Hände reden vom Kreuzweg

Am 1. März 2020 ist in Landquart (unweit von Chur, Schweiz) ein Kreuzweg eingeweiht worden, der bis auf wenige Hilfsmittel wie Brot, Kreuz, Tuch, Natodraht oder Erde ausschließlich mit Händen aus der Gemeinde gestaltet worden ist. Es sollte ein Kreuzweg „von Landquarter*innen für Landquarter*innen“ werden. Ein Kreuzweg, der das Leben der heutigen Gläubigen über ihre Hände mit dem  Kreuzweg Jesu verbindet. Der Kreuzweg stellt unseren irdischen Leidensweg, unseren Kreuzweg, den Jesus für uns vorausgegangen ist, dar!” Die 33 cm Kantenlänge der quadratischen Fotos verweisen auf das Lebensalter Jesu.

In der elementaren Gebärdensprache der Hände wird dem Betrachter der Kreuzweg Jesu nahegebracht. Die Hand-Zeichen lassen ihn zum Mitwirkenden werden, denn der Leidensweg Jesu geht uns alle etwas an. Er setzt sich quer durch unsere Leben hindurch fort und begegnet uns z.B. in allen Situationen der Todesangst, der Ver-urteilung, des Mit-tragens oder der Linderung. Bei der zweiten Station werden einem Momente und Zeiten der Abwehr bewusst, des Nicht-wahr-haben-Wollens, des Versteckens. Bei der vierten Station wird man an Situationen erinnert, in denen man in ein Gruppengeschehen hineingeraten ist und sich plötzlich beim Lästern und Urteilen über andere ertappt. In der sechsten Station sind die Hände dem Kreuz nahe, sie tragen und berühren es gleichzeitig, um dem Leidtragenden nahe zu sein und ihn durch ihre solidarische Aktion zu entlasten. In der siebten Station werden alle Begegnungen angesprochen, in denen durch Zuwendung Trost und Linderung gespendet wird.

Dreizehn Stationen sind als schwarz-weiß-Fotografien ausgeführt, nur die Auferstehung in der XIV. Station deutet mit ihrer Farbe auf eine wesentliche Veränderung hin. Sie verweist durch ihre blaue Farbe auf die blau gemalte Decke im Chor und leitet so von dieser Welt in die jenseitige Welt über, die wir auch gerne als Himmel bezeichnen. Zwei Hände voller Erde muten da wie ein Widerspruch an. Doch sie sprechen von einem Neuanfang, losgelöst von irdischen Gebundenheiten oder dem, was von uns materiell übrigbleibt. Und sie erinnern daran, dass wir in diesem Leben fruchtbar sein sollen im Hinblick auf die Ewigkeit und dass wir – was auch immer mit uns passiert – von Gott getragen und in seiner Hand geborgen sein dürfen.

Broschüre mit kurzen Meditationstexten und Abbildungen zu allen Stationen

Durst nach Gott

 

Kreuzwegmeditation von Sr. Edith M. Senn, Kloster Hegne, zum 12. Bild des Kreuzwegs der Migranten

Ich will schauen, hören, aushalten, einfühlen, mitgehen, den letzten Weg mitgehen und in das Leben finden, das stärker ist als der Tod. Der Kreuzweg Jesu ist auch heute in der Welt tausendfach Wirklichkeit.

Gedanken zum Bild und zur Kreuzwegsituation:

Es ist vollbracht. Jesu Schrei vom Kreuz ist der Schrei des ertrinkenden Flüchtlings. Die Schiffsplanken, auf welchen der Migrant liegt,  sind zum Kreuz gefügt. Im Meerschwimmend wirken sie wie ein Rettungsanker, der vor dem Untergehen und Ertrinken Halt geben soll. Doch das täuscht: Der Leib des Flüchtlings ist gekrümmt, vom Verdursten bedroht, von der Hitze versengt, dem Sturm der Wellen ausgeliefert, die Kehle ist vor Angst zugeschnürt, haltlos treibend, wohin? Der Sterbende schreit gegen alle Todesangst an: Mich dürstet. In dieser Bedrohung ist er den Naturgewalten und den Schleusern ausgeliefert, weil kein Hafen im Mittelmeer dem Rettungsschiff Erlaubnis zum Anlegen signalisiert. Wie aktuell ist diese Tatsache gerade in diesen Tagen. Der Migrant schaut dem Tod ausgeliefert hilfesuchend in den Himmel. Kann der Lichtblick zum geöffneten Himmel die Botschaft sein: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist?

Durch Karl Rahners Wort wachse ich immer mehr in die Wahrheit hinein, wie das Geheimnis seines Kreuzweges und seines Sterbens zu verstehen ist: „Das Sterben Jesu am Kreuz sind die Sünden, die Intrigen der Menschen, die Jesus ausgeliefert und getötet haben. Wir sind nicht durch Jesu Tod am Kreuz erlöst, sondern wir sind erlöst, weil Gott vergibt, weil Gott GOTT ist. Am Kreuz wird die vergebende Liebe Gottes sichtbar. Jesus musste nicht sterben, damit Gott vergibt. “

Persönliche Impulse:

  • Der Blick auf das Kreuz kann mir helfen, an die vergebende Liebe Gottes zu glauben, jeden Tag neu.
  • Ich möchte mit J. Sudbrak beten: „Lass meine Liebe hineinwachsen in deine Liebe, meinen Lebensbaum in dein Leben, dass mein Kreuzweg einmünde in den Weg, den du gegangen bist“.
  • Jesu Gebet: Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist, ist auch mein Gebet. Vater, ich lege mein Leben in deine Hände, im Vertrauen, dass alle Liebe aufgehoben ist in deiner Liebe. Denn du schenkst uns die Zusage: „Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt und dich an mein Herz gezogen“. Jeremia 31, 3

Jesus, du sagst zu mir:  „Mir nach, hinauf nach Jerusalem (es hat viele Namen) hinauf ans Kreuz, (es gibt viele Weisen zu sterben) hinüber zum Vater, er ergreift deine Rechte, in Liebe streckt er seine Rechte dir entgegen. Du bist im Schlepptau deiner Vollendung, wenn du deinem Bruder, deiner Schwester die Hände reichst, dann wächst eine Kette ins Ostern. Die Kette muss halten, bis auch der Letztgeborene am jüngsten Tag endgültig ankommt im Ostern“.  Nach Kyrilla Spieker

Alle Bilder des Kreuzwegs der Migranten

 

Seit 2014 ertrinken Monat für Monat etwa 250 Menschen bei ihrer Flucht über das Mittelmeer (2014-2018 lt. UNHCR 15.562 Personen). „Diese humanitäre, von Menschen und durch politisches Versagen verursachte Katastrophe lässt sich nur schwer in Worte fassen und ist durch nichts zu entschuldigen. Der Bildhauer und Graphiker Joachim Sauter hat sich von diesem Skandal bewegen lassen, als er im Jahr 2016 bei einer Wettbewerbsbeteiligung eine alte kirchliche Gebets- und Meditationsform aufgriff und sie – angereichert durch eigene Erfahrungen in Ostafrika – in diesem Kreuzweg der Migranten aktualisierte. Die Betroffenheit, die diese Kreuzwegstationen auslösen können, ist für uns als Betrachtende zunächst einmal eine Anfrage an unsere humane Solidarität und menschliche Empathie. Darüber hinaus berührt Joachim Sauter durch seine zeitgenössische Umsetzung einer alten christlichen Bildtradition ein zentrales Thema menschlichen Lebens und christlichen Glaubens: Leiden – Tod – Erlösung.“ (Sr. Regina Lehmann / Peter Stengele)

Der Kreuzweg der Migranten war im Frühjahr 2019 im Haus St. Elisabeth im Kloster Hegne ausgestellt.

Ecce homo

 

Gastbeitrag von Marleen Hengelaar-Rookmaaker

Die zeitgenössische Kunst besteht nicht nur aus Installationen, sondern auch die figurative Kunst ist reichlich vorhanden. Paul van Dongens Werk – mit seiner handwerklichen Verarbeitung und den klassischen Neigungen mit einem Hauch von Barockdrama – fällt in eine seltene Untergruppe der figurativen Darstellung. Zwei seiner Zeichnungen sind nun in Amsterdam Teil eines künstlerischen Kreuzwegs (6. März – 22. April 2019). Nach den sechs vorangehenden Stationen verlagern sie die Aufmerksamkeit vom Leid der Welt auf unser eigenes Leid und unseren eigenen Anteil an den Problemen der Welt. Sie bilden eine Station oder einen Stopp, um buchstäblich für einen Moment stillzustehen und über unser eigenes Leben nachzudenken.

Nach langer Suche fanden die beiden Federzeichnungen auf der Fassade des Paradiso ein vorübergehendes Zuhause. Das Paradiso ist allen Niederländern bestens als die Kirche bekannt, die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den Rockkonzertsaal von Amsterdam umgewandelt wurde. Eine der Zeichnungen hängt im Kleinen Museum, das sich im ehemaligen Kabinett der Freien Kongregation befindet. Die zweite Zeichnung hängt in einem ähnlichen Schrank, der für die Poster und Anzeigen von Paradiso verwendet wird. Man könnte diesen Pop-Tempel als einen waghalsigen Ort für diese besonderen Werke bezeichnen, während unter der linken Arbeit der Titel Judgement (Urteil), und unter dem anderen Rising (Aufgang/Auferstehung) steht. Kein Wunder, dass diese Arbeiten bei Mitarbeitern und „Pilgern“ gleichermaßen zu vielen Diskussionen führen.

Zusammen bilden diese beiden Werke die siebte Station, an der Jesus nach der Tradition zum zweiten Mal fällt. “Fallen” ist denn auch das Thema der linken Zeichnung. Wir sehen ein Gewirr von fallenden nackten Männern, aber keine fallenden Frauen. Eigentlich spielt das Geschlecht hier keine Rolle. Die Arbeit betrifft das menschliche Wesen an sich. Jesus fiel unter der Last seines Kreuzes, diese Männer fallen unter der konfliktreichen Last ihres eigenen Egos. Wir sehen Männer, die stoßen, greifen und zur Seite schieben. Wir sehen eine Hand, die in ein Vakuum greift. Rechts sehen wir Figuren, die versuchen, sich nach oben zu kämpfen, aber von dem Mann an der Spitze nach unten gedrückt werden. Es ist die einsame Hölle jedes Mannes für sich und keiner für den anderen. Paul van Dongen bemerkt: „Diese Zeichnung ist Teil einer Serie, deren Hauptthema der Fall des Menschen ist. Ich wollte den Fall nicht buchstäblich wie in Genesis darstellen, sondern als Choreograf eine Komposition mit nackten männlichen Figuren erstellen, die zusammen den Fall ausdrücken, eine Existenz ohne festen Grund, verloren, ohne Erlösung. In einem verschnörkelten Wirbeln drehen sich die Männer, fallen und stürzen aufeinander.“

Wir sehen Männer in ihrer ganzen Nacktheit, ohne eine verdeckende Bekleidung. Nackt ist hier nicht nackt. Es geht nicht um beleidigende oder erotische Nacktheit. Nackt wird symbolisch für die nicht zu verbergende Wahrheit über die menschliche Natur verwendet. Das richtende Element ist weniger in einem anmaßenden Richter vertreten, der die Gefallenen in die Hölle lenkt, sondern vielmehr in Menschen, die sich ihre eigene Hölle schaffen durch das, was sie tun und unterlassen. Daher geht es bei der Zeichnung zunächst nicht um die böse Welt der Gottlosen, sondern um Sie und mich.

Aber, dank sei Gott, gibt es auch einen Weg nach oben, so wie Jesus nach seinem zweiten Fall aufgestanden ist. Das erkennen wir in der rechten Zeichnung. Links unten sehen wir einen Mann auf den Knien, einen bedrückenden Haufen von Dunkelheit. Mit den Figuren über und rechts von ihm setzt eine Aufwärtsbewegung ein, in der Mitte der Zeichnung ein Mann, der seine Arme hilfesuchend nach oben hält (oder ist es eine Geste der Anbetung?). An der Spitze schwebt ein Mann in der Haltung eines Gekreuzigten. Er erinnert in der völligen Hingabe und totalen Verwundbarkeit an Jesus selbst. Der Künstler: „Diese Zeichnung handelt von menschlichen Figuren, die, nachdem sie in die Tiefe gefallen sind, von einer einzelnen Person hochgezogen werden, die die Aufwärtsbewegung initiiert. Es geht darum, wieder aufzustehen und hochgezogen zu werden.“ In dieser Zeichnung greifen auch die Männer nacheinander, sie suchen jenseits der Einsamkeit nach Verbindung. Hier geht es nicht mehr um unseren eigenen Gewinn, sondern – wie die Figur ganz oben – um unsere Bereitschaft, unser Kreuz zum Wohle anderer auf uns zu nehmen.

Unser Kreuz auf uns zu nehmen klingt nicht sehr zeitgemäß. Für einige klingt das wie etwas aus vergangenen Zeiten. Jedoch ist es der Ausweg aus dem menschlichen Elend. Es bedeutet, dass wir veranlagt sind, andere zu lieben. Genau wie Jesus. Dank seiner Bereitschaft, sein Kreuz zu tragen, vergibt Gott all unsere Verfehlungen und eröffnet neue Perspektiven. Damit ist die Fastenzeit neben einer Zeit der Reue und Buße auch eine Zeit, in der mit Freude Gottes Gnade gefeiert wird.

Dieser Beitrag wurde auf der Website von artway.eu erstveröffentlicht und wird hier mit dem Einverständnis des Künstlers und der Autorin wiedergegeben.

Millionenfaches Leid

Durch konzentrisch angeordnete Kreuzreihen wird der Blick auf die liegende, erschlaffte Menschengestalt in der Bildmitte gelenkt. Sie ist heller als das ebenfalls schwarz-weiße Umfeld und anders strukturiert. Ihre Körperhaltung ist unnatürlich, weil sie im Schoß einer erst nach und nach erkennbaren Person liegt: Maria.

Der Leichnam Jesu liegt in ihren Schoß eingesenkt. Hier ist er Mensch geworden, hier trauert Maria um ihren Sohn und das Leben, das ihm genommen worden war. Jesu Kopf und Extremitäten hängen schwer nach unten. Und doch hält Maria ihn mühelos und wird nicht von ihm erdrückt. Sie hebt sich nur durch die feinere Struktur ihres Gewandes und die schwache Silhouette ihrer Gestalt vom Hintergrund ab. So tritt sie gegenüber Jesus zurück und verschwindet nahezu in den konzentrischen Kreisen aus Kreuzen, die von innen nach außen größer werden.

Es sind diese großen und kleinen Kreuze, die neben dem Leichnam Jesu und seiner Mutter Maria das Bild prägen. Nur auf dem Körper von Jesus sind die Kreuze schwarz auf hellem Hintergrund gestaltet. Alle anderen Flächen sind von weißen Kreuzen bedeckt. Wie ein Netz überspannen die digitalisierten Kreuzzeichen Michelangelos Pietà. Nur noch an den Körperhaltungen zu erkennen, ist sie durch die Kreuze verfremdet und in einen weiteren Kontext gestellt worden, um über das Einzelleid von Jesus und Maria hinauszuweisen. Sie erinnern an Soldatenfriedhöfe mit den endlosen Reihen mit weißen Kreuzen. Sie verdeutlichen das millionenfache Leid der Gefallenen und der Trauernden im 1. Weltkrieg, dessen Anfang sich am 28. Juli 2014 zum 100. Male jährte, sie sollen an die Millionen Gefallenen im 2. Weltkrieg erinnern, der mit dem Einmarsch der Nazis in Polen am 1. September vor 75 Jahren seinen katastrophalen Anfang nahm, an den Terroranschlag am 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York, an das aktuelle Zeitgeschehen im Nahen Osten, in dem nicht enden wollende kriegerische Auseinandersetzungen millionenfaches Leid über die Bevölkerung bringen.

Die konzentrisch angeordneten Kreuze bilden keinen Heiligenschein, keine Verherrlichung leuchtet durch sie auf. Vielmehr ziehen sie in die Tiefe, so wie Leid und Tod Betroffenen wie Angehörigen den Boden unter den Füßen entzieht. Doch Maria mit Jesus auf dem Schoß befindet sich wie ein Pfropfen vor diesem Sog. Wie um weiteres Leid zu verhindern. Als Anhaltspunkt, Anker, Trost.

Die Muttergottes hält stellvertretend für alle Mütter ihren Sohn in den Armen. Oder anders gesagt, mit ihm hält sie auch alle anderen gefallenen Söhne und Töchter. Und sie trauert mit allen Müttern (und Vätern) um ihre getöteten Kinder. Auch wenn sie im Bild noch verhüllter erscheint als in der aus Marmor geschlagenen Pietà im Petersdom, ist sie die Mater dolorosa, die Schmerzensmutter, die mit allen leidet, die durch Krieg, Hunger, Krankheit oder welche Ungerechtigkeit auch immer ums Leben kamen.

Der Künstler Thomas Bayrle schreit dieses Leid förmlich in die Welt. Denn während die vatikanische Pietà 174 cm hoch und 195 cm breit ist, hat er seine Pietà aus Kreuzen doppelt so groß werden lassen. Alle Menschen sollen endlich sehen, was so unbegreiflich schwer zu fassen ist. Jeder soll in der erschlagenden Fülle an Kriegsbildern endlich aufmerken … und sein Denken und Handeln überdenken … überlegen, was er dazu beitragen kann, damit das Leid ein Ende findet.

Gegeißelt, geschunden, geschlagen

Kreuz und quer überziehen blutrote Farbstriche die Bildfläche. Es sieht aus, als wäre das Bild heftig geschlagen und verletzt worden. Gepeitscht, gegeißelt, wie derjenige, der auf ihm dargestellt ist. Blutrote Striemen bedeuten harte, schnelle Schläge, die die Haut haben platzen lassen. Schläge, die tief ins Fleisch hinein verletzt haben und das Blut herausspritzen lassen. Von den seelische Verletzungen, die das Herz direkt treffen, ganz zu schweigen.

Furchtbar steht das blutige Geschehen vor unseren Augen – und verdeckt mit seiner unmenschlichen Gewalt fast gänzlich den, den es getroffen hat. Nur die Füße und Beine und der obere Teil des Kopfes des Misshandelten sind zu sehen. Ansonsten hat sich die Gewalt breit gemacht und Seinen Platz eingenommen. Die Peitschenschläge sind förmlich zu spüren.

Wie ein geschundenes Herz steht die Bluttat zwischen dem Betrachter und dem Gegeißelten. Sie versperren die Sicht auf Jesus, entrücken ihn und lassen die höhnische Frage der Diener im Palast des Pilatus aktuell werden: „Sag uns, wer hat dich geschlagen?“ (Mt 26,67)

So wie das Geschehen vor unseren Augen steht, mögen Zweifel aufsteigen. Habe ich ihn in einem unkontrollierten Augenblick vielleicht auch geschlagen? Vielleicht nicht ihn, wahrscheinlich auch nicht mit einer Peitsche, aber einen anderen unschuldigen Menschen? Mit der mir eigenen Gewalt – Macht, Worte, Druck, Aggression, usw. – sein Leben in ein „Blutbad“ verwandelt?

Unerträglich groß haben sich die blutroten Striemen über dem Gepeinigten aufgebaut. Ist das, was er zu erleiden und auszuhalten hat, als Mensch noch zu ertragen? Andererseits haben sich die Verwundungen wie ein Schutzschild vor dem Gegeißelten aufgebaut. Durch die Wunden scheint er unnahbar, unzugänglich. Doch nicht er hat sich von mir entfernt, sondern durch mein und unser Vergehen haben wir uns von ihm getrennt.

Vertikale Farbläufe gliedern wie Blutgerinnsel oder Tränen den unteren Teil des Bildes. Sie künden von nicht aufhörenden Verletzungen durch Verachtung und Gewalt, sie künden von der Ohnmacht der Geschlagenen, von der stillen Trauer der Leidenden und all derer, die mit ihnen leiden.

„Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen“, heißt es bei Jesaja 53,4 vom Gottesknecht. Genauso muten die vielen auf die Leinwand gepeitschten Farbstriche an: „Er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen.“ Und ein paar Verse weiter heißt es: „Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf.“ So steht auch der Mensch im Bild hinter dem Peitschenregen und hält standhaft aus. Hält aus im Vertrauen auf Gott, dass Er ihm in der Folter Stand verleihe, ihn in der Folter fest halte.

Etwas von diesem Vertrauen, dass Gott ihn nicht verlassen hat, sondern durch alles Leiden hindurch begleitet und auch retten wird, scheint unauffällig in den sich zu einem Farbfeld verdichteten Peitschenhieben auf. Sie lassen nicht nur die maßlose Gewalt sehen, sondern im blutenden Herz auch zwei Flügel. Flügel, welche das Leid nicht unsichtbar machen, aber durch die Hoffnung auf Erlösung und Auferstehung leichter und erträglicher machen.

 

„Wer hat unserer Kunde geglaubt?
Der Arm des Herrn – wem wurde er offenbar?
Vor seinen Augen wuchs er auf wie ein junger Spross, wie ein Wurzeltrieb aus trockenem Boden. Er hatte keine schöne und edle Gestalt, sodass wir ihn anschauen mochten. Er sah nicht so aus, dass wir Gefallen fanden an ihm.
Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden, ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer, vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten ihn nicht.
Aber er hat unsere Krankheit getragen und unsere Schmerzen auf sich geladen. Wir meinten, er sei von Gott geschlagen, von ihm getroffen und gebeugt.
Doch er wurde durchbohrt wegen unserer Verbrechen, wegen unserer Sünden zermalmt. Zu unserem Heil lag die Strafe auf ihm, durch seine Wunden sind wir geheilt.
Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die Schuld von uns allen.
Er wurde misshandelt und niedergedrückt, aber er tat seinen Mund nicht auf. Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund nicht auf.
Durch Haft und Gericht wurde er dahingerafft, doch wen kümmerte sein Geschick? Er wurde vom Land der Lebenden abgeschnitten und wegen der Verbrechen seines Volkes zu Tode getroffen.
Bei den Ruchlosen gab man ihm sein Grab, bei den Verbrechern seine Ruhestätte, obwohl er kein Unrecht getan hat und kein trügerisches Wort in seinem Mund war.
Doch der Herr fand Gefallen an seinem zerschlagenen (Knecht), er rettete den, der sein Leben als Sühnopfer hingab. Er wird Nachkommen sehen und lange leben. Der Plan des Herrn wird durch ihn gelingen.
Nachdem er so vieles ertrug, erblickt er das Licht. Er sättigt sich an Erkenntnis. Mein Knecht, der gerechte, macht die vielen gerecht; er lädt ihre Schuld auf sich.
Deshalb gebe ich ihm seinen Anteil unter den Großen und mit den Mächtigen teilt er die Beute, weil er sein Leben dem Tod preisgab und sich unter die Verbrecher rechnen ließ. Denn er trug die Sünden von vielen und trat für die Schuldigen ein.“ (Jesaja 53)

Alle Bilder der Passion 2012

Aufgerufen mitzuwirken

Zwei Hände strecken sich dem Licht entgegen. Sie sind offen, bereit zu geben, vor allem aber zu empfangen. Nur mit Strichen dargestellt wirken sie transparent wie geistige Wesen. Sie erscheinen im Einklang mit dem Licht, ganz auf es ausgerichtet, ganz von ihm durchdrungen. Insbesondere die beiden weißen Lichtbündel treffen auf die Hände, berühren sie, enden in ihrer Durchdringung.

Die Armansätze führen mit einem Unterbruch zu einem amorphen Gebilde, das sowohl die Schulter eines Menschen als auch die Teilansicht einer etwas unförmigen Weltkugel sein kann. Im ersten Fall schaut der Betrachter jemandem über die Schulter. Da kein Kopf zu sehen ist, kann die Schulter im Bild aber auch zur Schulter des Betrachters werden, die beiden ausgestreckten Hände zu seinen eigenen. – Ein eigenartiges Gefühl, seine Hände vergeistigt im Licht zu spüren, von den beiden Lichtstrahlen quasi stigmatisiert. Aber vielleicht ist es auch ein schönes, beglückendes Gefühl, so angesprochen und befähigt zu werden.

Im zweiten Fall wirken die Hände als Ausdruck der ganzen Welt. In den asketisch-knöchrigen Fingern wie auch der Handhaltung liegen ein Bedürfnis, eine Geste des Bittens um Führung, um Erfüllung. Von der materialistischen Welt her gedacht, könnte man meinen, dass sich die Hände ins Nichts hinausstrecken. Doch die Farben Gelb und Orange umgeben und erfüllen die Hände mit einer Wärme und Festigkeit aus einer anderen Welt, die Halt und Zuversicht schenken.

Nach zehn dunkel gestalteten Kreuzwegbildern (ganzer Kreuzweg auf der Website der Künstlerin) bildet dieses Bild das erste von vier in warmen Gelbtönen gemalten Bildern, in denen die Hände eine zentrale Rolle spielen. Unwillkürlich mag einem dazu das Lied von Julie von Hausmann in den Sinn kommen: „So nimm denn meine Hände und führe mich bis an mein selig Ende und ewiglich! Ich mag allein nicht gehen nicht einen Schritt; wo Du wirst gehn und stehen, da nimm mich mit!“ Doch es geht nicht nur um den letzten, schwersten Weg durch den Tod hindurch. Die Bilder wollen den Betrachter jetzt anregen, seine von Gott erhaltenen Fähigkeiten aktiv für die Gestaltung seines Lebens und seiner Um- und Mitwelt einzusetzen. Diesbezüglich ist die ambivalente Gestaltung der „Schulter“ gelungen, denn es sind meine Hände, ich bin es, der oder die sich für das Gute in der Welt einsetzen soll. Letztlich sind wir alle angesprochen mitzuwirken. Wir alle sind von Gott aufgerufen, in der Nachfolge Christi unseren Beitrag zur Gestaltung der Welt zu leisten.

Unterm Kreuz

Mächtig durchqueren die beiden Kreuzbalken das quadratische Bildformat. Sie durchkreuzen es geradezu, so als sollten sie kundtun: No way – kein Durchkommen hier. Dabei sind sie ganz leicht gemalt, fast Ton in Ton mit dem Hintergrund. Auch die Kanten des Kreuzes sind oftmals mehr angedeutet als sichtbar. So erscheint es nicht wirklich schwer und doch ist das ungeheure Gewicht in den intensiver werdenden Farben und der Verdichtung der Striche in der unteren Bildhälfte zu spüren.

Der andere Strichduktus lässt vage Gestalten und Gesichter wahrnehmen. Auf der linken Seite sind die Umrisse eines größeren Kopfes und seiner Haare auszumachen. Man mag an einen geneigten Jesuskopf denken. Allerdings bleibt die Gesichtspartie leer bzw. erscheint sie wie von heftigen diagonalen Strichen zerstört. Dafür tauchen darunter geradezu verstörend fratzenhafte Gesichter mit starrem Blick aus der Dunkelheit auf. Hinzu kommt, dass von rechts her ein diabolisches Ziegenkopfgesicht mit weit geöffneten Augen auf dieses traumhafte Geschehen im gerade erwähnten Kopf blickt. Zwischen den beiden Köpfen vermag man zeitweise auch den Kopf und den Oberkörper eines Jugendlichen zu sehen, wenn sich sein Kopf bei längerem Hinschauen nicht wie bei einem Vexierbild in das rechte Auge eines noch größeren Gesichtes verwandelt, das oben durch zwei angedeutete Hände, die aber genauso gut Haarsträhnen sein können, begrenzt wird.

„Was ist hier los? Was geht hier vor?“, mag der eine oder andere sich erschreckt fragen. Auf diese Weise mitten in das Geschehen unter dem Kreuz hineingezogen, meint man in den intensiven Farben den fieberhaften Zustand und die Anstrengung des unter dem Kreuz Leidenden zu spüren. In den vielen Gesichtern werden seine Ängste, seine Auseinandersetzungen und Versuchungen sichtbar. Hier werden dem Betrachter auf subtile Art und Weise die psychischen Leiden des zum Tode Verurteilten bewusst gemacht. Die bedrängende Nähe all dieser Geister ist schrecklich. Offensichtlich gibt es kein Entrinnen, keinen Ausweg. Zwar taucht immer wieder der auf den Leidenden zulaufende Jugendliche auf, aber er kommt gegen die Übermacht des Bösen nicht an. Nach kurzer Zeit entschwindet er wieder den Blicken des Betrachters und man fühlt sich wieder in die Not des unter dem Kreuz Gefangenen zurückgeworfen. Ein nicht enden wollender Albtraum.

Sehnsucht nach Hoffnung mag sich breit machen. Überm Kreuz ist das Bild lichter und wie ein Halluzinierender meint man weitere Gesichter zu erkennen, freundlichere, und einen Lichtstreifen am Horizont. Aber gehören die Gesichter tatsächlich zu Hilfe eilenden Engeln? Ist das Licht ein wahrer Hoffnungsschimmer? Oder gaukelt die irrelaufende Fantasie des Gefolterten ihm all das vor, um wenigstens einen Funken Hoffnung zu haben, dass er in dieser ausweglosen Bedrängnis nicht ganz allein ist?

Dann, irgendwann, vielleicht auch schon früher, die Wahrnehmung eines noch ganz anderen Gesichtes im Kopf des Leidenden. Es zeigt sich von der Seite. Mehr oder weniger auf der unteren Kante des nach rechts aufsteigenden Kreuzbalkens (ein Symbol des aufstrebenden Lebens) lässt sich das Profil eines Gesichtes erkennen: die Stirn geht in einem Bogen in die Nase über, weiter unten die geschlossenen Lippen, ein Kinn. Die Augen sind nur ein Strich. Eine Ruhe geht von ihm aus … wie bei einem Schlafenden. Ganz in sich gekehrt, eins mit dem Kreuz, strahlt dieses Gesicht eine innere Kraft aus, die von außen gar nichts berühren, geschweige denn zerstören kann. Stark istdiese totale körperliche Auslieferung, noch stärker die das Leiden und den nahen Tod überwindende geistige Kraft, die der selige Ausdruck dieses Gesichtes ausstrahlt.

Bedeutsame Hände

Hände und Unterarme sind in diesem Kreuzweg die Hauptdarsteller. Bis auf drei Ausnahmen sind keine Körper oder Köpfe zu sehen (alle Bilder). Aber es geht ganz klar um den Menschen, ein Essen, Gefangenschaft, Stürze, Leid, Kreuzigung und Auferstehung. Die Handlung beschränkt sich in ihrem Ausdruck auf die fotografische Wiedergabe der menschlichen Arme und Hände, deren unterschiedliche Haltungen voller Symbolik sind. Im Dialog mit dem Holzbalken und dem Licht verstehen sie das Leiden und die Auferstehung Jesu eindrücklich zum Ausdruck zu bringen. Dies verstärkt der sparsame Einsatz von Farbe im ersten und letzten Bild sowie ankündigend in der Kreuzigung.

Die Hände begegnen und berühren sich, sind in gestischem Gespräch. Hier wird die eine von einer anderen ergriffen und gehalten. Ihre diagonal-vertikale Ausrichtung ist von Bedeutung. Ebenso, dass der untere Arm das waagrechte Holz kreuzt und ein breites gelbes Lichtband senkrecht die Dunkelheit trennt. Vor dem Hintergrund der Kreuzigung wird so die göttliche Hilfe symbolisiert: Einerseits die rettende Hand von oben, welche den Menschen am schlaffen Handgelenk aus der Tiefe des Leids und des Todes errettet. Andererseits das hereinbrechende Licht, das die Dunkelheit zurückweichen lässt und durch seine Vertikale dem furchtbaren Kreuzestod bereits einen glorreichen Ausgang gibt.

Bedeutsam sind die sechs Hälften der Passionsfrucht, die im Kreuzungspunkt des Lichtstrahls auf dem Holzbalken liegen. So wie seit dem 17. Jahrhundert in der Passionsblume die ganze Leidensgeschichte Jesu gesehen wurde (daher auch der Name), so kann deren Frucht die Auferstehung bezeichnen. Die Hälften geben gleichsam Einblick in das an sich Verborgene der Auferstehung, lassen im Innern der unansehnlichen und harten Schale das reife Fruchtfleisch sehen, sie bilden eine symbolische Siegeskrone angesichts des überwältigten Todes und der erlittenen Folterqualen.

Das Fehlen von Blut und geschundenen Körperteilen mag irritieren. Ob damit gesagt werden will, dass den Darstellern die Erfahrung der Folter und des Todes unbekannt ist? Oder könnte dies auch zum Ausdruck bringen, dass in der Auferstehung alle Wunden geheilt werden? Dass wir im Tod zu einem neuen und ganzheitlichen Leben auferweckt werden, das zeitlos und integral unser ganzes Wesen beinhaltet? – Wir?

Auch die verschiedenen Hände und Arme mögen verunsichern. Der Kreuzweg folgt in seiner Handlung und Abfolge dem Leidensweg Jesu. Aber er wird von Menschen jeden Alters und Geschlechts dargestellt, um deutlich zu machen, dass erstens viele Menschen einen solchen Leidensweg gehen müssen. Zweitens zeigt er auf, dass es unsagbar schwer ist, einen solchen Weg alleine zu gehen und es gut tut, eine hilfreiche Hand bei sich zu haben. Letztlich zeigen die verschiedenen Teilnehmenden auf, dass der Leidensweg Jesu in seiner Wirkung alle Menschen betrifft. Jesus ist für uns alle gestorben. Durch seine Auferweckung von den Toten hat er uns allen die Hoffnung auf ewiges Leben geschenkt.

Gesamtansicht aller Kreuzwegbilder

Kreuze zum Leben

Kann man nur mit Kreuzen Leben darstellen, Veränderung? Ist es möglich, allein mit dem Kreuz einen Weg zu gestalten, der nicht nur Kreuzweg, sondern auch Lebensweg versinnbildlicht? Über mehrere Jahre hat sich Peter Burkart mit diesem Thema auseinandergesetzt. Dabei ist dann und wann aus dem Leben heraus ein neues Blatt zu diesem Thema entstanden: ein vom Leben gezeichneter Weg mit dem Kreuz, ein vom Kreuz gezeichneter Lebensweg (Übersicht). Auch wenn die einzelnen Blätter auf der Rückseite datiert sind, die Farben und Formen der Kreuze geben keine eindeutige Zuordnung zu einzelnen Kreuzwegstationen wie etwa die römischen Zahlen. Jede Reihenfolge ist daher individuell, persönlich.

Dieser Kreuzweg gibt dem Betrachter keine weiteren Anhaltspunkte als das Kreuz, die Hintergrund- oder Umfeldgestaltung und das in Großbuchstaben geschriebene Wort LEBEN. Der Künstler hat das Leben gleichsam in die Gestaltung eines jeden Blattes eingearbeitet, wie es die drei ausgewählten Blätter veranschaulichen.

In der linken Arbeit steht das Kreuz senkrecht in der Blattmitte und berührt mit seinen Armen weder den seitlichen noch den oberen Bildrand. Dadurch wirkt es trotz seines hoch angesetzten Querbalkens recht gedrungen und statisch. Die rote Farbe des Kreuzes vermag die Erinnerung an das schreckliche Blutvergießen zu wecken, aber auch an die umfassende Liebe dessen, der sich am Kreuz für uns Menschen hingegeben hat. Vor dem bewegten Hintergrund erhält das Kreuz durch seine dichte Farbe Festigkeit. Obwohl haltlos in den Himmel ragend, lädt es ein, inmitten größter emotionaler Ergriffenheit bei ihm Halt zu suchen. Die Bewegtheit des Hintergrundes vermittelt im Lila einerseits gegenwärtigen Schmerz, deutet im verdeckten Licht andererseits das kommende Heil an. Das Wort Leben ist in zwei Teilen neben das Kreuz geschrieben. Diese „Kreuzwegstation“ macht alles in allem einen äußerst aktiven, mit starken Emotionalitäten geladenen Eindruck. Dem Kreuz kommt in diesem unruhigen, geradezu turbulent wirkenden Leben eine bestimmende, tonangebende Rolle zu.

Die mittlere Arbeit mutet an, als wäre das Kreuz perspektivisch festgehalten worden. Durch die leichte Neigung erhält es einen dynamischen Charakter, scheint es sich nach rechts zu bewegen. Hell leuchtend setzt es sich vom dunklen Umfeld ab. Hier scheint der Lebensweg von starker Gegensätzlichkeit geprägt. Doch es ist keine farbliche Klarheit wie in den Blättern links und rechts zu beobachten. In der Art und Weise, wie das Kreuz teilweise mit blauer Farbe übermalt wurde, ist hier Kampf herauszuspüren. Von Innen heraus leuchtet schon die neue Freiheit, doch die finsteren Mächte lassen sie noch nicht zu. Trotz aller Leuchtkraft kann sich die Farbe des Kreuzes nur schwer in die dunkle Umgebung mitteilen.

In der rechten Arbeit ist das Kreuz fast nicht mehr zu sehen. Gelb auf gelbem Hintergrund vermittelt es erlöste Ruhe und Freude. Wiederum ist das Kreuz zentral ins Bild gemalt worden: Doch dieses Mal in breiten Balken, die Waagrechte nur wenig über der Bildmitte, mit allen Armen deutlich den Bildrand berührend. Trotz seiner massiven Malweise wirkt das Kreuz lebendig: Die Horizontale ist leicht schräg, mit aufstrebender Tendenz platziert, die Umrisse sind unregelmäßig, lebendig gestaltet. Leichte Schattierungen geben ihm zudem eine plastische Gestalt, durch die es sich vom leicht helleren Hintergrund abhebt, aber auch mit ihm verbunden wird. Feine rötliche Punkte könnten an das vergossene Blut denken lassen, evozieren aber doch mehr die froh machenden Farbtupfer einer bunten Blumenwiese. LEBEN steht in frischen grünen Buchstaben vor dem Kreuz. Alle Dunkelheit ist weg, auch die starre Form des Kreuzes scheint sich immer mehr in seiner Umgebung aufzulösen. Harmonische Ruhe, gelassene Heiterkeit sind der vorherrschende Eindruck. Das Kreuz wirkt in das Leben, dem es seine Prägung zu geben scheint, integriert.

Geschichte der Erlösung durch das Kreuz. In jedem Menschenleben wird sie ihre eigenen Farben und Formen, ihren eigenen Ausdruck finden. So wird der Weg zur Erlösung, wie mit den Beispielen angedeutet, von unterschiedlichen Erfahrungen geprägt sein. Jesu Kreuzweg legt sich diesen Erfahrungen wie eine haltgebende Matrix zugrunde. Und seine Auferweckung wird auch all unsere dunklen und schweren Kreuzerfahrungen umfassen und in lichte Freude und aufblühendes Leben verwandeln. Leben, das gerade vom Kreuz her seine Helligkeit und seine Kraft bezieht. Österliches Leben ist aus der Auferweckung entstanden. Ohne dieses Vorzeichen wäre es nie so hell und stark. Aber in dieser Hoffnung ist das Leben umso schöner, stärker, wunderbarer.

Unendliche Sehnsucht

Fragmente prägen diese Arbeit, die eine Kreuzwegstation sein will. Von links nach rechts sind waagrecht aneinandergereiht zuerst ein Bildzitat, dann ein Schriftzitat mit zwei großen Zierbuchstaben oben und unten. Es folgen eine Stoffapplikation mit Häkelspitze, ein Röntgenbild sowie waagrechte Schriftzitate in spanischer Sprache. Sie alle sind akkurat auf einem feinen Tuch aufgetragen und durch Linien aus Nadelstichen verbunden.

Die linke Begrenzung bildet ein Ausschnitt aus der Beweinung Christi von Botticelli (1490/92). Auf Goldgrund herausgehoben sind die Brust Jesu mit dem herabhängenden Arm zu erkennen, darüber zwei verschränkte Hände und ein verhüllter Kopf. Dazwischen steht waagrecht „la IIIa caída“ (span. der dritte Fall) geschrieben. Ein Hinweis auf das Thema dieser Kreuzwegstation und gleichzeitig, das zweite Fragment kreuzend, zu einem auf grünem Grund applizierten Stofffragment führend. Die Kreuzbordüre verweist auf seine Herkunft als Altartuch. Die Vertikale des Kreuzes liegt genau auf einer das Bild durchquerenden Linie und wird durch eine kaum lesbare Inschrift nach oben verlängert: “Nada deseo más que a mi propio desco.“ (Ich sehne mich nach nichts mehr als nach meiner eigenen Sehnsucht.) Rätselhafte Worte, die wir fürs Erste stehen lassen müssen.

Rechts schließt sich die Radiographie einer stark gekrümmten Wirbelsäule an. Hell ist der Brustkorb ersichtlich. Schmerz ist spürbar, Aufbäumen, Kampf, hinten Hinunterfallen. Die Dynamik und Dramatik des Bildfragmentes aus Botticellis Beweinung wird hier fortgesetzt. Die gelblichen Spuren suggerieren große Mengen auslaufender Körperflüssigkeit: Entweichendes Leben, Erschöpfung, Kraftlosigkeit. Quer durch das Kreuz hindurch verbindet ein Pfeil aus Nadelstichen die Wirbelsäule mit dem Brustkorb Jesu: Das Leben ist am Entweichen.

Die beiden waagrechten und senkrechten Linien, die in den meisten anderen Kreuzwegstationen durch ihren Abstand eine Kreuzform bilden, sind hier in Schieflage gekommen. Steil führen die Linien von rechts oben nach links unten, sie überschneiden und kreuzen sich in der Mitte. Hier ist kein Platz mehr für Leben, es geht dem Ende zu.

Ebenfalls mit Goldfarbe geschriebene Worte in spanischer Sprache verstärken diesen Eindruck. Sie stammen aus dem Buch Infarto del Alma (Seeleninfarkt) der chilenischen Schriftstellerin Diamela Eltit. In der Übersetzung von Ursula Varchmin lauten sie: „Wir werden nie wieder gehen, keine Wiese mehr überqueren. / Mit dir erlosch mein Schicksal und es blieb mir die Last meiner unendlichen Sehnsucht. / Wie außergewöhnlich die Verwandlung in einen von Mitleid erfüllten Gott.“

Die Grundlagen für die Meditation dieser Kreuzwegstation wären ohne das Offenlegen des Textfragmentes auf der linken Seite unvollständig. Es stammt aus einem deutschen Erste-Hilfe Buch und gibt die Anweisung wieder: „Nach Möglichkeit sollten stark blutende und entstellende Wunden umgehend abgedeckt werden.“

Die vielfältigen Gestaltungselemente fordern die Wahrnehmung heraus. Äußeres wird mit Innerem verbunden, Körperliches mit Geistigem. Begegnung und Auseinandersetzung sollen geschehen, ähnlich wie an einem Krankenbett, aus dessen Laken der Grundstoff stammt und dessen Grundform durch das Längsformat angedeutet wird. Vom Leidensweg ausgehend, führt dieser Kreuzweg Jesu zu den Leiden eines jeden Menschen. Dabei erzählen die einzelnen Bilder auf eigene Weise „Leidensgeschichte“ – indem sie in Bild und Poesie starke Impulse geben.

Die Ausweglosigkeit des Leidens wird hier in Sprachform gebracht. Der Leidende hat den Boden unter den Füßen verloren, er wird „nie wieder gehen können“ und befindet sich gewissermaßen im freien Fall. Haltlos klammert er sich an seine unendliche Sehnsucht nach Heilung und Erlösung, die ihm angesichts der Ausweglosigkeit allerdings Last ist.

Der altertümlich formulierte Rat aus dem Erste-Hilfe Buch zeigt die Notwenigkeit auf, dem Klagenden beizustehen und erste Hilfe zu leisten. Der Rat mag der Situation nicht wirklich angepasst sein. Aber macht er nicht deutlich, dass wir das Leiden nicht entfernen, sondern den Leidenden durch unsere Teilnahme allenfalls trösten, den Schmerz lindern können?

Der Mensch kann den physischen und psychischen Beschwerden nicht entfliehen. Er muss sie aushalten und lernen, mit ihnen umzugehen, wie aus dem Textfragment aus dem Buch Infarto del Alma hervorgeht. Seine einzige Hoffnung bleibt das schier Unglaubliche: ein mitleidender Gott. Das sich zwischen den Texten befindliche und optisch leicht in den Vordergrund gestellte Stück Altartuch versucht diesen Gedanken zu visualisieren. Auf ihm wurden Tod und Auferstehung desjenigen gefeiert, der am Kreuz seine Sehnsucht nach Leben durchlitten, stellvertretend für alle, die ihm ihre Lasten und Leiden anvertraut haben. Jesus verbindet. So kann die Altartuchreliquie zu einer symbolischen und zeitlosen Einladung werden, alles Sehnen und alles Bedrückende, ja das ganze Sein in Gottes Hand zu legen, damit in seiner Liebe das Außergewöhnliche geschehen kann: unverhoffte Auferstehung, ungeahntes Leben.

Diese Arbeit war im Rahmen der Ausstellung VIA DOLOROSA im März 2008 in der Kirche St. Bonifaz in München ausgestellt. Ein Katalogbuch mit den Abbildungen und Texten zu allen 14 Stationen ist bei der Künstlerseelsorge in München zum Preis von 15,- Euro + Porto erhältlich. Email: kuenstlerseelsorge@ordinariat-muenchen.de

Ausführliches Interview mit Lilian Moreno Sánchez anlässlich ihrer Ausstellung zum “Aschermittwoch der Künstler” 2013 in Hildesheim

Ignoranz

Ein Bildausschnitt: Eine dunkelhäutige Frau lehnt sich an die nackte Brust eines um einen Kopf größeren weißen Mannes. Sie ist im Profil dargestellt und schaut auf sein dem Betrachter frontal zugewandtes Gesicht, in dem durch das fahle Licht und die verdunkelnden Schatten kein Ausdruck zu finden ist. Das Gesicht der Frau erscheint gepflegt, Lippen und Augen stark geschminkt. Sie schaut mit ruhigem Verlangen auf seinen Mund, doch er zeigt keine Reaktion auf ihr Werben. Dabei hat sie sogar ihre Hand mit einer brennenden Zigarette auf seine Brust gelegt. Die langen Fingernägel sind dunkelrot lackiert, der lange Aschenstummel weist darauf hin, dass bereits einige Zeit verstrichen ist, seit sie diese Haltung eingenommen hat.

Die Fotographie ließe uns an einen Einblick in die Welt der Prostitution denken, wäre da nicht der breite Rahmen mit einer Goldinschrift. Sein Marmoreffekt erinnert an Monumente mit Gedenkcharakter, die dezente Inschrift „IV. JESUS MEETS HIS MOTHER“ (Jesus begegnet seiner Mutter) konfrontiert uns unvermittelt mit einer Kreuzwegstation.

Plötzlich werden da große religiöse Gefühle angesprochen und unzählige Fragen ausgelöst: Eine Kreuzwegstation soll das sein? Wo ist das Kreuz? Die Dornenkrone? Das Leid bei dem Mann, der Jesus sein soll? Was soll die Zigarette? Wie kann diese eher jüngere als ältere Afroamerikanerin die Mutter von Jesus sein? – Verstörung macht sich breit bei der Betrachtung dieses angeblichen Kreuzwegbildes, Empörung. So eine Darstellung ist skandalös, pietätlos! Wieso wird so etwas alle moralischen und sittlichen Schranken Durchbrechendes und Gefühle Verletzendes gemacht?

Was hier großformatig und theatralisch inszeniert wurde, und die weiteren Bilder bestätigen dies, hat nichts mit dem Leidensweg von Jesus vor etwa zweitausend Jahren in Jerusalem zu tun. Allein schon von der Größe her sind die Bilder weniger für die Kirche als vielmehr für die Welt geschaffen. Ein profaner Kreuzweg, bei dem Jesu Kreuzweg den Künstlern als entfernte Vorlage und bekannte Rahmengeschichte dient, um die ganz menschliche Leidensgeschichte von geschlechtlichem Verlangen, von Ignoranz und Enttäuschung zu erzählen. Um zu zeigen, wie sehr dies zu allen Menschen gehört, wird die Person von Jesus schockierender Weise in jedem Bild von jemand anderem, auch von Frauen, dargestellt.

In Anlehnung an die Begegnungen auf dem Kreuzweg sind Personen ins Bild gebracht, die ein aus vielen negativen Erfahrungen heraus entstandene seelische Leid verkörpern. In unserem Bild bringt der Mann Gefühlsarmut und Herzlosigkeit zum Ausdruck. Er kann sich nicht mehr anderen zuwenden! Was für ein Kontrast zu Jesus, der alle Menschen geliebt und sich ihnen zugewendet hat, gerade den von der Gesellschaft durch ihre Fehler und ihr Anderssein Ausgegrenzten! Die gezeigte Frau könnte diesbezüglich sowohl für die Prostituierten wie auch für die „Andersfarbigen“ stehen.

Der geradezu abweisende „Jesus“ befremdet. Wurde er vielleicht so dargestellt, um zu sagen, dass ihn unsere Armut und all unsere Fehler, die er auf sich geladen hat, gezeichnet, gefoltert und gewissermaßen bis zur Unkenntlichkeit entstellt haben? Wird durch ihn deutlich, wie sehr wir Menschen der Erlösung, wie sie durch Jesus vielfach geschenkt wurde, bedürfen, damit unsere wahre Menschengestalt wieder zum Vorschein kommen kann?

Die Bilder geben keine Antwort. Sie lassen den Betrachter mit vielen Fragen verwirrt stehen. Denn die Fotografien führen nicht zu Jesus, sondern pervertieren ihn so grundsätzlich in seinem Wesen, wie es uns überliefert ist, dass ihm Gewalt angetan wird. Jesus war nicht der in sich Verschlossene, Kommunikationsunfähige, sich unerreichbar Gebende, der nur mit seiner Männlichkeit reagiert.

In der Autonomie der Kunst ist diese Verfremdung, die alle bisher bekannten Kreuzwegdarstellungen pervers kreuzt, vielleicht legitim. Die meisten Gläubigen werden sich jedoch von solchen ästhetisierenden, oberflächlichen Darstellungen abwenden, weil ihnen einerseits religiöser Respekt und inhaltliche Tiefe fehlen, andererseits die durch die dunklen Hintergründe zeit- und ortlosen Fotografien von einem Körperkult geprägt sind, der jeden spirituell ausgerichteten Menschen in seinem geistigen Verlangen verhungern lässt.

Wir könnten die Bilder dieses Kreuzwegs aus Protest ignorieren. Aber sie stellen nun einmal eine, wenn auch sehr begrenzte Reflektion der Leiden unserer Zeit dar. Deshalb sollten wir ihre Existenz durchaus wahrnehmen und die Herausforderung zur Auseinandersetzung und Stellungnahme annehmen. Gerade weil die Bilder aufwühlen und Althergebrachtes verletzend in Frage stellen.

Damit macht dieser Kreuzweg schmerzhaft bewusst, dass unser Glaube auf der einen Seite immer wieder solche „unverschämten Angriffe“ von außen braucht, um beweglich zu bleiben und sich weiterzuentwickeln, auf der anderen Seite sich nicht auf äußere Erscheinungen stützen kann und darf, sondern fern aller visuellen Ausdrucksweisen und Stützen in einer geistigen Grundhaltung und Verbundenheit wurzeln muss.

Kreuzgestalt

Über dem unbehauenen Sockel eines Baumstamms erhebt sich eine kreuzartige Skulptur. Kreuzartig, weil einerseits die Proportionen und die rechteckigen Ausformungen an ein lateinisches Kreuz erinnern, dem allerdings der zentrale „Stamm“ des Kreuzes fehlt, andererseits zwei flankierende Vertikale wie angelegte Arme oder Beine das Kreuz stützen und dabei Assoziationen an eine menschliche Gestalt wecken, der ein Balken durch die Brust gestoßen wurde.

Mit der Kettensäge grob aus dem oberen Teil dieses Stammes herausgearbeitet, kann die Skulptur nicht ohne die Geschichte des Baumes gesehen werden. Im mächtigen Durchmesser sind seine früheren Dimensionen zu spüren, mit dem Wurzelansatz seine Standfestigkeit, in der Ausformung der Rinde seine widerstandsfähige Erscheinung als prachtvoller Kastanienbaum.

Obwohl der Baum seines Lebens und seiner Macht beraubt worden ist, gibt er sich nicht tot. Die Kreuzskulptur ist wie ein neuer Spross aus seinem Stamm gewachsen und damit ein Zeichen der Hoffnung, vielleicht sogar der Auferstehung. In Ruhe und Gelassenheit steht das Kreuz erhöht auf dem Stück Baumstamm. Es neigt sich spielerisch leicht zur Seite, als suche es sein Gleichgewicht; es neigt sich dem Betrachter zu und lädt ihn ein, sich auf seine Eigenart einzulassen.

Indem der Künstler es direkt aus dem „Leib“ des Baumes herausgebildet hat, wurde dessen schwere und massive Erscheinung aufgebrochen, alles Verhüllende entfernt, ja sogar in seiner Mitte ein Durchbruch geschaffen, der Lichtblicke ermöglicht und im neuen Leerraum neue Perspektiven zulässt.

So schmerzhaft und tief diese gewaltsamen Einschnitte im Leben (hier symbolisiert durch das Holz) sind, haben sie nicht auch etwas Erlösendes, Befreiendes an sich? Haben sie nicht – wohl durch das Leid gezeichnet – eine bisher unbekannte Gestalt zum Vorschein gebracht, die von einer zeitlosen immateriellen Mitte geprägt ist, einem Freiraum unter dem Kreuz, der ihm eingeschrieben ist? Einem Freiraum, der jedem Menschen innewohnt und für seine geistige Freiheit lebensnotwendig ist?

Konnte nicht Jesus, für den diese Kreuzgestalt durchaus Symbol sein kann, unbeirrt und gewaltfrei seinen Weg bis zum Tod am Kreuz gehen, weil er zutiefst in seinem Wesen von seinem unsichtbaren Gott und Vater geliebt und gehalten wurde? Wie die Skulptur sich in der großen schönen Kirche sperrig und unangepasst gibt und dadurch zum Nachdenken über die eigenen Werte und das eigene Tun anregt, hat sich Jesus mit seinen Worten und Taten den Menschen seiner Zeit in die Quere gestellt.

Damit spricht die Skulptur auch uns Betrachter an und wirft die Frage auf, welche geistigen Werte unser innerster Halt sind und uns befähigen, vereinnahmenden totalitären Strömungen in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft oder Religion entgegenzutreten, ihrer Gewalt um keinen geringeren Preis als dem des Lebens Widerstand leisten – für die Freiheit des Lebens!

Diese Arbeit von Felix Droese war bis zum 9. April 2007 im innovativen Kreuzweg des ökumenischen Ausstellungsprojektes “VESTIGIA CRUCIS / Kreuzspuren – Gegenwartskunst in 14 kath. und evang. Kirchen im Landkreis Tuttlingen” zu sehen. Zur Ausstellung erschien ein Katalog (48 Seiten, ISBN 3-932764-16-1, 8 Euro).

Zuwendung

Ein Mann, der Uniform nach ein Soldat, neigt sich über einen am Boden liegenden und von einer Wolldecke bedeckten Menschen. Sein Gesicht liegt im Schatten. Durch seine dunkle Hautfarbe ist er als Afrikaner identifizierbar, aber es ist schwer zu sagen, ob es sich um ein Kind oder einen Erwachsenen handelt. Der Soldat umfasst mit beiden Händen den Kopf des Gegenübers, um ihn zu stützen, zu schützen und auch zu wärmen. Der wenige Hintergrund lässt Sandboden erkennen: Strand oder Wüste? Ist der Mensch gestrandet oder heimatlos? Die Wahrscheinlichkeit ist groß, dass es sich um einen Flüchtling handelt, der für ein besseres Leben alles aufs Spiel gesetzt hatte und nun erschöpft darniederliegt. Am Ende seiner Kräfte wird er von einem Soldaten umsorgt, der abgeordert war, sich der illegalen Einwanderer aus Afrika zu wehren. Zum Kampf mit Waffen ausgebildet, legt er hier seine Herzenswärme in die Waagschale. Er hat Landesgrenzen zu verteidigen und Menschen zurückzuweisen, doch er überschreitet jegliches Anderssein und macht sich diesem Nächsten nahe. Er könnte töten, doch er setzt alles daran, das Leben dieses Menschen zu retten.

Das auf Glas reproduzierte Pressefoto öffnet dem Betrachter – wie auf den anderen 14 Stationen dieses Kreuzwegs – die Augen und schärft seinen Blick für das Leid und den Schrecken, wie sie uns täglich durch die Medien ins Haus gebracht werden: Hier das Flüchtlingsdrama an der Meerenge von Gibraltar. Die Künstler haben die Fotos mit einem diagonalen Strichraster versehen, der die Bilder geringfügig verfremdet und den Betrachter veranlasst, zum einen Abstand zu nehmen, zum anderen genauer hinzuschauen, um das ursprünglich Dargestellte zu sehen.

Alle Kreuzwegstationen sind zudem von einem breiten roten Glasstreifen aus “Antikglas” gezeichnet, der sich in unterschiedlichen Positionen transparent über die Bilder legt. Er verbindet das gegenwärtige Leiden mit dem Leiden Jesu, denn er bringt den vertikalen Kreuzbalken ins Blickfeld, die Farbe des vergossenen Blutes in die ansonsten farblosen Darstellungen. Gleichzeitig künden sie durch ihre Farbe Gottes liebende Gegenwart an, die stets größer ist als die jeweilige Situation. Transparent über dem Foto angebracht, vermitteln sie sein tröstendes Dasein in unseren schwersten Stunden, sein Mitgehen und Mitleiden in allen menschlichen Abgründen.

Die Farbstreifen können aber auch Einladung an uns sein, wie der Soldat uns mit unserer Liebe in die Nähe der Notleidenden zu bringen, durch unsere Zuwendung uns über sie zu beugen, ihnen durch unsere Anteilnahme beizustehen und ihr Leid zu teilen, sie dadurch zu entlasten. Wir alle sind aufgerufen, für das Leben zu kämpfen, das eigene und das unserer Schwestern und Brüder. Damit allen Freiraum, freier Raum, in dem das Leben befreit aufatmen kann, geschenkt wird. Die jedes Bild umgebende Leerfläche könnte Ausdruck dieses Grundrechts sein, das ihre Sehnsucht erfüllt und uns Pflicht ist, ihn zum Wohl aller Menschen auszufüllen.

Vom ganzen Kreuzweg ist ein kostengünstiges Büchlein mit 64 Seiten erschienen, in dem alle Bilder erklärt werden: Atelier Arnold + Eichler, Kreuzweg, Paperback, 64 Seiten im Format 12 x 14 cm, beidseitig ausklappbarer Umschlag mit Innendruck, 19 Farbabbildungen, Pagma-Verlag 2005, Euro 5,- / sFr 7,50, ISBN 978-3-9810758-0-9,
www.pagma-verlag.de

Verlassen?

Ein ungewöhnlicher Kreuzweg: Nur aus sieben Stationen bestehend, zeigt er nicht Jesus auf seinem Leidensweg, sondern einen einzelnen Menschen zwischen geometrischen schwarzen und roten Farbfeldern. Die Bedeutung der einzelnen Elemente ergibt sich durch ihre Veränderung von Tafel zu Tafel, der Sinn dieses besonderen Kreuzwegs aus der Gesamtschau.

Da ist der Mensch. Seine Darstellung mit wenigen flüchtigen Strichen erinnert an seine Vergänglichkeit. Am Anfang hat er noch den Arm erhoben, die Worte andeutend, die neben ihm zu sehen sind: „Mein Gott, mein Gott …“. Er lebt noch unbeschwert – seine Füße haben keine Bodenhaftung –, unbedrängt und mit freier Sicht. Sein Scheitel überragt gerade noch die Wand in seinem Rücken und vor ihm bleibt genügend Abstand zur erst hüfthohen schwarzen Wand.

Und nun beginnt der Weg der Veränderung. Die Gestalt wird von Bild zu Bild kleiner, als wüchse sie in den Boden hinein. Die rechte Wand wird höher und höher, bis sie die linke überragt. Beide Wände rücken immer näher zusammen, bedrohlich den Lebensraum einengend, kein Entkommen mehr ermöglichend, die Luft zum Atmen abschnürend.

Im ersten Bild kann man den dünnen Kontraststreifen am rechten Bildrand leicht übersehen. Er ist ebenso rot wie das kleine Quadrat auf dem Brust- oder besser Herzbereich der menschlichen Gestalt. Beide roten Flächen verändern sich: Der anfangs rote Strich wird immer breiter und dient als Grundlage für sechs weitere Elemente, mit denen er Schicht für Schicht aufgestockt wird. Ebenso wenig wie der Mensch anfangs Bodenhaftung hatte, berühren sich die einzelnen Schichten nicht, sondern scheinen im Reich des Möglichen zu schweben. Das Rote im Menschen verändert sich anders: Je mehr ihn die Wände bedrohen und einengen, erfüllt es den noch verbleibenden Lebensraum zuerst nach unten und wächst dann nach oben weit über die Gestalt hinaus.

Wofür stehen die Farben? Das tiefe Schwarz wohl für Bedrohung, Bedrängnis, Not, Leid und Verlassenheit – darum die Frage der Verzweiflung, die sich handschriftliche über der rechten Wand durch die ersten vier Bilder zieht: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22,2; Text unter den Bildern ist Anm. d. Autors). Die Gegenfrage im fünften Bild: Ist sie in dieser Situation nicht eine maßlose Provokation? Sicherlich für den Betroffenen. Aber für uns „Außenstehende“ erklärt sie den Sinn der roten Kontrastfarbe, die offenbar für Gottes oft so verborgene und dennoch existierende Anwesenheit in unserem Leben steht: Für seinen Beistand, seine Hilfe und Rettung, vor allem aber für Vertrauen und Liebe. Damit wird seine Frage eine trostvolle Frage.

Aus der sechsten, unbeschrifteten Tafel spricht großes Schweigen. Die Bedrängnis ist am größten. Man spürt die Stille des Todes, aber gleichzeitig deutet sich kaum wahrnehmbar eine Wende an: Die bis dahin sich nach rechts neigende Silhouette steigt zum ersten Mal wieder an.

Und auf der siebten Glasscheibe dann die Befreiung, die ultimative Antwort Gottes auf Leid und Verzweiflung, auf Hoffnung und Vertrauen. Die roten Farbschichten füllen nun die Hälfte der Bildfläche. Aufgetürmt auf dem Grundstock des Vertrauens sind sie nun zwar auch nicht miteinander verbunden, aber gehalten von dem alles umfassenden orangefarbenen Licht, das den Hintergrund der Bildfläche erfüllt. Eingebunden in dieses warme Licht steht der Mensch größer und fester als je zuvor da, „gekleidet“ in die Wesentlichkeit seines Vertrauens: Gott. Frei von Bedrängnis schaut er – wahrscheinlich voller Verwunderung – auf die sieben roten Balken, die für ihn zuvor verdeckt waren. Als neue Wirklichkeit stehen sie kraftvoll der an den Rand gerückten dunklen Vergangenheit gegenüber und bieten dem Auferstandenen ungekannte Perspektiven …

… und auch uns. Denn dieser auf Glas gemalte Kreuzweg will Durchblicke in existenziellen Fragen geben, Zuversicht und Hoffnung bezüglich des Lebens danach. Vielleicht hat die Künstlerin ihn deshalb auf transparenten Glasscheiben mitten in den Raum gestellt. – Er soll nicht an den Rand gedrängt oder an die Wand gehängt werden, sondern zentral in unserem Leben stehen – wegen seiner Bedeutung für das ewige Leben. Deshalb sollte jeder für sich, für sein Leben und in seiner Situation diese Botschaft vom Kreuzweg zu entziffern und zu begreifen versuchen …

Leid und Flucht

Die Farben des Bildes scheinen sich von den beiden rechten Ecken her zur Mitte und nach rechts hin zu verdunkeln. Der lichterfüllte Sand verfärbt sich von oben und von unten her glühend rot, um dann von einer aschgrauen Schicht überdeckt zu werden. Darin sind schwarze Gestalten unterwegs, gerade noch als Menschen erkennbar. Im harten Gegensatz zu den dunklen Menschengruppen leuchtet am oberen Bildrand ein halb verdecktes rundes Licht. Ob es für die Sonne steht, welche das Land einst in warmen Farben leuchten ließ, bevor sie durch die Flammen und den Rauch eines anderen Feuers verdeckt wurde?

Unheil ist aus dem Bild herauszuspüren. Als Betrachter fragen wir uns unwillkürlich, was geschehen ist, dass eine solche Finsternis das Land bedeckt und die Menschen zur Flucht bewegt. Die Farben assoziieren Wüste, Hitze, brennendes Land und verbrannte Erde. Krieg lässt sich erahnen und lässt an die vielen Konflikte in Nahost denken, in denen immer und immer wieder Heimat zerstört und Menschen in Angst und Finsternis gehüllt werden. In Gruppen sind sie in der Sehnsucht nach neuer Sicherheit und Heimat unterwegs.

Von den Menschen sind nur Silhouetten übrig geblieben. Als Schatten geistern sie durch das zerstörte Land, als „verkohlte“ Gestalten, bei denen mit der Umwelt zusammen auch vieles im seelischen Bereich verbrannt und zerstört worden ist.

Das Bild strahlt Trauer aus, aber nicht Trost- und Hoffnungslosigkeit. Denn noch leuchtet die Sonne. Aber sie hat keine Kraft, die Menschen in der Finsternis zu erreichen. Das Bild erinnert auch an das Volk Israel, von dem wiederholt berichtet wird, dass es in Dunkelheit und Finsternis lebt, aber über ihnen ein Licht aufstrahlt (vgl. Jes 9,1; 60,2).

Auch das große Kreuz, das verborgen als Symbol des Leidens und Sterbens über das ganze Bild gelegt ist, spricht die Hoffnung an. Die von Leid und Not betroffenen Menschen sind nicht allein. Jesus Christus hat sich durch sein eigenes Leiden mit ihnen solidarisiert und ist ihnen auf ihrem kreuzwegähnlichen Auszug aus der „heiligen“ Stadt nahe. Er trägt ihre Angst und ihr Leiden mit. Hebt sich im Bereich des linken Randes nicht schemenhaft ein schwarzer runder Kopf vom grauen Hintergrund ab und lassen sich darunter nicht die ausgebreiteten Arme und der Leib des Gekreuzigten sehen? Sein Sieg über Sünde und Tod lassen das warme Rot im Hintergrund in einem ganz anderen Licht sehen: als Künder des neuen Lebens, als Verheißung des neuen Tages, der neuen Zeit nach diesem Schrecken und dieser Not.

Entkleidung

Kein Mensch ist zu sehen. Die wenigen Zeichen deuten in der Stille des Bildes mehr an als sie Konkretes sagen. Aus dem Holz geschnitten, dem gleichen Material wie das historische Kreuz von Jesus, haben sie auf dem Leinen ihren Abdruck hinterlassen, um in ihrer Einfachheit die Menschen anzusprechen – bis zum 11. April 2006 in einigen U-Bahnhöfen Berlins. Damit thematisiert der Künstler die Leidensgeschichte Jesu an einem ungewohnten, aber stark frequentierten Ort. Er konfrontiert damit Menschen, die auf dem Weg sind – zur Arbeit oder zum Arbeitsamt, zur Schule oder in die Freizeit, zu Menschen, die ihnen gut gesonnen oder mit denen sie zerstritten sind – und richtet sich an all jene, die im übertragenen Sinn jeden Tag ihr persönliches Kreuz auf sich nehmen.

Auf einem angedeuteten Hügel liegt hochkant ein schwarzes, an seiner Struktur deutlich erkennbares Holzkreuz. Drei schwarze Schädel weisen auf Golgota, die Schädelhöhe, hin (Mt 27,32) und kennzeichnen damit die Hinrichtungsstätte als Ort des Todes. Dahinter ein aufgerichtetes weißes Kreuz. – Oder ist es aus dem blutroten Himmel ausgespart worden, weil das schwarze Kreuz hier zuerst seinen Platz fand? Nacktheit ist aus dem weißen Kreuz herauszuspüren. Einerseits ist es, als wäre es entkleidet, seines Kleides beraubt worden (vgl. Mt 27,35). Andererseits strahlt in ihm bereits der durch Gott verherrlichte Leib auf, den keine Entkleidung mehr bloßstellen und in seiner Würde erniedrigen kann.

Der Tod steht kurz bevor. Die kleinere hellrote Fläche am rechten Bildrand könnte für das Lebensblut stehen, das sich im Begriff ist zu verabschieden? Dem roten Hintergrund nach steht ja das große Blutvergießen bevor, das “für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28).

Auf der anderen (Bild-)Seite durchquert und verbindet eine dünne gelbe Linie die beiden Kreuze. Dabei ist nicht auszumachen, ob sie von oben kommt oder von unten nach oben geht. Doch durch diese Himmel und Erde verbindende Linie erhalten die beiden Kreuze Hal. Ihre helle Farbe und ihr bloßes Dasein lassen Hoffnung schöpfen, dass Einer schützend über den Notleidenden steht, ihnen in ihrer Not beisteht und sie eines Tages wie seinen Sohn erlösend in seine Herrlichkeit eingehen lässt.

ganzer Kreuzweg

Der ganze Kreuzweg mit hervorragenden, ganzseitigen Farbfotos und Texten von Anuschka Koos, Eugen Biser, Fridolin Haugg, Friedrich Nietsche, Helmut A. Müller und Wolf-Günter Theil ist als Buch erhältlich: Bernd Zimmer, Lema Sabachtani. 14 Stationen des Kreuzwegs, München 2006. ISBN 3-88779-016-2

Begegnung

Halb verdeckt von Farbflächen, Pinselstrichen und Bleistiftlinien schweift unser Blick wahrscheinlich zuerst auf den leicht geneigten Menschenkopf im Hintergrund. Unschwer lässt sich an seinen Gesichtszügen das Haupt einer gotischen Christusgestalt erkennen. Aus welchem Zusammenhang es jedoch extrahiert worden ist, lässt sich durch die Isolierung und malerische Verfremdung nicht sagen.

Wesentlich scheint der Blick, mit dem Jesus durch das Liniengewirr hindurch dem Betrachter eindringlich in die Augen schaut. Das Leid ist zu spüren, das er aushalten muss, ebenso das Kreuz auf seinen Schultern, das in der Diagonalen unter seinem Kopf angedeutet ist. Arnulf Rainer hat das Jesus zugefügte Leid in einer gestischen Aktion malerisch umgesetzt: Zuerst wurde er von ihn mit dem Pinsel und mit Stift „gegeißelt“, bis sein Gesicht mit Striemen gezeichnet und sein Haupt mit einem Liniengeflecht gleich einem Dornenkranz gekrönt war (Mk 15,17-19). Dann hat er mit seiner Hand gelbe und dunkelrote Farbe so aufgetragen, dass er damit dem Abbild des Gekreuzigten heftige Hiebe versetzte. Die triefenden Farbspuren legen Zeugnis ab, dass der Künstler ihm mit vollen Händen „eins ausgewischt“ hat. Dick wie verklebtes Blut ist die Farbe unter seinem Gesicht eingetrocknet, während die gelben Farbspuren wie zwei Leuchten links und rechts von seinem Angesicht erscheinen: Nichts beschönigend, aber erinnernd und mahnend als ein ehrendes Zeichen für denjenigen, der für seinen Glauben an Gott und an uns Menschen gestorben ist.

Die dem Werk zu Grunde liegende Fotografie hat der Künstler auf einen Karton aufgezogen. Durch die Übermalungen sind ihre Ränder hervorgehoben und lassen das Rechteck wie ein Fenster in eine andere Welt erscheinen. Es ist, als ob die Übermalung diesseits bliebe und dem heiligen Gesicht nichts anhaben könnte. Viele Christus-Übermalungen hat Rainer auf einem kreuzförmigen Träger durchgeführt. Hier ist das Grundformat jedoch rechteckig. Allerdings hat er den Christus-Kopf in eine Kreuzform integriert. Die beiden gelben „Figuren“ bilden die Außenseiten des stehenden Balkens, die Unterkante der Fotografie zeichnet die Unterkante des Querbalkens, während zwei in der Mitte des Gesichts seitlich vorstehende Elemente den Querbalken oben abschließen.

So gesehen ist dieses Bild wie ein Zeitfenster, das uns zu Zuschauern des Leidens Jesu Christi macht und uns an die Seite von Simon von Zyrene, seiner Mutter Maria oder Veronika stellt, die ihm das Schweißtuch gereicht hat.

Nun begegnet er mir und scheint mich schweigend zu fragen: Wie willst Du bei meinem Anblick reagieren? – Im Augenblick haben wir vielleicht Mitleid und wollen ihm beistehen. Nichts läge uns ferner als ihn wie die Soldaten mit Peitsche und Stöcken zu schlagen oder wie der Künstler mit Farbe und Bleistift zu malträtieren. Aber wer von uns ist schon ohne Schuld? Können vernichtende Gedanken und Worte über andere Menschen (vgl. Mt 25,40.45) oder die bewusste Missachtung und Verletzung der Schöpfung nicht auch wie Peitschenhiebe wirken, entstellen und Leid verursachen?

“Nun, was du, Herr, erduldet, ist alles meine Last;
Ich hab’ es selbst verschuldet, was du getragen hast.
Schau her, hier steh’ ich Armer, der Zorn verdienet hat;
Gib mir, o mein Erbarmer, Den Anblick deiner Gnad’!”

4. Strophe aus “O Haupt voll Blut und Wunden”

Kreuzauflegung

Weiß und wie eine Wolke, in den Konturen luftig zerzaust schwebt das Kreuz in diesem rot-gelben Bildraum. Links unter ihm eine mit gelben Linien skizzierte Menschengestalt. Über dem Kreuz helle Lichtpunkte, die an einen Sternenhimmel denken lassen, und eine rosafarbene Wolke.

Mit diesen wenigen Angaben lässt sich das Geschehen schwer einem Ort oder einer Zeit zuordnen. Außer dem Menschen gibt es keine irdischen Anhaltspunkte. In gewisser Weise ist dem Geschehen der Boden entzogen worden, spielt sich die Szene irgendwo im kosmischen Weltenraum ab. Nur der rot leuchtende Nebel bildet in der raum- und zeitlosen Weite ein äußerst vergängliches Gewand und einen minimalen Sichtschutz für das schändliche Vorgehen: Dem Mensch gewordenen Sohn Gottes wird das Kreuz aufgebürdet, damit er es zur eigenen Folterstätte trage und dort an ihm den Tod erleide.

Die blutrote Kulisse und die weiße Kreuzform mögen auf die Passion hinweisen. Doch wer mag die Gestalt unter dem Kreuz sein, und wieso ist das Kreuz leuchtend weiß, und leicht und schwebend wie eine Wolke dargestellt? Zum Verstehen des Bildes ist die Bilderfolge des Kreuzweges wichtig, in der es sich befindet. Aus ihr geht hervor, dass der Künstler Jacques Gassmann den Kreuzweg aus der Sicht von Jesus gemalt hat. Beim Malen nahm zuerst der Künstler Jesu Sichtweise an. Nun stehen wir Betrachter an seiner Stelle und werden durch die Bilderfolge in den Leidensweg von Jesus hineinversetzt.

So sehen wir unter dem Kreuz den einen Menschen stellvertretend für alle Menschen, die ihm vor Wut glühend zurufen: „Ans Kreuz mit ihm!“ (Mt 27, 22f) Das schwebende Kreuz mag andeuten, dass Gott es zugelassen hat, dass die Menschen seinem Sohn das Kreuz aufgelegt haben (Mt 26,39.42). Weil es Gottes Wille ist, kann das Kreuz als geistige Last gesehen werden, die von „oben“, also von Gott her gegeben ist.

Umgeben vom „Blut des Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden“ (Mt 26,28), mag das lichte Kreuz auf die Unschuld und die Reinheit von Jesus hinweisen, wie sie im Hebräerbrief (7,26) beschrieben ist: „Ein solcher Hoherpriester war für uns in der Tat notwendig: einer, der heilig ist, unschuldig, makellos, abgesondert von den Sündern und erhöht über die Himmel.“

Von dieser Kreuzauflegung am Anfang der Passion Jesu Christi geht unser Blick letztlich bereits zum Ende des Kreuzweges. Das an diesem Kreuz vergossene Blut wird alle Menschen, die sich gläubig unter das Kreuz stellen und um Vergebung bitten, überströmen und Versöhnung und Heil schenken. So gesehen kann die gelbe Farbe des Menschen auch so interpretiert werden, dass er unter dem Kreuz zum Glauben gekommen ist (vgl. Mt 27,54) oder wie der weise Simeon beim Anblick des Gottessohnes Segen erfahren hat: „… meine Augen haben das Heil gesehen, das du vor allen Völkern bereitet hast, ein Licht, das die Heiden erleuchtet, und Herrlichkeit für dein Volk Israel“ (Lk 2,30-32).

Gehalten!

In quadratischer Form präsentiert sich uns diese Kreuzwegstation aus Glas. Eingelassen in das Mauerwerk der Kirche bildet dieser Kreuzweg  Übergänge zwischen dem Äußeren und dem Inneren der Kirche und vermag den Gläubigen gerade in schweren Stunden wahre Lichtblicke zu schenken. Alle Kreuzwegstationen scheinen bereits vom Licht der Auferstehung durchdrungen.

In der 13. Station sind die Kreuzabnahme und das Hinabsteigen zu den Toten zusammengefasst. Beiden gemeinsam ist die Abwärtsbewegung. Mehr Skelett als Leichnam ist eine menschliche Gestalt mit ausgebreiteten Armen erkennbar, wie ganz unten auf dem Meeresgrund schwebend. Es muss Jesus sein. Das Kreuz ist ihm noch nahe, das ihm durch das Kreuz aufgebürdete Leid und der Schmerz verlassen ihn nicht so schnell und prägen weiterhin seinen Körper.

Die beiden aus dem Zentrum einer Spirale hervorgehenden Linien suggerieren, dass Jesus auch in den Tiefen des Totenreiches von Gott Vater und Heiligem Geist gehalten wird. Seine Arme bilden die Basislinie eines gleichschenkligen Dreiecks, das auch durch seine Helligkeit Symbol für die göttliche Dreifaltigkeit ist. Dieses Dreieck bildet wie eine Taucherglocke ein schützendes Hausdach, den (Über-)Lebensraum in den Tiefen der Erde. Die offene Form beinhaltet eine Sogwirkung nach oben. Jesus ist hinabgestiegen, um alle Menschen an sich zu ziehen (vgl. Joh 12,32), sie zu retten und seinem Vater zuzuführen (vgl. Joh 6,39f; 10,27f).

Jesus ist hinabgestiegen in das Reich des Todes. Das Blau suggeriert die Tiefe des Meeres, aber durch die leichte Wellenbewegung spiegelt sich im Wasser bereits der Himmel und kündigt sich seine Herrlichkeit zur Rechten des Vaters an (Mt 26,64). Ein intensiver heller Lichtstrahl verbindet denn auch die ärmliche Gestalt Jesu mit dem oberen Teil des Bildes, führt ihn dort hinauf, wo über der Erde nach einer verregneten Nacht eben die Sonne aufzugehen scheint.

So wenig das Bild an traditionelle Bilder von Kreuzabnahmen oder Jesu Hinabstieg zu den Toten erinnert, so erzählt es doch in einer neuen Sprache von diesem zentralen Wesenszug des christlichen Glaubens. Dem Künstler ist es dabei wie den großen Ikonenmalern gelungen, den Hinabstieg Jesu zu den Toten im Licht der Auferstehung darzustellen, als Sieg Jesu Christi über die Macht des Todes.

Bilden nicht die ausgebreiteten Arme Jesu zusammen mit den beiden Schenkeln des Dreiecks ein Alpha, den ersten Buchstaben des griechischen Alphabetes? Es erinnert mich an Jesu Worte im Buch der Offenbarung, die in „Erfüllung“ gegangen sind: „Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende. Wer durstig ist, den werde ich umsonst aus der Quelle trinken lassen, aus der das Wasser des Lebens strömt. Wer siegt, wird dies als Anteil erhalten: Ich werde sein Gott sein, und er wird mein Sohn [oder meine Tochter, Anm. d. A.] sein.“ (Offb 21,6-7)

Auf der Website des Künstlers (sein Name links unter dem Bild ist verlinkt) finden Sie alle Kreuzwegstationen.

Geißelung

Eigentlich ist auf diesem Bild nichts Christliches zu sehen. Allein der Titel „Geißelung“ könnte auf einen vom Künstler beabsichtigten Zusammenhang mit der Geißelung Jesu hinweisen (Mt 27,26-30). Die unscharf dargestellten Gewaltszenen mögen eine Verständnis- brücke bilden.

Das Bild ist in drei Ebenen gegliedert. Die dunklen Farben wie die rechts vom Bildrand eingeschobene Begrenzung verbinden die obere und die untere Darstellung. Oben stellen zwei Polizisten mit Helm und Atemschutz gerade einen Mann mit erhobenen Armen an die Wand. Was er wohl verbrochen hat? Hat er vielleicht etwas mit dem weißen Plakat hinter seinem Kopf zu tun, das zu einer Demonstration gegen die Obrigkeit aufrufen könnte?

Schwarz und gelb eingerahmt, wird in der darunter liegenden – von rechts her eingeschobenen – Szene ein Mann von zwei Polizisten abgeschleppt. Nur die Füße und Beine sind klar zu erkennen. Hatte er den Mut, in einer Kundgebung das Unrecht der Mächtigen anzuklagen?

Links davon schaut eine in Umrissen gemalte kniende Frau den Betrachter an. In ihrer Nacktheit ist sie unseren Blicken bloßgestellt. Die Ehebrecherin kommt mir in den Sinn und die Worte Jesu: „Wer von euch ohne Sünde ist, der werfe als erster einen Stein auf sie.“ (Joh 8,7).

Wo die Mächtigen sich nicht selbst getrauen, Gewalt auszuüben, da senden sie Soldaten aus, für sie in den Krieg zu ziehen und mit Gewalt ein Land zu erobern oder ein Recht durchzusetzen.

Stellenweise tropft auf dem Bild die Farbe wie Blut herunter. Die einzelnen Szenen sind wie mit dem Pinsel geschlagen, gegeißelt worden. Gewalt und Folterung wurden auf das Bildmaterial übertragen und lassen verstärkt spüren, dass nicht nur körperliche Gewalt den Menschen geißelt, sondern auch ethische Diskriminierung und Machtmissbrauch. Das Leid kennt vielfache Formen.

Das Bild lässt mich nachdenken über die Grausamkeiten der Menschen, die ihre eigenen Rechte und Gesetze durchsetzen wollen. In den Worten des Psalmisten höre ich den Hilferuf der Unterdrückten und Geschlagenen: „Gott, freche Menschen haben sich gegen mich erhoben, die Rotte der Gewalttäter trachtet mir nach dem Leben; doch dich haben sie nicht vor den Augen. Du aber, Herr, bist ein barmherziger und gnädiger Gott, du bist langmütig, reich an Huld und Treue. Wende dich mir zu und sei mir gnädig, gib deinem Knecht wieder Kraft, und hilf dem Sohn deiner Magd.“ (Ps 86,14-16)

Das Bild lässt in mir auch die Frage nach der Gewalt in der Kirche aufsteigen, wo es auch vorkommen kann, dass im Namen Gottes eigene Interessen verteidigt werden. Letztlich stellt das Bild an mich Fragen: Wo marschiere ich mit, klage ich im Kollektiv, ohne zu hinterfragen, Menschen an und mache ich mich mitschuldig? Wo bürde ich Schwächeren – wie auf dem Bild kaum sichtbar – ein Kreuz, eine Last auf durch meine Rechthaberei, mein Beharren auf meinen Rechten, weil ich nicht Toleranz und Erbarmen übe?

Jesus sagt dagegen: „Selig die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit finden.“ (Mt 5,7)