Verwirrt und irritiert wandert der Blick zwischen den verschiedenen Elementen dieser Krippeninstallation hin und her. Irgendwie will so gar nichts in die gängigen Bildvorlagen und -erfahrungen von Weihnachtskrippen passen: weder der sperrige Wäscheständer noch die festgeklammerten Bildtafeln mit den Umrissen von Krippenfiguren, noch das vergoldete Wandbild darüber, dessen Mitte leer ist.
Immerhin sind auf den Bildtafeln mit etwas Glück in Leserichtung die heiligen drei Könige, der Esel, die Hirten, der Ochs, Josef, Maria mit dem Jesuskind, ein Stall und der Engel zu erkennen. Wie Wäschestücke sind sie mit Holzklammern am Draht befestigt, nicht hängend, sondern stehend, auch wenn die Schatten einen anderen Eindruck vermitteln.
Die Befestigung der Bildtafeln wirkt improvisiert, vorübergehend, so wie dieser Ständer nicht als Bleibe für die Wäsche vorgesehen ist. Der mobile Wäscheständer mit X-Beinen bietet der heimatlosen Truppe einen vorübergehenden Ort zum Verweilen. Er gibt denen, die in sozial labilen Strukturen leben, trotz seiner wackeligen Konstruktion einen festen Halt, damit sie auf ihm stehen, sich zeigen und sichtbar werden können.
Von unten nach oben betrachtet bildet die Installation ein „Trio natale“, ein „Weihnachtstrio“: Wäscheständer, Krippenfiguren, vergoldetes Wandbild. Der Wäscheständer steht für unsere Zeit, für die Gegenwart. Wäschewaschen gehört zu unserem Lebensalltag wie Essen und Schlafen. Die bescheidene Konstruktion und die kreuzförmigen Beine rücken die knappen Mittel vieler Haushalte und die Mühe und Last der Hausarbeit an die Krippe heran.
Doch genau an diesem Ort, unerwartet inmitten unseres Alltags offenbart sich Gottes Gegenwart in der Geburt seines Sohnes durch Maria. Völlig überraschend, wie bei einem Wunder, stehen die Bildtafeln und weisen unauffällig auf das Wandbild darüber. Die in Umrissen gezeichneten Figuren stehen stellvertretend für Arme und Reiche, für die Menschen vom Land wie aus der Stadt. Die Silhouetten sind Werken berühmter Künstler entnommen und gleichzeitig so offen, dass der Betrachter in den einzelnen Figuren eigene Bilder sehen kann, ja in ihre Rolle schlüpfend einen Platz unmittelbar an der Krippe, beim Jesuskind, finden kann.
Jesus will in dieser Installation gesucht werden, auch wenn er wie Maria zweimal dargestellt ist: Geborgen bzw. verborgen in der Gestalt seiner Mutter ist auf der hell beleuchteten Bildtafel vorne rechts und im goldenen Wandbild jeweils links vom Kopf Mariens eine Auswölbung zu sehen, die im Original vom Kopf Jesu stammt. Die Frage bleibt: Wieso ist Jesus gerade da, wo sich alles um ihn dreht, kaum bis gar nicht zu sehen? Ist er nur noch abwesend gegenwärtig? Ist er in unserem durch eine allgegenwärtige Informationsflut und materielle Fülle gekennzeichneten Leben nur noch in den Zwischenräumen als Negativbild da? Unsichtbar in den aus einer fernen Epoche, mit der wir nicht mehr viel gemein haben, entlehnten „Krippenfiguren“?
Das quadratische Wandbild mit der ausgesparten Abbildung der Sixtinischen Madonna von Raphael bildet den Höhepunkt im vertikalen Aufwärtsstreben. Im Gegensatz zum ärmlichen Wäscheständer, der geerdet auf dem Boden der Tatsachen steht, bringt das goldglänzende Wandbild eine überirdische Komponente in die Installation. Außergewöhnlich in seiner Leuchtkraft, erhoben über der bescheidenen Krippe auf dem Wäscheständer, bewirkt das Bild eine Verherrlichung der Gottesmutter und ihres Kindes. Die schwebende Darstellung verknüpft die abwesende Figur der freien Bildmitte mit der apokalyptischen Frau, deren Kind nach der Geburt zu Gott und zu seinem Thron entrückt wurde, um es vor dem Drachen zu schützen (Offb 12,1-6).
Ähnlich dem Goldgrund einer Ikone weist der vergoldete Rahmen auf die Heiligkeit seiner Mitte hin. Einer Mitte, die offen ist für das sichtbare oder unsichtbare Bild, das durch uns hineingelegt wird: Unsere Vision des Jesuskindes, unser verinnerlichtes Bild des menschgewordenen Gottessohnes, der mitten unter uns gewohnt hat und der durch uns weiterhin in unserer Welt wohnen und wirken will. Wo sich die Zwischenräume füllen, wo die Krippenfiguren lebendig werden, da ist auch für uns das Kind geboren.
„Darum jubelt, ihr Himmel und alle, die darin wohnen.” (Offb 12,12)
Die Arbeit von Jörg Länger ist im Original bis zum 23. Januar 2022 in der 81. Telgter Krippenausstellung “Geheimnis der Heiligen Nacht 2.0” target=”_blank” im RELíGIO – dem Westfälischen Museum in Telgte zu sehen. Sehr empfehlenswert!