild, die ein mit Geschenkband verschnürtes Päckchen halten. Die fein umrissenen Hände erinnern an Kinderhände oder an die eines Engels, die das Paket von jenseits der Mauer und aus dem Himmel in den Bildraum hineinreichen. Anstatt es freudig entgegenzunehmen, beäugt Maria die Gabe abschätzend aus den Augenwinkeln, denn die eingeschriebene Kreuzform wird ihr nicht entgangen sein. Noch bleiben die Hände geschlossen im Gebet, nur die gekreuzten kleinen Finger mögen andeuten, dass sie ihre stille Frage, wann der HERR den verheißenen Messias sendet, mit ins Gebet genommen hat. Die zeitenwendende Antwort des Engels lautet: Jetzt! – Und auf ganz andere Weise, als sie es erwartet hätte, weil sich seine Ankunft ganz persönlich mit ihrem Leben verbindet. Darum erschrickt Maria bei den Worten des Engels. – Und aus dem Lukasevangelium wissen wir, dass sie das Geschenk angenommen hat: „Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe, wie du es gesagt hast.“ (Lk 1,38)
Das Diptychon thematisiert neben der Glaubenserfahrung Mariens auch unsere eigene. Manches Widerfahrnis stellt sich im Nachhinein als großes Geschenk, als großer Segen dar, obwohl wir es uns nicht ausgesucht hatten und es, wenn man uns gefragt hätte, rundheraus abgelehnt hätten. „Präsent“ bedeutet sowohl „Geschenk“ als auch „Gegenwart“. Der Andachtsbildcharakter der Arbeit lädt uns ein, beide Bildhälften mit unserem eigenen Leben in Beziehung zu setzen: Als Ereignis im Jetzt. So präsent wie Maria das Geschehen bei der überraschenden Verkündigung durch den Engel Gabriel erlebt hat. Und genauso wie Matthias Grünewald rund 1500 Jahre später seine Verkündigung an Maria als gegenwärtiges Geschehen in das Spital der Antoniter versetzt hat, damit die Kranken Jesus leibhaftig vor Augen sehen und in ihrem Herzen aufnehmen konnten.
Vielleicht hilft uns bei unseren Überlegungen, dass der Engel Maria zweimal als Frau der Gnade angesprochen hat: zuerst als „Begnadete“, dann als diejenige, die „bei Gott Gnade gefunden“ hat (Lk 1,28.30). Im „Ave Maria“ wiederholen wir den englischen Gruß, wenn wir beten: „Gegrüßet seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit Dir“. Wie Maria bietet Gott auch uns seine Gnade als Geschenk an: Seine heilsame, Heilung bewirkende Gegenwart in uns, Gottes innigste Zuneigung zu und Liebeserklärung an uns!