Urvertrauen

Ein kleines Kind schaukelt im dunklen Universum. Es scheint sich wohl zu fühlen, denn es schaut interessiert nach links in die sternenübersäte Unendlichkeit. Hell heben sich sein weißes T-Shirt und die rote Baseballmütze von der schwarzen Nacht ab, die es von allen Seiten umgibt. Der kleine Pferdeschwanz verrät, dass es ein Mädchen ist, das sich auf seinem Schaukelsitz im Weltall vergnügt.

Doch wie kann das sein? Wer oder was hält die Seile der Schaukel? Woher kommt das Licht, welches das Kind warm und vertraut beleuchtet? Was ist das für ein geheimnisvolles Leuchten, das sich wie ein weiches Polster unter dem Kind ausbreitet? 

Obwohl es nicht so aussieht, gibt das Bild auf diese Fragen eindeutige Antworten: Die gespannten Seile verraten, dass die Schaukel gehalten wird, auch wenn nicht zu sehen ist, an welcher Stelle die Seile befestigt sind. Das helle Licht von der Seite ist da, auch wenn die Lichtquelle selbst nicht sichtbar ist. Der warme Schein unten lässt vermuten, dass das Licht von einer lebensfreundlichen Atmosphäre reflektiert wird. Anders formuliert: Es gibt da jemanden, der das Kind mit seinem Licht beleuchtet und unsichtbar hält. Da ist jemand, dem das Kind wichtig ist und es im Vergleich zur Unendlichkeit des Alls groß macht und aufleuchten lässt. Da ist jemand, der das Mädchen in kindlichem Urvertrauen seine haltgebende Präsenz ganz real spüren und erleben lässt.

So schaukelt das Kind trotz der Dunkelheit voller Vertrauen, weil es weiß: Ich bin nicht verloren! Ich werde gehalten! Es ist licht! Obwohl das Mädchen ganz allein ist in der Unendlichkeit des Alls, braucht es keine Angst zu haben. Vielmehr strahlt es die Freude aus, die beim lustvollen Hin- und Herschaukeln mitschwingt.

Dieses Hoch- und Hinüberschaukeln mag viel vom Lebensgefühl ausdrücken, das viele Menschen zum Jahreswechsel haben: Das Hinüberblicken und -schwingen in eine ungewisse, dunkle Zukunft. Doch wer sich in das Kind hineinzuversetzen und die Schaukelbewegung aufzunehmen vermag, erinnert sich vielleicht an das beruhigende Gefühl, von starken Armen gehalten hin- und hergewiegt zu werden. Oder daran, wie gut in Kindertagen das Hin- und Herpendeln auf der Schaukel tat: Die Schwerkrafterfahrung im Belastungswechsel von Erdenschwere und Schwerelosigkeit, das rhythmische Hoch und Runter, das gepaart mit Beschleunigung und Verlangsamung, Anspannung und Entspannung zum Finden der Mitte und zur Stabilisierung des Gleichgewichtssinnes beitrug. So dient das Schaukeln auch dem Einschwingen der Seele in den Rhythmus des Kosmos.

Das Schaukeln holt ins Hier und Jetzt zurück, lässt das Gehaltensein spüren, aber auch die unbeschwerte Freiheit. Es vermittelt Selbstvertrauen, die Bewegung und den Schwung mit den eigenen Kräften und eigenem Geschick mitzugestalten. Schaukeln wie ein Kind ist ein Gleichnis für die Beziehung des Gläubigen zu seinem Gott und Vater. Es vermittelt das Wissen um einen liebenden Halt, der Gemeinschaft, Verbundenheit und damit Sicherheit in allen Lebenslagen gibt. Und es bringt das Urvertrauen zum Ausdruck, das in allem unserem Tun mitschwingt, dass, wenn alles anders kommt, als wir es uns ausdenken, vorhersehen oder planen konnten, wenn also alle Stricke reißen, Gott nicht nur über uns, sondern auch unter uns seine liebende Gegenwart wie ein rettendes Netz ausgespannt hat, um uns im Fall aufzufangen und uns wieder aufzuhelfen.

 

Von guten Mächten treu und still umgeben,
behütet und getröstet wunderbar,
so will ich diese Tage mit euch leben
und mit euch gehen in ein neues Jahr.

Noch will das alte unsre Herzen quälen,
noch drückt uns böser Tage schwere Last.
Ach Herr, gib unsern aufgeschreckten Seelen
das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Wenn sich die Stille nun tief um uns breitet,
so lass uns hören jenen vollen Klang
der Welt, die unsichtbar sich um uns weitet,
all deiner Kinder hohen Lobgesang.

Von guten Mächten wunderbar geborgen,
erwarten wir getrost, was kommen mag.
Gott ist bei uns am Abend und am Morgen
und ganz gewiss an jedem neuen Tag.
(Dietrich Bonhoeffer)

Dieses und weitere Kunstwerke von Stefanie Gerhardt sind bis zum 20. Februar in der Ausstellung „kopfüber himmelwärts“ in der Städtischen Galerie Neunkirchen im Original zu sehen.

Zweiwerdung

Eine junge Frau mit kurzen Haaren und ein Mädchen mit zu Zöpfen gebundenen Haaren umarmen sich gegenseitig. Die Begegnung lebt von den gebogenen Körpern, der doppelten Verbindung der Arme und dem intensiven Blickaustausch.

Die schlanken, nur mit drei Beinen den Boden berührenden Gestalten verstärken diese Bewegungen. Die dünnen Beine und Arme verleihen den beiden Frauen etwas Feines und Tänzerisches, etwas Kostbares und doch auch Zerbrechliches. Die dynamische Begegnung strahlt etwas Temporäres und Vergängliches aus. Durch den engen Körperkontakt im Bauch- und Hüftbereich wird die eine Zeit lang währende enge Verbundenheit von Mutter und Kind zum Ausdruck gebracht. Doch durch den nach hinten gebogenen Oberkörper und Kopf wird auch ein Auseinanderwachsen angedeutet.

„Zweiwerdung“ nennt die Künstlerin deshalb diese Skulptur. Von Seiten der Tochter ist es nach wie vor ein Aufschauen zu ihrer Mutter. Sie hängt noch an ihr, doch signalisiert der die linke Schulter umfassende linke Arm gleichzeitig eine kollegiale Geste. So wie die beiden Zöpfe in der Luft schweben, könnte das Überbringen einer freudigen Nachricht vorangegangen sein. Der kurzen innigen Verbindung folgt fast unmittelbar das Auseinandergehen. Es folgt ein Auf-Distanz-Gehen zur Mutter, in dem sie von dieser zum einen mit der rechten Hand noch gehalten oder sogar fest an sich gepresst festgehalten wird, zum anderen mit der linken Hand bereits losgelassen wird.

Der Blickkontakt zwischen den beiden Frauen ist ungewöhnlich stark. Es ist ein gegenseitiges Anschauen, das Bände spricht. Unsichtbar, intensiv, gegenwärtig. Sie schauen sich von unten nach oben und von oben nach unten an – und doch auf Augenhöhe. Ernst, liebevoll, ruhig auf der einen Seite, spielerisch, dankbar, ungestüm auf der anderen Seite. Es könnte ein Wiedersehen sein, doch vielmehr klingt ein Abschied an, die Absicht, sich von der Mutter zu lösen und eigene Wege gehen zu wollen. Die Beziehung wird sich wandeln, doch das Wissen um den Ursprung und die gemeinsame Geschichte werden den weiteren Lebensweg beider Frauen prägen.

Ob es verwegen ist, sich die Beziehung zu Gott auch so herzlich vorzustellen? Ihn umarmend, an seinem Hals hängend? Seine mütterliche, lebensspendende Nähe so intensiv zu spüren, in stetigem Blickkontakt und Austausch mit ihm zu stehen, sein Auge wohlwollend und zutrauend auf mir ruhend zu wissen, mich haltend und doch ermutigend freigebend, um eigene Wege gehen zu können? Und wie Mütter ein Leben lang für ihre Kinder da sind, sagt auch Gott seinen Kindern Rettung und Schutz zu, gerade weil sie an ihm hängen. „Weil er an mir hängt, will ich ihn retten. Ich will ihn schützen, denn er kennt meinen Namen. Ruft er zu mir, gebe ich ihm Antwort. In der Bedrängnis bin ich bei ihm, ich reiße ihn heraus.“ (Ps 91,14f)

Ein himmlischer Augenblick

Die Haltung der hochgewachsenen Frau im Sommerkleid und des sich an sie schmiegenden Mädchens laden zum Verweilen ein. Bildfüllend und im Verhältnis zum Kind fast übergroß ist die Mutter dargestellt. Barfuß steht sie auf dem Boden, die rechte Hand so in die Hüfte gestemmt, dass diese zum Kind hin kippt und von hinten den Stuhl stützt, damit dieser unter dem Gewicht ihrer Tochter nicht kippt. Mit der anderen Hand hält sie locker die Stuhllehne. Ihren Kopf hat sie ihrer Tochter zugeneigt und schaut sie aus den Augenwinkeln liebevoll an, als wollte sie sagen: „Seht mal, meine Tochter!“

Diese sitzt im weißen Kleid keck auf der Rückenlehne des Stuhls. Sie lehnt sich in kindlicher Versunkenheit an die mütterliche Schulter, sich nur mit der rechten Hand am Arm der Mutter festhaltend. In der anderen Hand hält sie eine gelbe Frucht. Mit freundlichem Blick schaut das Mädchen den Betrachter an.

Eine gelöste Zufriedenheit geht von dieser innigen Zweisamkeit aus. Ihre Verbundenheit und Zuneigung zueinander hat die Künstlerin zum einen durch einen cyanfarbigen Farbfluss verstärkt, der von der rechten Hand der Mutter ausgehend sich über ihren Gürtel und die andere Hand auf die Schienbeine des Kindes und einen Teil des Stuhls ergießt. Zum anderen bildet der angewinkelte Unterarm der Tochter mit dem Gürtel der Mutter zusammen die Horizontale eines Pluszeichens, dessen Vertikale die vereinten Arme von Mutter und Tochter sind. Denn eins und eins geben durch den tiefen Frieden und die Herzenseinheit eben mehr als zwei.

Faszinierend ist auch die Transparenz, welche die Künstlerin durch Überzeichnungen und übermalte Zeichnungen (Pentimenti) erreicht. Diese bringen eine spielerische Ungezwungenheit ins Bild, deuten frühere Positionen (wie die andere Position des Fußes) an und lassen andere Welten durchscheinen. So kann im blauen Hintergrund die kindliche Zeichnung eines Tieres entdeckt werden, das einen Stab mit einem rechteckigen Gegenstand am oberen Ende vor sich hält. Ob es einen Seelöwen, einen übergroßen Vogel oder gar ein Fabelwesen darstellt, ist der Fantasie des Betrachters überlassen.

Räumlich sind Mutter und Kind in einem zeitlosen Ambiente dargestellt. Das einzige Requisit ist der Stuhl, auf dem die Tochter in erhöhter Position thront. Durch die Andeutung von Brettern und den hellblauen Hintergrund gleicht der Bildraum einer Freiluftbühne mit Blick in den Himmel. Dadurch wirken die wortlose Übereinstimmung, die Harmonie und Vertrautheit  zwischen Mutter und Tochter  paradiesischer oder auch in einen anderen Kontext entrückt, der weitere Assoziationen ermöglicht.

So fürsorglich stark wie die Mutter an der Seite ihrer Tochter steht, ihr Halt und Schutz gibt, sie aber auch ihre Eigenständigkeit ausprobieren lässt, könnte die Mutter symbolisch auch für Gott Vater stehen, der wohlwollend auf seinen Sohn schauend sagt: „Seht, das ist mein lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe.“ (Mt 3,17) Auf dem Stuhl erhöht mag man auch an den zwölfjährigen Jesus denken, der im Tempel durch sein Zuhören und Fragenstellen die Gelehrten Gottes Weisheit erfahren ließ. Der Gedanke an eine moderne Darstellung der Sedes sapientie, des Stuhls der Weisheit, den Maria für ihren Sohn bildet, mag auf den ersten Blick vielleicht abwegig erscheinen, aber die Reduktion der Bildelemente legt eine Verbindung nahe. Ikonografisch erinnert die Haltung des Kindes durch viele Vorbilder zudem an den Jesusknaben, wie er auf dem Schoß Mariens thront und die Frucht der Versuchung Evas in der Hand hält als Hinweis auf die Erlösung von allen Sünden durch seinen Tod.

Die träumerisch-selbstvergessene Darstellung der beiden vermag also weit über sich hinauszuweisen. Sie zeigen uns einen himmlischen Augenblick, weil sie einen tiefen Frieden, eine stille Freude, ein inniges Glück, eine selbstverständliche  Hingabe und einen unerschütterlichen Glauben an den Anderen ausstrahlen, die nicht alltäglich sind und auch nicht für viel Geld gekauft werden können. So künden sie von der unsichtbaren Gegenwart eines Dritten, dem sie sich geöffnet haben und der sich ihnen mit seinen Gaben schenkt.

Diese Arbeit von Isabelle Roth war 2018 in der Galerie der Stiftung S BC – pro arte in ihrer Ausstellung „Bemuttert – Die Darstellung von Mutter und Kind in der Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts“ zu sehen. Spannend ist dabei der Blick über die traditionellen Darstellungen von Maria mit Jesuskind hinaus, bzw. wie sich das Erbe dieser religiösen Tradition in der Jetztkunst manifestiert.

Aufschrei

Es gibt Kunstwerke, vor denen man einfach stehen bleiben muss. Sei es wegen ihrer Schönheit, ihrer Ausstrahlung oder ihrer Eigenartigkeit. Diese vorliegende Arbeit gehört meines . Erachtens. zu den Letzteren. Ein Kleidungsstück, ein alter Unterrock wurde leicht nach links verschoben mittig auf das Papier gebracht und so ausgebreitet, dass ein dreifacher ovaler Kreis entstanden ist. Während der Stoff in der Mitte relativ flach aufliegt, sind die äußeren beiden Stoffkreise angekraust und durch weiße Bänder gehalten. Dadurch erhält das zentrale Geschehen eine Ausstrahlung.

Ein braunes Band hält die Mitte zusammen und bildet nun eine T-Form mit zwei fast unscheinbaren Öffnungen. Unter dem Stoff sind in der Mitte, dann unter dem inneren weißen Band, nach unten auslaufend und nach oben ein Medaillon bildend kreisförmige Zellen auf das Papier gemalt worden. Was sie wohl zu bedeuten haben? Ob sie in freier Form an die Zellteilung erinnern wollen, an die Entstehung eines neuen Lebewesens und seinen vorübergehenden Wohnsitz unter diesem Rock? Die kleine Öffnung in der Mitte und die Doppelschnur unten links mögen die Vermutung unterstützen, führt die Schnur doch wie eine abgetrennte Nabelschnur von der leicht eingeschobenen Ovalseite weg. Hier werden Mutter und Kind thematisiert, Geburt und Erscheinen in der Welt.

Die Doppelschnur bildet gleichzeitig den unteren Abschluss von drei mit Bleistift weit auseinander geschriebenen Worten: „Don’t swallow Me!“ Zu deutsch: „Verschluck mich nicht!“ Als müssten sie diese Worte dramatisch unterstützen, sind auf die andere Rockseite zwei geradezu unendlich lange Arme gemalt, die hilfesuchende Hände weit nach oben strecken, geradezu in den mit weißen Pinselstrichen angedeuteten Himmel hinein. In ihrer roten Einfärbung äußern sie einen langen und furchtbaren Hilfeschrei. In welcher Verlorenheit und Verdrängung muss sich dieser Mensch befinden, dass er sich an der Mutter vorbei derart nach Freiheit – und die weiße Farbe deutet auch Reinheit und Unschuld an – sehnt? Was ist da an Unterdrückung geschehen, dass die Hände und Arme so blutig rot sind?

Der das Bild beherrschende Frauenrock schweigt in majestätischer Dominanz und Reinheit, verdeckt so gut wie möglich, was unter ihm geschehen ist. Aber das Vergangene kann nicht verborgen bleiben. Als reales Geschehen prägt es die Betroffenen und hat Auswirkung auf ihre Umwelt.

„Verschluck mich nicht!“ ist der bittende Protestschrei des Kleinen, die Auflehnung des Machtlosen gegen das vereinnahmende Handeln der Mächtigen. Hier lehnt sich die Künstlerin gegen ihre längst verstorbene Mutter auf, aber das Geschehen kann sich in gleicher Weise wiederholen in allen zwischenmenschlichen Beziehungen, sei es in der Partnerschaft, der Familie, in Gesellschaft Politik, Wirtschaft oder der Rechtsprechung. Die Arbeit erinnert letztlich, dass es viel, viel schwerer ist, den Mitmenschen als gleichberechtigtes Wesen zu achten und zu behandeln, als sich auf seine Kosten zu profilieren. Auch wenn dies unbewusst geschieht. Die Arbeit zeigt zudem, dass Gerechtigkeit nicht einfach so geschieht, sondern immer einer Anstrengung bedarf, eines Einsatzes für den Schwächeren, der auch Wiedergutmachung nach geschehenem Unrecht beinhalten muss.

Vor-Stellung

Eine in sich gekehrte Gestalt mit einem etwas hilflos wirkenden Kind begegnet uns auf diesem Bild. Die beiden wären wahrscheinlich nichts Besonderes, wenn nicht ein feurig roter Block den Hintergrund für ihre frontale Darstellung bilden würde. Eingerahmt von dunklen Seiten, erscheint er wie eine Öffnung, durch die von hinten Licht, Wärme und Kraft ins Bild strömen. Die Einfassung wie das energiegeladene Feld versprechen Halt, Verlässlichkeit, Stabilität – letzteres mit seinem leuchtenden Rot zudem glühende Liebe.

Die davor stehende Gestalt, ein geheimnisvolles, ganz in Blau gehülltes Wesen, ist von diesem lebendigen Rot umgeben und scheint in ihm Geborgenheit und rückendeckenden Halt zu finden. Nur die längliche Form, die Füße und das Gesicht weisen sie als Menschen aus, die feinen Gesichtszüge und das spitze Kinn als Frau. Ihre Augen wirken geschlossen – als verberge sie jede Spur von Individualität, als konzentriere sie sich auf ihre Bestimmung, das Kind vorzustellen und ihm Rückhalt zu bieten. Sie braucht dazu keine Geste des Haltens, sie tut es ohne Besitzanspruch, ohne Eitelkeit und ohne Sentimentalität. Sie ist einfach da, verlässlich da, als Mutter des Kindes. Und das Kind, das sie vorstellt – uns vor Augen stellt – hat den Rückhalt, denn es kann selbständig vor ihrem Schoß stehen.

Die Form des Kindes ist deutlicher gezeichnet als die der Mutter, aber dennoch reduziert auf das Allernotwendigste. Hemdchen und Füße sind in warmem Gelb gemalt, das runde Gesicht entspricht farblich dem Gesicht der Mutter. So fehlt es auch dem Kind an Individualität.

Aber was hat dieser orangefarbene Kreis um seinen kleinen Kopf zu bedeuten? Ist er eine Entsprechung zur blauen Kopfverhüllung der Mutter? Oder bringt er – farblich in der Mitte zwischen dem körpereigenen Gelb und dem feuerroten tragenden Grund liegend – vielleicht die Herkunft des Kindes zum Ausdruck, seine aus der Liebe hervorgegangene Existenz und bildet deshalb einen „Heiligenschein“? Stellt das Bild also Mutter und Kind vor dem Ausdruck einer leidenschaftlichen Liebe dar? Oder dürfen in den beiden Gestalten Maria und ihr kleiner Sohn Jesus gesehen werden, beide von Gottes unendlicher Liebe einzigartig umfangen und durchdrungen?

Das Bild lässt beide Deutungen zu, und lässt die Antwort offen …

… denn in jeder Menschengeburt geschieht etwas Wunderbares und Göttliches. Wird nicht durch jede Geburt die Zeit geheiligt und zu einer „heiligen Nacht“ oder zu einem „heiligen Tag“? Und stellt sich nicht jede Mutter in den Dienst Gottes, wenn sie eine Schwangerschaft zulässt und das „himmlische“ Geschenk annimmt, werdendes Leben in sich zu tragen und es der Welt zu gebären – wenn sie ihrem Kind liebender und zur Selbständigkeit verhelfender Rückhalt ist?

Weltumfassend

Ein von Kinderhand gezeichneter Kopf befindet sich in der Mitte des Bildes. Halbrund geformt und mit einem kurzen Zick-Zack-Haarschnitt versehen, schauen die ganz oben im Gesicht angeordneten Punktaugen zum Himmel, der in einem vertikalen blauen Band angedeutet ist. Der große u-förmige Mund gibt dem Knabengesicht ein fröhliches, aber auch spitzbübisches Aussehen. Selbstsicherheit geht von ihm aus, wie es auch die erhobenen Arme signalisieren. Ihm scheint die ganze Welt zu gehören. Er steckt voller Kraft, Zuversicht und Tatendrang, die Welt zu erkunden. Er scheint sich glücklich bewusst zu werden, dass er mit geistigen und seelischen Fähigkeiten gesegnet ist, die ihm ermöglichen, die Welt zu erforschen und gleichsam zu umfassen.

Der Künstler hat den in der Kinderzeichnung nur mit Strichen angedeuteten Körper des Knaben mit dem Ausschnitt einer alten Landkarte in Verbindung gebracht. Die Welt, die er mit seinem Wissen und mit seinen Gefühlen „umfasst“, trägt er bereits ins sich. Allerdings scheint sie noch verborgen zu sein, denn wie ein Fluss durchquert eine große Wasserwelle das Bild. Das Kind steht jedoch bereits in diesem die Welten verbindenden Wasser. Es wird durch das Wasser mit den fernen Kontinenten verbunden, wie in einem Boot zu ihnen hingetragen …

Aber – erfährt der Junge dieses weltumspannende Gefühl wirklich oder träumt er alles nur? Denn das hellblaue Feld über seinem Kopf könnte auch andeuten, dass er visionär oder in seiner Fantasie in andere „Welten“ sieht. Andererseits scheinen auch die erhobenen Hände den dunklen und begrenzenden Lebensrahmen nicht nur fernzuhalten, sondern auch zu durchbrechen. – Wie dem auch sei, in diesem Kind steckt die Kraft, neue Lebensräume zu erschließen!

Ob es der Glaube ist, der ihm diese Kraft gibt? Der Glaube an Gott und an seine eigenen Fähigkeiten? Wir wissen es nicht. Aber die in ihm steckende Kraft macht seine Lebenswelt hell, froh und weit. – Wünschen wir uns das nicht alle?

In Verbindung mit dem Bild mag vielleicht das im Epheserbrief überlieferte Gebet des Apostels Paulus am besten unserer Herzensbewegung Wort zu verschaffen: „Ich [Paulus] … bitte, er [Gott Vater] möge euch aufgrund des Reichtums seiner Herrlichkeit schenken, dass ihr in eurem Innern durch seinen Geist an Kraft und Stärke zunehmt. Durch den Glauben wohne Christus in eurem Herzen. In der Liebe verwurzelt und auf sie gegründet, sollt ihr zusammen mit allen Heiligen dazu fähig sein, die Länge und Breite, die Höhe und Tiefe zu ermessen und die Liebe Christi zu verstehen, die alle Erkenntnis übersteigt. So werdet ihr mehr und mehr von der ganzen Fülle Gottes erfüllt.“ (Eph 3,14-19)

Kind Gottes

Ein Kind sitzt auf einem überdimensional großen Lehnstuhl, der durch seine einfache Form archaisches wirkt und an einen Thron erinnert. An sich ist der Stuhl für das Kind zu groß, erscheint das Kind noch kleiner und wie verloren auf ihm.

Doch dem Kind scheint der „Hochsitz“ zu gefallen. Es hat die Hände zufrieden in den Schoss gelegt und schaut vergnügt in die Weite und, dem Schatten nach zu schließen, auch ins Licht. Genießt es die Gelegenheit, die Welt auf dem Stuhl der Erwachsenen mal aus ihrer Sicht betrachten zu können?

Das Kind könnte sich auf dem großen Stuhl aber auch wohlfühlen, weil er ganz einfach sein „Platz auf Erden“ ist, der für ihn in voller Größe bereitsteht. Noch ist der Stuhl zu groß, doch schon bald wird er den Platz ausfüllen und von diesem Thron aus sein Leben gestalten. – Sehen wir also ein Königskind?

Maria wurde bei der Verkündigung durch den Engel der „Sohn des Höchsten“ verheißen. „Gott, der Herr, wird ihm den Thron seines Vaters David geben. Er wird über das Haus Jakob in Ewigkeit herrschen, und seine Herrschaft wird kein Ende haben,“ (Lk 1,32-33) sagte der Engel zu ihr. Das thronende Kind könnte also Jesus auf dem „Thron“ seines Vaters David darstellen. Was am Kind noch nicht zu erkennen ist, darauf weist der Thron verheißungsvoll hin: In der armselig zerfurchten Gestalt des Menschenkindes offenbart sich Gott. Ihm ist die Macht gegeben, über alle Völker Recht und Gerechtigkeit zu sprechen (Jes 9,6), durch seine Worte und Werke Frieden und Heil zu verkünden, durch seine Menschenfreundlichkeit und Liebe die Menschen bis in unsere Zeit hinein zum Guten zu verändern und zu bewegen.

Jesu Christi vorbildliche „Herrschaft“ haben wir um so nötiger, als wir durch sein Blut für Gott zu „Königen und Priestern gemacht“ wurden, die „auf der Erde herrschen“ werden (Offb 5,9-10). Jesu Worte und Leben lehren uns, wie wir den Auftrag an die ersten Menschen zu verstehen haben, die Erde zu unterwerfen und über die Tiere zu herrschen (Gen 1,28): ehrfurchts- und verantwortungsvoll.

In dem thronenden Kind kommt etwas von der verheißungsvollen und unfassbaren Größe zum Ausdruck, die Gott in jedes noch so kleine Lebewesen seiner Schöpfung gelegt hat und erst nach und nach an ihm und durch sein Leben sichtbar wird. Im Kind strahlt die königlich-göttliche Würde auf, die uns wie die drei Sterndeuter staunend vor ihm niederfallen und es huldigend verehren lassen (Mt 2,11). Begegnet uns Gott nicht gerade in den Kleinen und Unmündigen immer wieder neu als Immanuel, als „Gott mit uns“ (Jes 7,14): verheißungsvoll, als Hoffnungsträger, erfüllt mit Leben?

Stillende Mutter

Eine Mutter hält ihr neugeborenes Kind zur Nahrungsaufnahme an ihre Brust. Ein Bild, das uns immer wieder mal begegnet und doch nichts Alltägliches ist. Wieviel Haut die Frauen unserer Zeit auch in der Öffentlichkeit zeigen, das Stillen eines Kleinkindes geschieht meistens zurückgezogen in einem ungestörten Raum.

Wir schauen seitlich auf die sitzende Frau und das Kind auf ihrem Schoß. Mit dem rechten Arm hält sie es an die entblößte Brust, während ihre linke Hand beschützend auf dem Kind ruht. Der Blick der Frau geht seltsam in die Leere. Haben die vergangenen Monate sie so mitgenommen und ausgelaugt, dass sie kaum mehr Energie hat, das Kind zu nähren? Oder ist sie mit ihren Gedanken in einer anderen Welt? Geht sie im Geist nochmals die beschwerlichen Monate der Schwangerschaft und der Geburt durch? Oder überlegt sie sich, was wohl aus dem Kind werden wird?

Mutter und Kind sind nur mit drei Stoffstücken bekleidet: einem roten Samt um den Hüftbereich der Frau, einem blauen schleierartigen Tuch über ihrem Hinterkopf und dem Rücken. Ein heller glänzender Stoff ist als Windel um die Hüfte des Kindes geschlungen. Das Bild könnte einfach ein schönes Portrait einer Mutter mit ihrem Kind sein, doch die „Inszenierung“ lässt an Maria denken, auch wenn im Vergleich mit herkömmlichen Mariendarstellungen mit der entblößten Schulter irritierend viel nackte Haut gezeigt wird.

Im blauen Schleier leuchtet die Farbe des Himmels auf. Er weist auf den göttlichen Vater hin, der ihr durch seinen Heiligen Geist das Kind anvertraute (Lk 1,35). Der Schleier erscheint zudem wie ein bergendes Zelt, das die Frau und ihr Kind vor den Gefahren der sie umgebenden Dunkelheit beschützt (Ps 27,6). Auch die Dreieckskomposition, durch den waagrechten Unterarm in ihrer Basis betont, lässt an den dreifaltigen Gott denken. Durch Maria hat er in Jesus Christus sein „Zelt“ auf unserer Erde aufgeschlagen und einige Zeit unter uns gewohnt. Wie wir ist er aus einer Mutter hervorgegangen und Mensch geworden. Durch die mütterliche Brust ist er in den ersten Monaten ernährt, durch ihre fürsorglichen Hände ist er gepflegt worden, durch ihre aufmerksame Nähe hat er Liebe und Geborgenheit erfahren.

Das Bild mag Gedanken an unsere ersten Lebensjahre wecken … und Dankbarkeit für alles, was unsere Mutter für uns getan hat. Und die Mütter mag das Bild vielleicht an die Zeiten des Stillens erinnern … und an die einzigartigen Momente, die sie dadurch erleben durften.

Diese Bildinterpretation gibt nicht die Intention der Künstlerin wieder, sondern stellt die subjektive Leseart des Autors und nur einen Zugang unter anderen möglichen dar.

Das Madonnen-Projekt von Birgit Dunkel umfasst insgesamt 35 fotografische Arbeiten, welche alle im Katalog abgebildet sind: Birgit Dunkel, „madonnen“, Internationalismus Verlag Hannover 2002, ISBN 3-922218-74-1, Euro 15,-. Erhältlich im Buchhandel oder bei der Künstlerin.