Im ersten Bild dieses Stationenweges fordert eine unzählbar große Menschenmenge mit aggressiv erhobenen Armen vehement die Kreuzigung Jesu. Es ist die Macht der Masse und die Ohnmacht des einzelnen Entscheidungsträgers, dass Jesus verurteilt und gekreuzigt wird. Pilatus wäscht seine Hände in Unschuld, während die schreiende und tobende Menschenmenge Jesus vor sich her in den Tod am Kreuz treibt.
Unterwegs ereignen sich zwischen Jesus und vereinzelten Menschen symbolträchtige Begegnungen: Von der Totale des Getümmels auf der Straße zoomt sich der Bildausschnitt in der vierten Station zu einer Nahaufnahme zweier Köpfe. Alle Farbe ist nach außen gewichen. Der farbige Rahmen bildet einen Schutzraum für die persönliche Begegnung. Durch die einfarbig blau gezeichnete Ausführung und die strahlenförmig angeordneten, feinen Striche erhalten die Gesichter und damit auch die Begegnung etwas Tierhaftes, fundamental Einschneidendes und in der Bedeutung weit über die Einzelbegegnung Hinausweisendes. Das Bild lässt offen, um wen es sich in der Begegnung handelt. In der Volksmenge sind Jesus auch Frauen auf dem letzten Weg gefolgt. Jesus schenkt ihrem Klagen und Weinen Gehör und wendet sich ihnen zu mit den Worten „weint nicht über mich; weint vielmehr über euch und eure Kinder! (vgl. Lk 23,28f).
Auch Maria, seine Mutter, ist Jesus auf dem Weg durch die Gassen gefolgt und könnte aus der anonymen Menge herausgetreten sein, um Jesus ein letztes Mal auf Augenhöhe zu sprechen und zu sehen. Ihr ganzes Leben fokussiert und verdichtet sich in diesem Augenblick. Aber der eindringlich suchende Blick von Maria scheint auch zu fragen: „Warum machst Du das?“ – Die stille Antwort Jesu verweist einmal mehr auf den Willen seines Vaters: „Deinen Willen zu tun, mein Gott, war mein Gefallen und deine Weisung ist in meinem Innern.“ (Ps 40,9).
Die Begegnung von Veronika mit dem leidenden Jesus ist eine weitere Lesemöglichkeit. Doch bildet sich, wenn man das Bild als „hölzernes Tuch sieht“, nicht allein das Antlitz Jesu darauf ab wie auf dem Schweißtuch der Veronika, sondern es zeigt Jesus als den seinem Nächsten Zugewandten. Er schenkt seinem Gegenüber seine ganze Aufmerksamkeit und weitet gleichzeitig den Blick über die vordergründigen Probleme hinaus und zum Reich Gottes hin.
So steht das Bild für die unzähligen Geschichten, in denen Jesus den Menschen begegnet, sie ihn suchen und finden. Damals wie heute. Das Stationen-Bild des sich den Menschen zuwendenden Jesus ist eine Einladung, uns auf unserer Suche nach dem Sinn des Lebens auf die Suche nach der Begegnung mit Jesus zu machen. Auf dass unsere Lebensfrage von ihm eine Antwort erhalte in seiner das Leben erfüllenden und durch alle Höhen und Tiefen hinweg stärkenden Zuwendung: Du bist nicht allein! Ich bin an deiner Seite allezeit mit dir!
Bildimpuls zur fünften Station des Stationenweges
Ganzer Stationenweg in der röm.-kath. Kirche St. Leodegar, Möhlin (Aargau, Schweiz)