Was für ein Glasfenster! Kein figürliches Motiv ist wahrnehmbar, nur Tausende schillernder Farbquadrate, die so gleichmäßig über die ganze Fläche verstreut sind, dass kaum eine Ansammlung ähnlicher Farben auszumachen ist. Auf 19 m Höhe und 9 m Breite verteilen sich 11500 Glasquadrate mit einer Seitenlänge von 9,6 x 9,6 cm, eingepasst in 460 kleinere und größere Flächen des dunklen gotischen Maßwerks. Jeder Teil des Fensters erscheint so gleichbedeutend wie der andere, es gibt keine wichtigen oder unwichtigen Bereiche. Licht und die Farben können wie in einem Duett ihre volle Kraft entfalten und den Betrachter weit unter sich beeindrucken.
Was für ein Gegensatz zu den anderen großen und bunt bemalten Fenstern im ehrwürdigen Dom zu Köln – den erzählenden von biblischen Begebenheiten, denen mit Personendarstellungen oder mit ornamentalem Schmuck. Was für ein Unterschied zum vorhergehenden Fenster, durch das viel zu helles, blasses Licht in den Dom eingeströmt war. Das Provisorium war entstanden, weil im 2. Weltkrieg die Gläser wie die Pläne zerstört wurden und das Südquerhaus-Fenster deshalb nicht rekonstruiert werden konnte.
Und nun überwältigt die Farbenfülle: rot, blau, grün, gelb, schwarz, weiß … Je nach Sonneneinfall strahlt und leuchtet das Glasfenster, spielen die Farben miteinander, bei verhangenem Himmel wirkt es verhalten, und die einzelnen Farbquadrate sind auf sich allein gestellt. Ein Bild des Lebens? Das Leben ist doch bunt und zufällig – bei oberflächlicher Betrachtung nur dies.
Aber woher kommt dieser Eindruck von Harmonie, der das Fenster in der Tiefe eint? Kann es daher kommen, dass der Künstler nicht etwas grundsätzlich Neues schuf, sondern alle in den vielen Fenstern des Doms vorkommenden Farben sammelte, daraus 72 verschiedene Farbtöne auswählte und sie durch ein Computerprogramm zusammenfügen ließ? Anschließend korrigierte er an manchen Stellen die Zusammenstellung von Hand. So ergab sich eine Mischung aus dem vom Computer vorgegebenen „Zufall“ und dem Gestaltungswillen des Künstlers. So hat er althergebrachte und vorhandene Elemente aus dem unmittelbaren Umfeld in die Gestaltung des neuen Fensters einfließen lassen. Rührt das nicht an unser aller Lebensstruktur? Vieles ist vorgegeben durch Gene, Herkunft, Umfeld, Zeitumstände und vieles mehr. Aber die Freiheit ermöglicht auch Korrekturen, Eigenes einzubringen, sich zu entscheiden und etwas Vorgegebenes zu verändern.
Eine weitere dem Glasfenster zugrundeliegende Idee sorgt für Ruhe in der Vielfalt: Gerhard Richter gestaltete zuerst die eine Hälfte der Fläche und übertrug sie dann auf die andere Seite. Hier und dort schimmert diese grundlegende Symmetrie erkennbar durch. Ergänzende Ähnlichkeit und dennoch unverwechselbare Eigenständigkeit. Ob darin ein Hinweis auf die harmonische paarweise Existenzform gesehen werden kann, die das Leben erhält und trägt?
Als Drittes spielt das von außen eindringenden Licht eine maßgebliche Rolle in dem Kunstwerk, von dem Gerhard Richter sagt, er sei nicht sein „Schöpfer“, sondern nur „an seiner Schöpfung beteiligt … weil es eine Wirklichkeit veranschaulicht, die wir weder sehen noch beschreiben können“. Bewusst oder unbewusst nahm der Künstler dabei die mittelalterliche Vorstellung auf, das Licht sei Abbild – nicht nur Symbol – der göttlichen Allmacht. Damit öffnet das Fenster die Richtung zu einer in die Transzendenz führenden Lebensperspektive, die undogmatisch von Gottes vielgestaltiger und -farbiger Gegenwart in den Menschen unserer Zeit verkündet. Jeder Mensch, der das ihm innewohnende Licht auf seine Weise lebt und es für die anderen sichtbar bezeugt, gleicht einem unverwechsel- und unverzichtbaren Glasquadrat in diesem umfassenden und integrativen Fenster.
Das Bild vom Triforium bei vollem Lichteinfall
veranschaulicht dies auf faszinierende Weise und hierbei ist der Künstler selbst nur mittelbar der Verursacher. Die Farben und die Formen haben ihren Rahmen verlassen und sich “auf den Weg gemacht“: Dunkles zu erhellen, farblos Graues zu beleben und fröhlich zu machen, einen neuen Raum zu erfüllen, – auch wenn sich dabei ihre ursprüngliche Form verändert. Erfüllen sie nicht – mit heutigen Stilmitteln ausgedrückt – genau das, was Jesus in Gleichnissen gefordert hat: dass der Sauerteig nicht in der Schüssel bleiben, sondern hinaus quellen soll in die Weite; dass das Licht nicht unter dem Scheffel der Sicherheit und Geborgenheit an seinem Platz bleiben, sondern ebenfalls in die Weite hinaus leuchten soll.
Mögen viele den von diesem Fenster ausgehenden Impulsen nachspüren, um vielleicht Hinweise auf den eigenen Platz im Leben und die eigenen Aufgaben zu erkennen. Möge es zum Nachdenken einladen, mit welcher Farbe ich in diesem großen Gesamt, das durchaus auch Bild der Kirche zu sein vermag, Seine Liebe und Sein Licht in diese Welt hineinstrahlen kann.
So verbindet das Glasfenster von Gerhard Richter, das 20 m über dem Boden „schwebt“, sowohl Vergangenheit und Gegenwart, Zufall und bewusstes Tun, als materielle Wirklichkeit und geistige Transzendenz. Unorthodox erfrischend präsentiert es sich als Zeichen der Hoffnung und als meditative Wegweisung in unserer Zeit. Seit langem seien sich Kirche und Kunst nicht mehr so nahe gekommen, meint ein Betrachter.
Beim Verlag Kölner Dom sind vom Glasfenster drei Postkarten und ein Buch erhältlich: Gerhard Richter – Zufall. Das Kölner DOMFENSTER und 4900 FARBEN. Mit Beiträgen von Stephan Diederich, Barbara Schock-Werner, Hubertus Butin, Birgit Pelzer. Text deutsch und englisch,144 Seiten, zahlreiche Abbildungen, Broschur, fadengeheftet. Verlag Kölner Dom / Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2007, ISBN 978-3-86560-298-5, Preis 34,00 €.