Identitätssuche

Ein seltsames Bild, eine geheimnisvolle Erscheinung: Ein kopfloser Mann steht uns mit verschränkten Armen gegenüber. Sein Unterleib ist nackt, sein Oberkörper mit einem eng anliegenden T-Shirt bedeckt. Das dornengekrönte Haupt von Jesus ziert die Brust dieses unbekannten Mannes. An der Stelle seines Kopfes befinden sich drei Ballons, die an seinem Glied befestigt sind und es in die Höhe ziehen.

Hilflosigkeit macht sich beim Betrachten dieser Arbeit breit. Was will der Künstler mit diesen ungereimten Darstellungen aussagen? Will er verwirren? Wieso hängt er die Ballone am männlichen Glied auf? Will er anstößig sein – oder gar dessen Potenzprobleme in den Vordergrund rücken? Und ist der bloßgestellte Intimbereich im Zusammenhang mit dem Gekreuzigten nicht völlig unangebracht, verletzt er damit nicht religiöses Empfinden? „Erklärende Begriffe wie absurd, merkwürdig, eigenartig, erotisch oder pervers tauchen genauso schnell auf wie sie auch wieder verschwinden …“(Dorothea Strauß).

Stephan Melzl sagt von seinen Bildern, dass sie am ehesten Aphorismen gleichen. Er bringt seine Gedanken also pointiert, von der üblichen Auffassung abweichend, ins Bild. Folglich müssen wir genau schauen und nachdenken, was die Bildsprache ausdrücken kann.

Seine Arbeit zeigt drei Bildebenen. Die untere stellt das Naturhaft-Menschliche dar, unverhüllt als Zeichen seiner fundamentalen Bedeutung. Die mittlere Ebene, das Herzstück der Gestalt, zeigt den Oberkörper mit dem T-Shirt in klaren Konturen und Farben. Und oben finden sich anstelle des Kopfes drei schwebende Luftballons, die mit Schnüren mit dem unteren Bereich verbunden sind.

Blickfang ist der mittlere Bereich. Das Jesusgesicht auf dem T-Shirt ist gleichsam eingebettet in die gekreuzten Unterarme. Das mit der Dornenkrone angedeutete Kreuzthema wird dadurch verstärkt. Das Gesicht ist zudem von einem auf der Spitze stehenden gelben Quadrat hinterfangen, das an einen Heiligenschein erinnert. Sein Licht scheint die obere Hälfte des Gesichts erhellend und verklärend zu durchdringen.

Als Kontrast zum menschlichen Gesicht darüber das kopfähnliche Gebilde der Luftballons, dreifach überhöht. Es ist, als wollten sie die Realität des Lebens verlassen und den Kopf mit seiner ratio ersetzen. „Mit uns sind Sie im Himmel zuhause“ verspricht eine Werbefirma für Luftballons. Schwereloses Glück und luftige Kinderträume werden mit Luftballons verbunden, permanent von der alles vernichtenden Zerstörung durch einen Nadelstich bedroht. Und wenn das Gas keinen Auftrieb mehr gibt, sinken und schrumpfen die Ballons … So könnten sie für kurzlebige, aber auftriebstarke Phantasien stehen, welche nicht nur heranwachsende Menschen so richtig kopflos werden lassen. Andererseits wird die Dreizahl, hier zudem noch schwebend, gerne mit dem Göttlichen oder gar der Dreifaltigkeit verbunden. Deshalb können die drei Luftballons mit ihrer dünnen Plastikhaut auch das ganz Andere, das Geistige, das Gewohnte Übersteigende, umhüllend und verhüllend darstellen.

Die Fragen bleiben: Um was geht es hier wirklich? Wer wird hier Schicht um Schicht dargestellt? Die Farben des T-Shirts und die Haltung des Mannes verweisen zum einen auf die Phantasiefigur Superman. Er möchte anscheinend groß dastehen, über sich hinauswachsen, doch noch sind seine Arme tatenlos verschränkt, abwartend, suchend. Zum andern nehmen auch Jesus und das, wofür er steht, im Leben dieses Mannes einen zentralen Platz ein. Hinzu kommen die luftigen, aber verborgenen Wünsche in seinem Kopf, die seinem Leben geheimnisvoll Auftrieb geben.

Dieser Mann scheint noch nicht zu wissen, was er will. Der verwirrende Eindruck, den das Bild bei uns Betrachtern hinterlässt, ist die Situation des Dargestellten. Als Suchender ist er ob der vielen Vorbilder und Möglichkeiten verwirrt und tut er sich mit der eigenen Identitätsfindung schwer. So sehr die Gedanken an seine Träume ihm Glücksmomente zu bescheren scheinen wie bei sexueller Erregung, ist er auf der Suche nach seinen Potenzialen, nach seinen schöpferischen und identitätsbildenden Kräften.

Dieser Eindruck wird durch die Hintergrundgestaltung verdichtet. Eine mandelförmige Lichterscheinung umgibt geheimnisvoll die Gestalt des jungen Mannes. So eine Gloriole oder Aura findet sich vor allem bei Christusdarstellungen, bei denen es u. a. darum geht, seine Herkunft und die Würdigung seines Lebenswerkes zum Ausdruck zu bringen. Mit der umfassenden Lichterscheinung auf dem Bild kann also eine göttliche Schaffenskraft angedeutet sein, die der junge Mann hinter sich spürt. So wie sein Unterkörper in ein magisches Licht getaucht ist, scheint diese Energie ihn zu erfüllen und seine Schöpferkraft zum Finden der ganz eigenen Fähigkeiten seiner Persönlichkeit zu wecken.