Das Geheimnis verhüllt andeuten

Fastentücher verhüllen in den Kirchen von alters her die Hochaltäre und damit das Allerheiligste. Im übertragenen Sinn nehmen sie die Sicht auf Gott und machen den Gläubigen zunächst mal haltlos, weil ihm die vertrauten Anhaltspunkte und -bilder genommen worden sind. Damit wird der Gläubige wieder zu einem Suchenden. Zu einem Suchenden nach Anhaltspunkten und Zeichen der Gegenwart Gottes. Durch das Bilderfasten rückt das Gewohnte vorübergehend in den Hintergrund und macht den Blick frei für Neues, für noch nicht da Gewesenes, ja sogar nie da Gewesenes. So trägt das Verhüllen durch Tücher dazu bei, seinen Glauben zu prüfen und Gott als Suchender neu in seinem Leben zu entdecken und zu erfahren.

Das Fastentuch von Lisa Huber beeindruckt durch seine Größe und helle Erscheinung (Gesamtansicht im Dom Klagenfurt). In der Mitte sind in elf Dreierreihen 33 gleich große Rechtecke aufgenäht. Sie beinhalten grafische Zeichnungen, die sich durch ihre abstrakten Linien und Flächen zur freien Interpretation anbieten. Links und rechts werden sie von drei hochformatigen Stofffeldern flankiert, die in ihrer Liniensprache ebenso mehr andeuten als definieren. Und doch verweist das Feld oben links auf König David, der als Psalmendichter oft mit der Harfe dargestellt wird. Unten links wird Abraham als der Stammvater der drei monotheistischen Religionen gezeigt, wie er sich über seinen liegenden Sohn Isaak beugt und ihn Gott opfern will. Im rechten Feld weisen beschwingte Linien auf Jakobs Kampf mit dem Engel hin. Im singulären Rechteck unten rechts sind hingegen Zitate des ersten und letzten Verses von Psalm 90 in der Rosenberg-Buber-Übersetzung zu sehen: „Mein Herr, du bist, du Hag uns gewesen in Geschlecht um Geschlecht. Das Tun unsrer Hände richte auf über uns, das Tun unsrer Hände, richte es auf.“ Diese 37 Applikationen heben sich durch ihre weiße Farbe vom blau-grauen Hintergrund ab, auf dem sich breitere Linien in zartem Rosa abzeichnen. Zwischen den 33 Bildfeldern sind zudem waagrechte und senkrechte rote Fäden zu erkennen, die am unteren Ende auf dem Boden in zwei Häufchen auslaufen.

Mit diesen vielen Andeutungen wird dem gläubigen Betrachter ein Weg zu Gott angeboten, auf dem er immer wieder Neues über Gott entdecken kann. So lässt die Zahl der 33 zentralen Bildelemente an die vermutete Lebenszeit Jesu denken, gleichzeitig steht sie für Vollkommenheit, für die Fülle des Lebens. Die roten Fäden, die zwischen den Feldern hindurch zum Boden führen, wirken wie Blutgerinnsel und erinnern das am Kreuz vergossene Blut Jesu, das sich am Boden sammelt. Als drittes Element verweisen die rosafarbenen Linien, die im Hintergrund durchschimmern, auf Jesus und sagen mit dem Alpha und dem Omega, dass er der Anfang und die Vollendung alles Geschaffenen ist (vgl. Offb 21,6). Das Omega ist mit seinen Rundungen gut erkennbar, das Alpha ist schmaler geformt und im oberen Teil erhöht. Sie werden erst in der österlichen Zeit, wenn das Tuch gedreht wird, zusammen mit den herunterhängenden „Fäden des Lebens“ vollständig sichtbar werden. Auf dem blauen Stoff der Rückseite, der symbolisch das Wasser des Lebens, die Taufe und damit verbundenen Heilszusagen darstellt, bringen die Silberfäden die Anknüpfungspunkte und Verbindungen zum Alpha und Omega zum Ausdruck, die „Re-ligio“ der auf seinen Namen Getauften (Silberfäden).

Mit den Darstellungen zu Abraham, Jakob und David kommt weiter der gelebte Glauben von drei Persönlichkeiten des ersten Testaments zur Sprache. Sie erzählen vom Glauben an die Führung Gottes, vom handfesten Kampf mit Gott und seinen Folgen als auch von der Zwiesprache mit Gott in Psalmen und Gebeten. Die drei glaubensstarken Männer lassen spüren, dass Gott nah ist und überraschend konkret erlebbar sein kann.

Die Darstellungen auf den 33 zentralen Feldern bilden dazu eine Art Kontrastprogramm, obwohl sie vom Psalm 90 inspiriert sind und auf ihn verweisen. In dem Mose zugeschriebenen Psalm bringt der Beter die Vergänglichkeit des Menschen vor Gott zur Sprache. Im ersten Teil macht er dies anklagend (V. 3-10), dann um Zuwendung, Huld und Gnade bittend (V. 13-17), damit wenigstens das Werk der Hände gedeihen möge. Doch die Darstellungen sind so abstrakt, dass sie sich dem Betrachter auf der Suche nach Gott fürs Erste rätselhaft und sperrig in den Weg stellen. Wohl mag man neben Davids Harfe eine Strichliste erkennen, die an das Zählen erinnert, vielleicht an die im Psalm 90 angesprochenen Lebensjahre . Alle anderen Felder erfordern jedoch einen persönlichen Zugang, der durch Parallelen zu Erlebnissen im eigenen Leben entsteht. Durch die leeren Felder mag man so auf Zeiten der Leere oder von Abwesenheiten stoßen. Die verschiedenen Zeichen dagegen können wie verdichtete Sinnbilder Situationen aus unserem Leben in Erinnerung rufen und sie vor Gott bringen. Gegebenheiten und Erlebnisse, die wir in ihrer Komplexität an Eindrücken und Gefühlen vielleicht selbst nicht richtig in Worte zu fassen vermögen.

So lädt das Fastentuch zum Verweilen vor Gott und zum Darbringen unseres eigenen Lebens ein. Inmitten des Betens und Glaubens großer Vorbilder lädt es zur geistigen Schau des Lebens Jesu als auch des eigenen Lebens ein, um in den rätselhaften Erinnerungsfragmenten die geheimnisvolle Gegenwart Gottes und die Fülle seiner Liebe zu entdecken.

Gottesgegenwart

Die Abbildung einer Leiter mit dreizehn Sprossen durchquert mittig das Bild. Unten ist sie schmaler, nach oben wird sie weiter. Grau wie ein Schatten liegt sie auf dem wolkig hellen Hintergrund. Ihre Enden berühren weder den oberen noch den unteren Bildrand. So scheint sie im Bildraum zu schweben und erweist sich noch fragiler und haltloser als Leitern an sich schon sind. Gleichzeitig wird damit etwas Unfassbares, Traumhaftes angedeutet.

Zwischen Leiter und Hintergrund sind feine bewegte Linien und dunkle Verdichtungen zu sehen, die sich hier zu einem Arm, dort zu einem Oberkörper, dann wieder zu einem Kopf formen. Gestalten sind zu erkennen, die sich übereinander auf dieser Leiter drängen. Menschenähnliche Wesen – doch schemenhaft und transparent auf das hintergründige, tragende, weiße Licht, das von hinten das ganze Bild durchdringt.

Ihre Gestalten sind nicht zierlich, nicht unbedingt schön, sie haben auch keine Flügel. Sie sind wesentlich Boten des Lichts und als solche Niedersteigende und Aufsteigende. Im linken oberen und rechten unteren Drittel sind neben der Leiter zwei nach unten gekehrte Köpfe zu sehen, ein dritter Kopf unter der Leiter wie als Gegenüber zum angedeuteten Kreis, in dem die Leiter oben endet.

Alles wird schattenhaft wahrgenommen, entzieht sich dem Begreifen – und doch ist es das Sehen einer Wirklichkeit, die da ist und in Aktion da ist. Nicht nur von uns, sondern von einer weiteren Gestalt, die in dunkelbrauner Tinte unter der Leiter angedeutet liegt.

Es muss Jakob sein, der im Traum sieht. Er ist auf der Flucht von Zuhause, wo er sich den Erstlingssegen seines Vaters Isaak erschlichen hat (Gen 27). Während er schläft – allein in der nächtlichen Dunkelheit der Wüste – erhält er Besuch: Engel, Lichtgestalten „und siehe, der Herr stand oben“ (Gen 28,13). Gott zeigte sich ihm nicht nur, Gott sprach auch zu ihm, denn Jakob hört sagen: „Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks. Das Land, auf dem du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben. Deine Nachkommen werden zahlreich sein wie der Staub auf der Erde. Du wirst dich unaufhaltsam ausbreiten nach Westen und Osten, nach Norden und Süden und durch dich und deine Nachkommen werden alle Geschlechter der Erde Segen erlangen. Ich bin mit dir, ich behüte dich, wohin du auch gehst, und bringe dich zurück in dieses Land. Denn ich verlasse dich nicht, bis ich vollbringe, was ich dir versprochen habe.“ (Gen 28,13-15) Damit offenbarte sich ihm Gott nicht nur als gegenwärtiger Begleiter, sondern auch als machtvolle, zukunftsweisende Stärkung: Ich werde mit dir sein, bis sich alles erfüllt hat! Was für eine Verheißung!

Gott ist handlungsstark gegenwärtig, er lässt die Seinen nicht allein. Der belebte weiße Hintergrund erinnert auch an die Wolkensäule beim Auszug aus Ägypten, in der Gott sein Volk verhüllt und es doch aktiv aus der Gefangenschaft heraus in die Freiheit führte. Ein ermutigendes Bild. Gott ist da in dunklen und einsamen Zeiten, er spricht und verheißt eine lebenswerte Zukunft. Mag die Gegenwart noch so aussichtslos oder trüb aussehen.

 

Jacques Gassmann wurde am 24.11.2014 in Regensburg der Kulturpreis Kunst und Ethos 2014 verliehen. Dieser wurde anlässlich des 75-jährigen Gründungsjubiläums des Verlags Schnell und Steiner von den beiden Gesellschaftern gestiftet.