Kraft der Gemeinschaft

Wie aus einem Fenster in großer Höhe schweift der Blick über eine wolkige Farbenlandschaft. Kaum erkennbar und verloren klein verteilen sich Menschenfiguren auf den vier Bildquadraten. In den blau-grauen Weiten stehen sie vereinzelt, im gelben Bereich in Gruppen. Begleitet wird der Farbwechsel durch die Veränderung der Schatten von links oben nach rechts unten: Je einsamer die Menschen in der Landschaft stehen, um so länger sind ihre Schatten, je näher sie zusammenstehen, desto kürzer werden sie oder verschwinden als deren dunkle Begleiter ganz.

In der Bewegung der Gruppierung, der Farben und Schattenbildung kann das Bild in die eine oder in die andere Richtung „gelesen“ werden. Entgegen der gewohnten Leserichtung, also von rechts nach links, stellt die Auflösung der Gruppen eine zunehmende Entfernung, Vereinsamung, Angst und Kälte dar. Das kann als Desinteresse am Nächsten interpretiert werden oder auch als eine Atomisierung der Gesellschaft (Herbert Pietschmann). Die Menschen stehen im linken und oberen Teil des Bildes haltlos im bodenlosen Nirgendwo, während sich rechts die Verortung auf einer Landkarte andeutet.

Von links nach rechts gesehen befinden sich die Menschen im Aufbruch. Sie zeigen zunehmend Interesse aneinander. Je näher sie beieinander und zueinanderstehen, umso wärmer wird die Farbe des Bodens. Die Menschen gewinnen Land unter ihren Füßen und gleichzeitig erhalten sie einen festen Standpunkt. Nicht mehr die Scheingestalt des Schattens nimmt den größten Platz ein, sondern die Person selbst.

Das Bild lässt die Kraft der Gemeinschaft für unser Leben und Wohlergehen spüren. Es ist ein Plädoyer, den Nächsten in und mit seiner Position stehenzulassen, eine andere Meinung zu akzeptieren und darin einen Anlass für einen konstruktiven Austausch zu sehen. Doch was ist die Voraussetzung dafür, um sich auch mit unterschiedlichen Standpunkten und Meinungen „stehenlassen“ zu können? Das Fensterkreuz deutet an, dass es über die Standpunkte und Meinungen hinaus noch etwas Größeres und Übergeordnetes geben muss, das trotz aller Differenzen verbindet und in dem alle eins sind. Gibt es das nicht, werden die Differenzen absolut und die Distanz zwischen den Menschen unüberbrückbar.

Den Ursprung des gemeinschaftlichen Geistes verorten die biblischen Texte in Gott. Deshalb kann Jesus dem Gesetzeslehrer auf seine Frage, was er für das ewige Leben tun muss, antworten: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele, mit deiner ganzen Kraft und deinem ganzen Denken, und deinen Nächsten wie dich selbst.“ (Lk 10,27) Diese bedingungslose und unsere ganze Existenz durchdringende und umfassende Liebe zu Gott ist die Grundlage unserer Liebe zu den Mitmenschen und nicht zuletzt zu uns selbst. Sie macht die Kraft und die Größe einer Gemeinschaft aus. Im Bild werfen die Menschen keine dunklen Schatten mehr, weil Gott selbst ihr Licht ist (vgl. Offb 22,5) und das „Reich Gottes“ auf diese Weise schon hier und heute beginnen kann.

Liebesbeweis

In Paris gibt es am Montmartre nahe der Place des Abbesses eine künstlerisch gestaltete Mauer, die ganz der Liebe gewidmet ist. Die Liebeserklärung par excellence ist hier in 311 handschriftlich individuellen Varianten in 250 Sprachen und Dialekten wiedergegeben. Von 1992 an sammelte der Sänger Frédéric Baron mit seinem Bruder in der ganzen Welt den Schriftzug „Ich liebe dich“, um dann die Kalligraphin Claire Kito zu beauftragen, die gesammelten Versionen künstlerisch zu bearbeiten und sie zu arrangieren. So entstand im Jahre 2000 „Le mur des je t’aime“ – die „Ich-liebe-dich-Mauer“. Die Kacheln im A4-Format erinnern an die damals noch analog auf A4-Papier gesammelten Schriftzüge. Die eingestreuten roten Farbflecken sollen Stücke gebrochener Herzen darstellen und der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass die zersplitterte Menschheit durch die Kraft der Liebe wieder vereint werde (Quelle: Wikipedia).

Ein Ausschnitt dieser 40 m2 großen Mauer wurde in dem Moment fotografiert, als eine Frau in orangerotem Mantel und weißer Mütze darunter vorbeilief und sich genau zwischen drei roten Fragmenten befand. Der in der Unschärfe der Frau wiedergegebene flüchtige Moment ist ein Zeichen der Zeit. Der universelle Satz „Ich liebe dich“ findet so in einem manifesten Individuum eine konkrete menschliche Gestalt und es entsteht ein Dialog zwischen den vielen Liebeserklärungen und der einen Frau. In welcher Sprache hat sie wohl einem Mitmenschen gesagt, dass sie ihn liebt? Ist sie glücklich verliebt oder trägt sie den Schmerz und die Wunden einer zerbrochenen Liebe in sich? Die zwischen den weißen Schriftzügen eingestreuten roten Farbpunkte können von der Frau ausgehender Ausdruck hochfliegender Gefühle als auch Fragmente einer zerbrochenen Liebe sein. Ob sie die vielen Liebesbekundungen aus aller Welt vorübereilend – en passant – überhaupt wahrnimmt oder sie sogar auf sich bezieht und sich so in diesem Moment geliebt fühlt?

Den auf dieser Wand versammelten Liebesäußerungen wohnt eine gewaltige Kraft inne. So unterschiedlich die berühmten drei Worte in den verschiedenen Sprachen auch lauten, sie bringen einen Menschheitssatz zum Ausdruck, das menschliche Grundbedürfnis zu lieben und geliebt zu werden. Die Liebe ist so weit und tiefgründig, so unerschöpflich und geheimnisvoll wie der Ozean, den die tiefblau glasierten Kacheln andeuten. Wobei das Bild mit dem Meer beides andeutet: überschäumende Freude, grenzenlose Weite, tiefe Sehnsucht, absolutes Lebenselixier, … aber eben auch seine Unberechenbarkeit: unfassbare Kraft und Gewalt, grundlose Tiefe, bedrohliche Gefahr.

Neben der Liebe zwischen Menschen können die Liebesbotschaften auch aus zwei weiteren Perspektiven gesehen werden: Zum einen als Liebeserklärung Gottes an uns Menschen, die Gott nicht nur in allen Sprachen und Dialekten dieser Welt zu uns spricht, sondern auf einzigartige und individuelle Weise zu jedem Einzelnen. Gottes Liebe ist die Quelle unserer Liebe: „Wir haben die Liebe, die Gott zu uns hat, erkannt und gläubig angenommen.“ (1 Joh 4,16) Unsere Gott antwortende Liebe ist die dritte Sichtweise, denn, wer Gott liebt wird auch zu ihm sagen können: „Ich liebe dich“. Für den Autor des ersten Johannesbriefes ist diese Liebe untrennbar mit dem Respekt und der Liebe zu allen Menschen verbunden: „Wenn jemand sagt: Ich liebe Gott!, aber seinen Bruder [= seinen Mitmenschen] hasst, ist er ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, kann Gott nicht lieben, den er nicht sieht.“ (1 Joh 4,20)

So mag der tiefblaue Hintergrund auch andeuten, dass unsere Liebe zueinander von einem unbeschreiblich Größeren, Transzendenten oder eben von Gott gehalten wird und aus der starken Bindung an IHN hervorgeht. Die weißen Schriftzüge vermitteln die Liebe als etwas Positives und Lichtvolles, das jeder dem anderen schenken kann.

Beim Nachdenken über die Bedeutung der Aussage „Ich liebe dich“ wird klar, dass die Liebe eine gewaltige Kraft ist, welche Menschen verbindet und ihre Lebensbedingungen positiv beeinflusst und zum Guten zu verändern vermag. „Ich liebe dich“ ist eine Ich-Botschaft, bei der das Du im Mittelpunkt steht. „Ich liebe dich“ bringt ein Gefühl zum Ausdruck, ein Hingezogen-Sein zum anderen, ist aber darüber hinaus auch eine Haltung der Wertschätzung und des Respekts, der Fürsorge und des Schutzes. „Ich liebe dich“ heißt in den Alltag übersetzt: Ich mag dich, ich bin froh, ja glücklich, dass es dich gibt, dass du da bist. Und weil du mir viel bedeutest, suche ich deine Nähe und möchte so viel wie möglich mit dir teilen, ich will für dich sorgen und darauf achten, dass dir nichts passiert. Dieser liebevolle Blick mit einem offenen Herzen erkennt wesentlich mehr als die sichtbare Gegenwart des Geliebten. In der Liebe nehme ich den anderen in der Tiefe und in allen Dimensionen wahr und an. Die Liebe das Herz, so dass ich über den oder die Geliebten im unmittelbaren Umfeld hinaus auch „Ich liebe dich“ zu allen Menschen meiner Zeit sagen kann. Ganz im Wissen, dass wir als Weltgemeinschaft voneinander abhängig sind und dass ihr Wohlbefinden auch mein Glück bedeutet. Wo wir einander im Respekt der Liebe begegnen, wird nicht nur Paris eine „Stadt der Liebe“ sein, sondern die ganze Erde zu einer „Welt der Liebe“ werden.

 

Diese Fotografie ist wiedergegeben im Katalog WRITTEN ON THE WALLS, 2023, 96 Seiten, 50 Fotografien. ISBN: 978-3-910311-05-3. Mit Textbeiträgen von Nora Gomringer, Claudio Ettl, Walter Leimeier, Hans-Walter Ruckenbauer und Ludger Verst. Der Katalog kostet 18,00 EUR und kann beim Künstler bezogen werden: mail@manfred-koch-fotografie.de.
Hier können Sie einen Blick in den Katalog werfen (PDF)

GegenMacht

Die Gestalt des Gekreuzigten wächst hoch oben aus der dünnen Senkrechten heraus. Sein Körper ist bis auf den Kopf und die Arme vor allem auf der Vorderseite figürlich als Beine, Lendenschurz, Bauch und Brustbereich gestaltet. Die senkrechte Teilung der Beine setzt sich in einem Spalt im Brustbereich fort und bildet dort mit der Unterseite der Brust ein Kreuz.

Der Kopf ist nach rechts gedreht, der Blick nach unten gerichtet. Seine Arme hat der Erhöhte maximal ausgestreckt, ebenso seine Hände: rechts senkrecht erhoben, links waagrecht nach vorne abgewinkelt. So bildet der Körper als Ganzes ein hochaufragendes Kreuz, gleichzeitig trägt er im Brustbereich das Kreuz in den Körper eingeschrieben.

Er ist nicht als der leidende Jesus dargestellt, auch wenn seine Wundmale deutlich zu sehen sind. Jesus wird nicht als passiv das Leiden Erduldender, sondern als Mitleidender, als sich Erbarmender und Beschützer aller wie er Gekreuzigter dargestellt. Er hat das Unrecht der Missbrauchten durch Spott, Folter und Tod am eigenen Leib erfahren. Nun wehrt er sich und verteidigt alle: Es ist genug! Hört auf! Das ist nicht auszuhalten!

Jesus tritt den Peinigern und Mächtigen als Verteidiger der Missbrauchten und Entwürdigten entgegen: Am Kreuz erhöht stellt er sich mahnend zwischen die Gewalttätigen und die Unterdrückten. Mit seiner aufgerichteten rechten Hand gebietet er Halt und Einhalt, mit seiner waagrecht gehaltenen linken Hand wehrt er eher ab. Jesus hält die Gewalttätigen auf Distanz, er schaut sie nicht an. Er, der Menschenfreund, weist sie ab und will auch nicht mit ihnen in Verbindung gebracht werden. Er will auch von seinen eigenen Leuten nicht missbraucht oder verzweckt werden.

Missbrauch hat viele Gesichter und durchzieht zu allen Zeiten alle Gesellschaftsbereiche. Er ist uns näher als wir vielleicht denken, wenn wir stärker, reicher, klüger, älter, gesünder oder einflussreicher sind als andere (vgl. Lk 1,48-53). Macht ist schnell missbraucht, wenn Eigeninteressen höher gestellt werden als das Gemeinwohl und insbesondere das Wohlbefinden des Nächsten im biblischen Sinne. Niemand ist vor dieser Versuchung gefeit, auch nicht Priester oder Lehrer, Väter oder Mütter, Geschäftsleute, Arbeitgeber oder Politiker. Jesus ist gegen jede Art der Unterdrückung und Bevormundung. Im Christuslied des Philipperbriefes (2,6-8) wird beschrieben, wie Jesus auf seine unvorstellbare Machtfülle verzichtete, um den Menschen nahe zu sein und ihnen durch Gottes heilende, stärkende und rettende Kraft ihre Menschenwürde zurückzugeben.

Jesu Gegenmacht zum „Missbrauch von gutem Brauch“ ist seine Liebe und Fürsorge, sein Für-andere-da-Sein. Sein Umgang mit den Menschen ist geprägt von Respekt und Toleranz, von Wertschätzung und Vertrauen in deren Fähigkeiten und Kräfte. In seinen Augen sind alle Menschen gleich und in seiner Gerechtigkeit gibt es keine Unterschiede, außer dass den wie auch immer Benachteiligten Hilfe und Unterstützung zusteht.

Dieses Kreuz verkörpert Jesu Haltung über den Tod hinaus. Von „Gott über alle erhöht“ (Phil 2,9) bleibt er für alle Selbstsüchtigen und Peiniger ein Mahner des Unrechts und somit ein Stein des Anstoßes und ein Zeichen des Widerstands. Alle anderen stärkt Jesus als unübersehbares Vorbild im rechten und guten Umgang miteinander.

Schritte in die Weite

Der Blick des Betrachters geht mit zwei Fußspuren durch eine angedeutete Türöffnung in einen schmalen, langen Raum, dessen Rückwand perspektivisch leicht nach rechts aus dem Zentrum verschoben wurde. Die farbigen Flächen wirken plakativ, symbolisch. Der Raum mit dem braunen Boden, den roten Seitenwänden und der gelben Rückwand erscheint ohne Fenster, Türen und ohne Decke wie eine ausweglose Sackgasse.

Diesen imaginären Raum hat ein Mensch barfuß betreten. Die weißen Abdrücke bilden einen seltsamen Kontrast zu den anderen Bildelementen. Der abstrakte Raum erhält durch diese Spuren etwas Menschliches. Eine menschliche Präsenz wird spürbar. Der braune Boden lässt an Erde denken. Der Ort hat etwas Grabähnliches. Doch die roten Wände pulsieren voller Leben und sie können wie symbolische Hände der Liebe gesehen werden, die den Verloren-Geglaubten umfassen und ihm Halt geben, die den Erkalteten und Erstarrten wärmen und in ihm neues Leben zirkulieren lassen.

Auch die sonnengelbe Rückwand mit der Leiter signalisiert, dass dieser Raum kein Ort des Todes ist, sondern der Auferstehung und des Lebens. Es führt über die Leiter ein Weg ins Freie und in die Weite durch den, der von sich sagte: „Ich bin die Tür, ich bin der Weg, ich bin die Auferstehung und das Leben“: JESUS!

ER ist es, der zu den Angehörigen von kürzlich Verstorbenen, wie zu Jairus oder der Schwester des Lazarus, sprach: „Fürchte dich nicht, glaube nur!“ (Mt 5,36) ER ist es, der zu den Verstorbenen selbst sagt: „Talita cum – Steh auf!“ (Mt 5,41; vgl. Joh 11,1-45) ER lässt die Worte aus Psalm 18 immer wieder Wirklichkeit werden: „Er führt mich hinaus ins Weite.“ (Vers 20) „Du schufst weiten Raum meinen Schritten“ (Vers 37). Jesus ist im Symbol des feinen Türbogens ins Bild gebracht. Durch ihn wird die Wahrnehmung positiv verändert, die Sicht auf das Kreuz wird im Symbol der Leiter wieder auf das Leben geweitet, denn er sagt: ICH sage dir: Steh auf! ICH führe dich ins Weite – in die Weite des Lebens!

 

Die Arbeit von Thomas Lauer war bis zum 18. Oktober 2022 in der Gemeinschaftsausstellung „Talita kum – steh auf!“ Theodosius Akademie im Kloster Hegne am Bodensee ausgestellt.

Trinitarische Liebe

Drei leuchtende Kugeln bilden zusammen einen Dreipass, wie die verbundene Form von drei Kreisen im gotischen Maßwerk genannt wird. Die Form gleicht einem dreiblättrigen Kleeblatt. Die Konturen sind unscharf wie bei etwas, das ständig in Bewegung ist und deshalb nicht genau erfasst oder begriffen werden kann. Durch das innere Licht leuchtet der Dreipass in der nachtblauen Umgebung wie ein besonderer Stern.  Die feine Äderung erinnert an Bilder von im Mutterleib geborgenen Embryonen.

Die drei Einheiten formieren in der Weite des Universums eine unbegreifliche Erscheinung, eine geheimnisvolle trinitarische Vereinigung. In ihrer Einzigartigkeit sind sie schwer zu erfassen. Als Gestirn erscheinen sie uns in unerreichbar weiter Ferne. So können sie nur annähernd beschrieben oder sogar umschrieben werden. Die dunklere gelbe Außenseite lässt spüren, dass sie einander zugewandt sind, die Äderungen lassen vermuten, dass Leben in ihnen pulsiert, das fähig ist – wie bei der Zellteilung – unbegrenzt weitergegeben zu werden. Sie wirken wie eine atmende Gemeinschaft voller Energie und Bewegung, die in unaufhörlicher Beziehung Energie und damit auch Leben austauscht.

Die dreipassförmig vereinten Sonnen erinnern an Gott, der sich den Menschen trinitarisch als Vater, Sohn und Heiliger Geist offenbart hat. Ein von menschlichen Erfahrungen geprägtes Bild für die Keimzelle einer von Leben erfüllten Gemeinschaft. Dagegen bietet das Bild eine mystisch-kosmische Vorstellung der Trinität. Die Vision vermittelt auf abstrakt-lebendige Weise das Wesen der Trinität. Der Perspektivenwechsel rückt Gott als den unvorstellbar Anderen zunächst in weite Ferne und man fragt sich, wie da eine Beziehung entstehen kann und wo der Platz des Menschen oder der Schöpfung ist.

Bei genauer Betrachtung fällt in der Mitte ein viertes Element auf. Es befindet sich im Kern der Gemeinschaft, an dem Ort der vollsten und ungeteilten Zuwendung und Aufmerksamkeit. Wie wäre es, wenn wir uns an dieser Stelle vorstellen, mitten im Herzen der trinitarischen Gemeinschaft? Hat Jesus uns nicht genau das vermittelt, dass Gott Vater uns so liebt, wie Er den Sohn liebt? (Joh 17,23) Gott liebt uns und die ganze Schöpfung so privilegiert innig wie ein Vater oder eine Mutter ihr Kind lieben. Wie im Bild umgibt uns Gott von allen Seiten, er ist bildlich wie eine Gebärmutter, die uns in grenzenloser Geborgenheit rundum beschützt und Leben schenkt. Was auch immer geschehen mag, uns kann nichts passieren. Wir können unmöglich aus Gottes Liebe und Fürsorge herausfallen (vgl. Röm 8,38-39).

Weil Gott uns derart liebt und seine Liebe in unsere Herzen ausgegossen hat, dürfen wir etwas von dieser Liebe erwidern und sie allen Menschen und der ganzen Schöpfung zurückgeben. Wir sind berufen, nach dem Vorbild Gottes uns zu neuen lebensspendenden und -bewahrenden Einheiten zusammenzuschließen und wie Er alle Menschen und die ganze Schöpfung in unser Herz zu schließen (vgl. Röm 5,5; 1. Joh 4,19), sie zu unserem Herzensanliegen zu machen, ihnen – und nicht uns – unsere ungeteilte Aufmerksamkeit, Liebe und dadurch Leben zu schenken.

Freiraum für die Liebe

Drei geometrische Formen bilden in dieser Monumentalskulptur eine Einheit: Quadrat, Dreieck und Kreis. Während erstere einander „nach hinten“ zugeneigt sind und auf dem unteren Teil der Kreisform aufliegen, erhebt sich der Kreisring sie stützend in die Gegenrichtung. So aneinandergelehnt und einander durchdringend erheben sie sich im öffentlichen Raum, diesen im wechselnden Licht und in sich ständig verändernden Schattenmustern auf dem glatten Stahlblech reflektierend. Die geometrischen Elemente wirken vertraut – und doch erscheint das Kunstwerk in dieser Dimension, seinen klaren Linien, der hellen Erscheinung und den multiplen Spiegelungen wie etwas Außerirdisches. Man könnte die weißen Ringformen als monumentale künstlerische Spielerei zur Kenntnis nehmen, doch sie sind mehr.

Dreieck, Quadrat und Kreis sind geometrische Grundformen. Sie verkörpern in ihrer Unterschiedlichkeit Urprinzipien unserer menschlichen Existenz: So steht das Viereck für die Materie, die Welt, den irdischen Lebensbereich und damit auch für den Menschen. Das Dreieck ist ein Symbol für das geistig Dynamische, den Himmel, die Dreifaltigkeit und damit auch für Gott. Der Kreis symbolisiert Einheit, Vollkommenheit und Unendlichkeit, weil er in sich selbst zurückführt. Der Kreis verbindet Quadrat und Dreieck und symbolisiert damit auch die Liebe und die Überbrückung des Gegensätzlichen.

Im Kunstwerk erhalten die Formen durch eine dritte Dimension räumliche Tiefe. Diese Tiefendimension und der Stahl als Material verbinden das Gegensätzliche ebenso miteinander wie die freie Mitte, die das „Umfangende“ zu Ringen gestaltet und den voluminösen Elementen Leichtigkeit verleiht. Die Freiräume in ihrer Mitte, die sie umschließen und die zwischen ihnen übrig geblieben sind, wirken wie eine Seele. Sie sind da und wichtig, doch nicht wirklich greifbar. Sie erschließen sich in immer neuen Zusammenhängen im Umschreiten der Skulptur oder durch Abbildungen aus unterschiedlichen Blickwinkeln. Sie sind wichtig, ohne sie ginge es nicht, denn sie geben den drei Elementen Freiraum für Durchblicke, die Gelegenheit zum Ineinandergreifen und sich gegenseitig Festhalten.

So könnten Quadrat und Dreieck einander zugeordnet sein, doch ohne die freie Mitte, die sie zu Ringformen und Symbolen für die Unendlichkeit macht, ohne das Kreiselement, das sie stützend durchdringt und verbindet, wären sie nichts. (vgl. 1Kor 13,2) Dreieck und Quadrat wären leere Raumköper ohne tragenden Grund, ohne vereinendes Band, ohne erfüllende Mitte. So kann der Ring, der das Quadrat und das Dreieck verbindet, in seinem vollkommenen Rund auch als ein Symbol für Gott oder die Liebe gesehen werden.

Es ist die Liebe, die das Gegensätzliche und einander Ausschließende verbinden kann, ohne die Einzigartigkeit des Verschiedenen zu zerstören. So geht es – übertragen gesehen – nicht um eine linear hintereinander gedachte, das Vorherige aufhebende Abfolge von These, Antithese und Synthese. Vielmehr geht es um einen lebendigen Prozess, in dem die Gegensätze in einer immer wieder zu suchenden Synthese affirmiert – also einander bejahend – enthalten sind, und – wie im vorliegenden Kunstwerk mehrdimensional räumlich und einander durchdringend sich auf einer höheren Ebene zu einem neuen Ganzen verbinden. Ganz so wie Paulus es im Hohelied der Liebe ausdrückte: „Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe“ (1Kor 13,13). Eine auf diese Weise durch die Liebe bewirkte Versöhnung der Gegensätze vermag Inseln der Humanität zu schaffen.

Die Skulptur war bis im Sommer 2021 an der großen Skulpturenausstellung Bad RagARTz in Bad Ragaz/Schweiz ausgestellt.

Beflügelndes Miteinander

Leben ist diesem vermutlich intuitiv entstandenen Bild eingeschrieben. Leben ohne Vorgabe, ungebundenes, freies Leben! Lebendigkeit, die sich in der spielerischen Entfaltung von Strichformen und Farbakzenten, in der freien Bewegung und dem geselligen Miteinander äußert.

Das helle und fröhliche Bild kann auf ganz unterschiedliche Weise betrachtet werden. Nachfolgende Zugänge können eröffnende Impulse sein.

Welcher Strich, welches Lebenszeichen, mag wohl der erste auf der Leinwand gewesen sein? Wo fand ein zweiter Strich seinen Platz, als Ausgleich und Partner zum ersten? Welcher Strich ergänzte dieses Paar zu einem Trio bzw. zu einer Familie? Auf welche Weise verdichteten sich die Striche bis nach und nach das komplexe Gefüge einer (Farb- und auch Lebens-) Gemeinschaft entstand? Welche Striche sind bei der Entstehung der Komposition übermalt worden und haben dabei die Farbe gewechselt?

Die vielen Pinselstriche verunmöglichen wie bei einem Schneegestöber einen Blick in die Tiefe. Während vorne die starken Farben wirken, verwirbeln die schwächeren nach hinten. Die unterschiedliche Intensität ermöglicht umgekehrt ein Auftauchen oder Erscheinen der Farben, indem die Pinselstriche mit zunehmender Farbigkeit in den Vordergrund rücken und über den anderen Strichen zu schweben scheinen.

Diese lebensfrohe Komposition durchziehen fast unmerklich Bewegungen, die durch farb- und formbedingte Verdichtungen entstanden sind. Sie äußern sich in vielfältigen Bezügen, Farbintensivierungen, Aneinanderreihungen, Gruppenbildungen. So bilden zwei „Linien“ – ausgehend von den unteren Ecken – über der Bildkante eine in das Bild hineinführende Dreiecksform. Darüber, leicht nach rechts verschoben, eine Ansammlung von gelb-orangen und violetten Strichen, die eine Kreisform ohne feste Mitte bilden. Zudem schwingt ein großer Bogen von der rechten unteren Ecke links um die Kreisform herum zur rechten oberen Ecke hoch. Nicht zuletzt finden sich in der linken oberen Ecke gelb-orange Striche dicht beieinander. Einen Akzent bildet der vielfarbig schräg angelegte blau-weiße Strich in der oberen Mitte. Er wirkt in seiner Umgebung von gelben und weißen Strichen wie ein Ruhepol im Fluss der Farben, wie ein „Aufhänger“ oder Anker bei gedanklicher Unruhe. Ein spiegelbildliches Gegenüber oder „Dialogpartner“ findet er in der gelbrot übermalten dunkelblauen Spitze des Dreiecks unten.

Es ist ein Tanz der Farben auf der Leinwand, bei dem jeder Strich voller Kraft und Dynamik für sich selbst stehen könnte und ein eigenes Kunstwerk bildet. In schier endloser Kombination steht jeder farbige Pinselstrich mit den anderen im Dialog und zusammen entwickeln sie eine Dynamik, die im Miteinander über sich selbst hinauswächst: beflügelnd, begeisternd, beseelend, bestärkend, belebend, bewegend. Durchdrungen und getragen von Dem, der das Leben selbst ist und es mit Seiner Liebe erfüllt.

In dem Sinne könnte das Gemälde ein Sinnbild einer Gesellschaft sein, die aus Individuen, wechselnden Gruppen und deren Interaktionen besteht. Einer Gesellschaft, in der durch die Liebe erbauende und einende Kräfte wirken, welche die vielen auseinanderstrebenden Gruppen zu einer Gemeinschaft verbinden. Ganz wie der Apostel Paulus Gläubige in Kolossai ermahnt: „Vor allem bekleidet euch mit der Liebe, die das Band der Vollkommenheit ist! Und der Friede Christi triumphiere in euren Herzen. Dazu seid ihr berufen als Glieder des einen Leibes. Seid dankbar!“ (Kol 3,14-15) Wer so lebt, wird – wie jeder Pinselstrich im Bild – Spuren voller Leidenschaft, spontaner Lebenszeichen, tiefgründiger Freude hinterlassen, die das Miteinander beflügeln.

Netzwerk der Liebe

Raumhoch erhebt sich hinter dem überlebensgroßen barocken Kruzifixus eine goldfarbene Gitterskulptur. Transparent steigt das moderne Retabel im Chorraum der katholischen Pfarrkirche St. Laurentius im oberbayerischen Mühldorf am Inn vom halbrunden Altar auf und verbindet so das in der Eucharistie gefeierte Sakrament mit dem darüber hängenden Kreuz. Dabei nimmt die Skulptur die halbrunden Formen ihrer Umgebung auf und verbindet so den sich im Halbkreis vom Boden erhebenden Altar mit dem sich vom Himmel senkenden Chorbogen und den dahinterliegenden Wiederholungen im Deckengemälde und im Stuckbogen.

Die Gitterskulptur besteht aus einem unregelmäßigen Netz von Verbindungen, so dass das Licht des barocken Chorfensters es dennoch durchdringen und einen lichten Heiligenschein für den Gekreuzigten bilden kann. Das goldfarbene Netz bildet einen anders leuchtenden Bereich der Ausstrahlung Jesu, der viele Möglichkeiten der Betrachtung und der Deutung offen lässt.

Spontan mag die großflächige Netzskulptur in Verbindung mit Jesus an ein Fischernetz erinnern und an die Berufung der ersten Jünger, die Fischer waren und ihre Netze auswarfen: „Kommt her, mir nach! Ich werde euch zu Menschenfischern machen. “ (Mk 1,17). Oder es erinnert an die Erzählungen von den wunderbaren Fischfängen, in denen die Jünger der Auffordung Jesu geglaubt hatten, ihre Netze trotz vieler vergeblicher Versuche nochmals auszuwerfen und dann einen übergroßen Fang ins Boot ziehen konnten (Lk 5,1-11; Joh 21,1-14). Das Retabel stellt damit eine andauernde Einladung zur Nachfolge Jesu dar. Es visualisiert den Auftrag an alle Gläubigen, Menschenfischer zu sein, uns für das Wohl der Menschen einzusetzen und sie dadurch für Gott zu begeistern.

Formal knüpft das Netzgebilde an die Faltenstruktur des Lendentuchs Jesu an. Darüber hinaus bildet es einen von Jesus  ausgehenden heiligen Bereich, der sich aus dem ihn umflutenden Licht heraus in den Verknüpfungen konkretisiert und materialisiert. Es bildet eine Art „Heiligen Schein“, der uns den Weg von der Erleuchtung oder Begeisterung zur aktiven Handlung aufweist. Es ist ein transparenter Prozess, bei dem Begegnungen und Verknüpfungen eine wesentliche Rolle spielen. Das Netzgebilde verdeutlicht Jesu Auftrag (wie er damals) in unserer Zeit „Networker“ zu sein, soziale Netzknüpfer. Netzwerker der Liebe zu sein, die an einer haltgebenden und stabilen Struktur für alle Menschen arbeiten.

In dem Sinne bietet die große Netzskulptur unendlich viele Anknüpfungspunkte für alle Sinn- und Haltsuchenden. Gerade die Verbindungen zwischen den einzelnen „Knoten“ bieten von unten bis oben perfekte Griffe, um sich in der Not festzuhalten und im Verlaufe des geistlichen Lebens vielleicht auch hochzuziehen. So kann sie als Rettungsinsel für alle Verlorenen und Hilfesuchenden gesehen werden wie auch als geistliche Kletterwand, bei der die Gnade wie die Liebe gleichermaßen wichtig sind.

In der Mitte ist das Retabel dünn ausgebildet. Zu beiden Seiten hin vervielfachen und verdichten sich die Verknüpfungen und verstärken so den konkaven Effekt. So kann die Netzskulptur auch als große geöffnete Schriftrolle gesehen werden, die den Gekreuzigten als das Licht der Welt offenbart, als das Lamm Gottes, das die Schuld der Welt hinwegnimmt (Joh 1,29). Beide Metaphern reihen sich nahtlos in das bereits Erarbeitete ein. Denn an das Lichtwort „Ich bin das Licht der Welt.“ in Joh 8,12 fügt Jesus hinzu: „Wer mir nachfolgt, wird nicht in der Finsternis umhergehen, sondern wird das Licht des Lebens haben.“ Und wer wie Jesus in Liebe gerade den Menschen in Not und Elend begegnet, ihnen hilft, die Not zu wenden und sie für ein Leben danach aufbaut, der handelt barmherzig wie Gott (vgl. Lk 6,36) und beteiligt sich auf seine Weise, die Schuld der Welt zu reduzieren.

Zusammenfassend kann der das Kreuz hinterfangende Netzkörper als Symbol für das Wirken Jesu gesehen werden, als eine Visualisierung der von ihm ausgehenden Liebe für alle Menschen. Die einzelnen Netzstäbe sind wie Arme, die einander halten und so ein Netzwerk bilden, das andere aufzufangen und einzubinden vermag. Es bildet ein Netzwerk der Liebe, dessen Mittelpunkt und Ausgangspunkt Jesus ist. Es bildet ein Netzwerk der Liebe, das uns stets Vorbild, Ermutigung und Erinnerung ist.

Da ist es gut, dass die verbindende Netzstruktur der Liebe sich in der Kirche und über das Gebäude hinaus  fortsetzt: Geometrischer geprägt auf den Türen des Tabernakels im rechten Seitenschiff, amorpher zu finden in der unregelmäßigen Putzstruktur der Säulen und in dem durch das Südfenster (das sich über dem im rechten Seitenschiff freistehenden Tabernakel befindet) gerade in der Nacht nach außen leuchtenden ewigen Licht, das nonverbal die Botschaft Jesu und der Kirche verkündet: Du bist nicht allein. Ich bin auch wach. Du kannst jederzeit zu mir kommen. Ich bin gerne für Dich da!

Zweiwerdung

Eine junge Frau mit kurzen Haaren und ein Mädchen mit zu Zöpfen gebundenen Haaren umarmen sich gegenseitig. Die Begegnung lebt von den gebogenen Körpern, der doppelten Verbindung der Arme und dem intensiven Blickaustausch.

Die schlanken, nur mit drei Beinen den Boden berührenden Gestalten verstärken diese Bewegungen. Die dünnen Beine und Arme verleihen den beiden Frauen etwas Feines und Tänzerisches, etwas Kostbares und doch auch Zerbrechliches. Die dynamische Begegnung strahlt etwas Temporäres und Vergängliches aus. Durch den engen Körperkontakt im Bauch- und Hüftbereich wird die eine Zeit lang währende enge Verbundenheit von Mutter und Kind zum Ausdruck gebracht. Doch durch den nach hinten gebogenen Oberkörper und Kopf wird auch ein Auseinanderwachsen angedeutet.

„Zweiwerdung“ nennt die Künstlerin deshalb diese Skulptur. Von Seiten der Tochter ist es nach wie vor ein Aufschauen zu ihrer Mutter. Sie hängt noch an ihr, doch signalisiert der die linke Schulter umfassende linke Arm gleichzeitig eine kollegiale Geste. So wie die beiden Zöpfe in der Luft schweben, könnte das Überbringen einer freudigen Nachricht vorangegangen sein. Der kurzen innigen Verbindung folgt fast unmittelbar das Auseinandergehen. Es folgt ein Auf-Distanz-Gehen zur Mutter, in dem sie von dieser zum einen mit der rechten Hand noch gehalten oder sogar fest an sich gepresst festgehalten wird, zum anderen mit der linken Hand bereits losgelassen wird.

Der Blickkontakt zwischen den beiden Frauen ist ungewöhnlich stark. Es ist ein gegenseitiges Anschauen, das Bände spricht. Unsichtbar, intensiv, gegenwärtig. Sie schauen sich von unten nach oben und von oben nach unten an – und doch auf Augenhöhe. Ernst, liebevoll, ruhig auf der einen Seite, spielerisch, dankbar, ungestüm auf der anderen Seite. Es könnte ein Wiedersehen sein, doch vielmehr klingt ein Abschied an, die Absicht, sich von der Mutter zu lösen und eigene Wege gehen zu wollen. Die Beziehung wird sich wandeln, doch das Wissen um den Ursprung und die gemeinsame Geschichte werden den weiteren Lebensweg beider Frauen prägen.

Ob es verwegen ist, sich die Beziehung zu Gott auch so herzlich vorzustellen? Ihn umarmend, an seinem Hals hängend? Seine mütterliche, lebensspendende Nähe so intensiv zu spüren, in stetigem Blickkontakt und Austausch mit ihm zu stehen, sein Auge wohlwollend und zutrauend auf mir ruhend zu wissen, mich haltend und doch ermutigend freigebend, um eigene Wege gehen zu können? Und wie Mütter ein Leben lang für ihre Kinder da sind, sagt auch Gott seinen Kindern Rettung und Schutz zu, gerade weil sie an ihm hängen. „Weil er an mir hängt, will ich ihn retten. Ich will ihn schützen, denn er kennt meinen Namen. Ruft er zu mir, gebe ich ihm Antwort. In der Bedrängnis bin ich bei ihm, ich reiße ihn heraus.“ (Ps 91,14f)

Vergiss die Liebe nicht

 

Exemplarisch für alle durch das Corona-Virus bedrohten Menschen trägt dieser bärtige Männerkopf aus Gips einen Mund- und Nasenschutz. Dieser ist mit acht roten Lippenpaaren bedruckt. Jemand hat hier mit seiner Nähe und seiner Liebesbezeugung deutlich sichtbare Spuren hinterlassen.
Obwohl er sich zu Hause zurückziehen musste, wurde er besucht. Obwohl er sich vor den unsichtbaren Viren schützen muss, wurde ihm Zuneigung zuteil. Obwohl er durch den schützenden Rückzug hinter die Maske und in die eigenen vier Wänden oder durch die persönliche Betroffenheit durch das Virus im Reden eingeschränkt wurde, hat er Ansprache erhalten. Was er nicht zeigen oder sagen kann, zeigen und erzählen die roten Abdrücke auf seinem Mundschutz: Wir vergessen dich nicht, wir lieben dich, wir sind bei dir und gehen mit dir in dieser schweren Zeit. Es gibt tausend Möglichkeiten, die Betroffenen dies spüren und erleben zu lassen!

 

„Lockdown“ von Fr. Richard Hendrick, OFM
(Übersetzung: Google / P. Scherrer)

Ja, da ist Angst.
Ja, es gibt Isolation.
Ja, es gibt Panikkäufe.
Ja, es gibt Krankheit.
Ja, es gibt sogar den Tod.
Aber,
Sie sagen, dass sie in Wuhan nach so vielen Jahren des Lärms
die Vögel wieder singen hören.
Das sagen sie schon nach wenigen Wochen der Ruhe
Der Himmel ist nicht mehr dicht mit Dämpfen
Aber blau und grau und klar.
Das sagen sie in den Straßen von Assisi
Die Leute singen miteinander über die leeren Plätze,
ihre Fenster halten sie offen,
so dass diejenigen, die allein sind,
die Geräusche der Familie um sie herum hören können.
Sie sagen, dass ein Hotel im Westen Irlands
kostenlose Mahlzeiten und Lieferung an das Haus anbietet.
Heute ist eine junge Frau, die ich kenne
damit beschäftigt, Flugblätter mit ihrer Nummer in der Nachbarschaft zu verbreiten,
damit die Ältesten jemanden haben, den sie anrufen können.
Heute bereiten sich Kirchen, Synagogen, Moscheen und Tempel vor
den Obdachlosen, Kranken und Müden Schutz und Unterschlupf zu gewähren.
Überall auf der Welt werden die Menschen langsamer und reflektieren.
Überall auf der Welt betrachten Menschen ihre Nachbarn auf eine neue Art und Weise.
Überall auf der Welt erwachen Menschen zu einer neuen Realität.
Sie werden sich bewusst, wie groß wir wirklich sind,
wie wenig Kontrolle wir wirklich haben,
worauf es wirklich ankommt: Auf die Liebe.
Also beten wir und erinnern uns:
Ja, da ist Angst,
aber es muss keinen Hass geben.
Ja, es gibt Isolation,
aber es muss keine Einsamkeit geben.
Ja, es gibt Panikkäufe,
aber es muss keine Gemeinheit geben.
Ja, es gibt Krankheit,
aber es muss keine Seelenkrankheit geben
Ja, es gibt sogar den Tod,
aber es kann immer eine Wiedergeburt der Liebe geben.
Wach auf, entscheide dich, wie du jetzt leben willst.
Atme heute.
Höre hinter den Fabrikgeräuschen Ihrer Panik:
die Vögel singen wieder,
der Himmel klärt sich auf,
der Frühling steht vor der Tür,
und wir sind immer von Liebe umgeben.
Öffne die Fenster deiner Seele
Und obwohl du vielleicht nicht in der Lage bist
über den leeren Platz hinweg andere zu berühren,
Sing!

Quelle

Aufstieg in Frage gestellt

Eine Leiter ragt von der Chorstufe aus in den leeren Kirchenraum. Sie ist mit einem roten Seil am Altar befestigt, von ihm quasi gehalten. Auf ihren Sprossen sind mit Kabelbindern Küchenmesser festgebunden, die auf jeder Sprosse die Richtung wechseln. Ganz oben sind fünf farbige Ballone angebracht.

… es geht aufwärts … hat Hans Thomann seine Arbeit zur Fastenzeit 2020 betitelt. Er spielt damit auf einen Leitgedanken in unserer Gesellschaft an, der tief in unserer Leistungsgesellschaft verankert ist: Wachstum, grenzenloses Wachstum, es soll immer nur aufwärts gehen, alles nur besser werden. Wer nicht immer mehr, wer nicht immer höher hinaus will und mehr aus dem Leben herausholt, gilt schon mal als Spielverderber. Es ist doch erstrebenswert und so gewinnbringend, auf der Karriereleiter Sprosse um Sprosse hochzusteigen, um am Ende Spaß ohne Ende und schier grenzenlose Freiheit zu haben.

Doch die Messer auf den Sprossen erzählen etwas anderes und stellen ein solches Denken in Frage. Wer diese Leiter hochsteigen will, begibt sich auf einen gefährlichen Weg. Jeder Schritt wird einschneidende Konsequenzen haben, wenn er nicht mit Bedacht gemacht wird. Wer diese Leiter hochsteigen will, wird der Selbstverständlichkeit des Könnens beraubt. Er wird vor die Frage gestellt, ob es überhaupt möglich ist und wenn ja, ob es sich überhaupt lohnt. Was ist der Preis des Aufstiegs, mit welchen Mühen oder Gefahren ist er verbunden? Geht meine Karriere zu Lasten meiner Mitmenschen, der Natur oder gar meiner Gesundheit? Wer muss den Preis für meinen Aufstieg bezahlen?

Die Leiter führt zudem ins Leere. Sie lehnt oben nirgends an, sie endet im Nichts. Wo soll denn der stetige Aufstieg hinführen? Was ist das Ziel meines Tuns? Und nicht zuletzt ist die Leiter nur mit einem roten Seil gesichert, das wie ein seidener Faden am Altar befestigt ist. Wenn die Leiter zu stark belastet wird, kann das Seil reißen oder sich lösen.

Hier wird bildhaft die Gottverbundenheit zur Sprache gebracht und in Frage gestellt: Von was werde ich gehalten, was gibt mir die Kraft, wer gibt mir das Leben? Auf einmal ist die Leiter nicht mehr Mittel zum Zweck, sondern ein Symbol meiner selbst und die Messer werden zu Symbolen von einschneidenden Ereignissen in meinem Leben, von Hindernissen, die zu überwinden waren, von Verletzungen und Wunden. Sie sind mir auf meinem Lebensweg, in meinem Wachstum und in meiner Entwicklung zugefügt worden. Sie gehören zu mir, sind ein Teil von mir geworden.

Das vom Altar ausgehende rote Seil mutet wie eine verbindende Nabelschnur zu unserem Schöpfer an. Es kann für die haltgebende Liebe Gottes, für die alle Wunden heilende und Sünden vergebende Hingabe seines Sohnes und ebenso für die Führung und Kraft des Heiligen Geistes stehen.

Eindrücklich wird unser Denken, Verhalten und Glauben in Frage gestellt. Im Kontext der globalen Corona-Pandemie hat diese Arbeit geradezu prophetischen Charakter: Wir erfahren, wie klein und verletzlich wir sind. Wir erleben die Kehrseite und Grenzen unserer Fortschritte und Errungenschaften und stellen uns neu die Fragen: Wer leitet mich? Woran halte ich mich fest? Oder vielmehr: wer gibt mir den Halt und die Kraft dazu?

Flyer zur Ausstellung

Text und Bilder zur Installation in der Peterskapelle in Luzern

Heiliger (Frei-)Raum

Auf der Wiese neben der Michaelskirche in Gräfelfing bei München wurde mit Baumscheiben aus einem Pappelstamm ein großes lateinisches Kreuz ausgelegt. 13 x 3 Schreiben in der Länge, 9 x 3 Scheiben in der Breite. Seine Ausrichtung ist geostet. Dadurch liegt es nicht parallel zu den Grundstückgrenzen, sondern quer. So wird das Kreuz mit der aufgehenden Sonne verbunden und vermag auf eine andere, unsichtbare Wirklichkeit zu verweisen.

Die dünnen Baumscheiben künden zuerst aber von einem Baum, der über Jahrzehnte gelebt hat. In der Erde verwurzelt hat er seinen Halt gefunden, um hoch in den Himmel zu wachsen. Nun liegt sein Stamm in Scheiben geschnitten und als Kreuz ausgebreitet auf der Wiese, auf dem Boden. Man könnte meinen, dass alles Leben aus dem Holz gewichen ist und das Scheibenfeldkreuz nur noch vom Tod des einst stolzen Baumes und von den Qualen des Zersägens zu erzählen vermag.

Doch das Zusammenwirken von Erde und Himmel auf die sich im Zwischenraum Befindlichen geht weiter. Von der Erde stieg kontinuierlich die kühle Feuchtigkeit ins Holz, während vom Himmel abwechselnd Licht, mehr oder weniger große Wärme und Regen auf die Holzscheiben einwirkten. Zuerst wurde die Ringspannung so groß, dass eine Scheibe nach der anderen bis in die Mitte barst und einen V-förmigen Ausschnitt freigab. Dann begannen sich die Scheiben zu verbiegen und zu verformen. So kam neues Leben in das Holz. Es wurde gleichsam von außen dazu bewegt. Spielerisch, ohne menschliches Zutun. Sie erwecken den Eindruck eines Tanzes, als würden sie sich drehen.

Allerdings sind auch diese spannungsvollen Bewegungen begrenzt und vergänglich. Denn eines Tages werden die Scheiben entfernt und es wird nur die Zeichnung des Kreuzes im Gras übrigbleiben: gelblich weiße Grashalme, die nach Licht hungern. Und es wird wieder eine Weile dauern, dann werden auch diese Markierungen nur noch Erinnerung sein, weil wieder Gras darüber gewachsen ist.

Das mit Baumscheiben markierte Kreuz eröffnet somit einen Freiraum, der anschaulich anregt, über das Leben und die jeder Zeit eigene Schönheit nachzudenken. In den Bewegungen des Wachsens und Vergehens wird die Vergänglichkeit sichtbar und in ihrer Einzigartigkeit kostbar und schön. Unsichtbar vermag die Kreuzform zudem auf die Kraft von Glaube, Hoffnung und Liebe in unserm Leben hinzuweisen: auf die göttlichen Ressourcen, in allen Situationen des Lebens das Gute und damit das Heilige zu suchen und darin zu bestehen. Über die Zeit und die Vergänglichkeit hinaus … in IHM … und in Ewigkeit.

Diese Arbeit 2018 ist im Rahmen der Ausstellung Glaube – Hoffnung – Liebe. Kunst an sakralen Orten bei der Michaelskirche in Gräfelfing bei München entstanden. Hier finden Sie umfassende Informationen zur Ausstellung.

Bittere Wahrheit

Von weitem meint man ein kleines Aquarium vor sich zu haben, Algen, die im Wasser schwimmen, sich an festem Gestein festhalten. Doch was wie ein Stück heile Unterwasserwelt präsentiert wird, entpuppt sich beim Erkennen aller Details als eine Ansammlung von Abfall, als ein buntes Arrangement unterschiedlichster Plastikteile.

Sie entstammen einer zufälligen „Müllsammlung“ zwischen zwitschernden Vögeln, die der Künstler letztes Jahr im Naturschutzgebiet „Pegwell Bay“ an der Küste Südost-Englands spontan bei einem Spaziergang gemacht hat. Auf eine naturwissenschaftliche Ausstellungspraxis verweisend nutzt er ein Präparateglas zur Präsentation. Er hat eingeschlossen, was in den Meeren frei herumschwimmt und sich über Jahrzehnte und -hunderte in kleinste Bestandteile zersetzt. Die konservatorische Funktion des Präparateglases spielt auf dieses lange Verweilen im Meer an. Die angedeutete Unterwasserpflanze referiert mit der Verwechslung der Tiere, im Plastik Nahrung zu finden. Die heruntergewürgten Plastikteile bleiben unverdaut in ihren Mägen liegen, verstopfen sie und lassen die Tiere qualvoll an Hunger sterben.

Die Arbeit hinterfragt unsere Verwendung von Plastik als universellem Kunststoff. Als Werkstoff, der fast alle Formen annehmen kann, relativ billig, leicht und langlebig ist. Die Arbeit ist nach Sagert „ein Objekt wissenschaftlicher Evidenz, durch welches dem Zustand der mit Plastik verschmutzen Strände eine Repräsentation im kollektiven Gedächtnis gegeben wird.“ Die Arbeit regt darüber hinaus zum Nachdenken über unseren Umgang mit Kunststoff und Plastik an.

Denn Plastik ist zwischenzeitlich allgegenwärtig. Wir benutzen ihn und entsorgen ihn an allen Ecken und Enden. Die größeren, kleineren und winzigen Plastikteile gelangen dadurch weltweit ins Wasser und den Lebenskreislauf, wo sie großen Schaden verursachen. Plastik ist längst ein globales Problem, bei dem Segen und Fluch sehr nahe beieinander liegen. Es ist so praktisch und anpassungsfähig, dass es nicht mehr aus unserem Alltag wegzudenken ist. Der vielgestaltige plastische Kunststoff hat unser Lebensumfeld in den letzten Jahrzehnten vollständig verändert. Dabei dringt er über die Nahrungsmittelkette und die Luftverschmutzung auch vermehrt in unsere Körper ein und verursacht Krankheiten. Plastik lässt sich in der heutigen Zeit kaum noch wegdenken oder begrenzen. Es hat längst zusammen mit anderen Faktoren eine beherrschende und bedrohliche Position eingenommen. Wir Menschen gehen immer noch zu leichtfertig mit diesem „Alleskönner-Material“ um, obwohl wir bereits wissen, dass die Folgen für alle Lebewesen schwerwiegend sein werden und uns alle teuer zu stehen kommen.

So gesehen ist die vorgestellte Arbeit ästhetisch viel zu schön. Das „Problem“ wurde handlich verpackt, eingesperrt und damit „besiegt“. Das Präparateglas ist fast zu niedlich, um die bittere Wahrheit zu vermitteln, dass der Plastikmüll längst außer Kontrolle geraten ist und wir die durch ihn angerichteten Schäden nicht mehr im Griff haben. Um richtig aufzurütteln, bräuchte es wahrscheinlich raumgreifende Installationen, bei denen die Besucher förmlich im Plastikmüll untergehen müssten, um seine Bedrohung angemessen wahrzunehmen.

Trotzdem wird ein Umdenken und Einsicht angeregt, die hoffentlich in eine Umkehr einmünden, in ein verändertes, verantwortungsvolles Handeln gegenüber unserer Umwelt und unseren Mitmenschen, das letztlich auch uns selbst zu Gute kommt. Dies könnte sich in einem sensibilisierten Umgang mit dem Werkstoff „Plastik“ zeigen, bei dem Plastik wo immer möglich vermieden und wo immer nötig sparsam mit ihm umgegangen und das Material danach ressourcenorientiert einer Wiederverwertung zugeführt wird. Der wegweisende Satz aus dem 3. Buch Mose (Lev 19,18)  „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“, der auch von Jesus wiederholt aufgegriffen wurde, erhält dann eine ganz neue Dimension und Aktualität.

Standortbestimmung

Unwirklich zerreißt das lilafarbene Element die mit roten Strichen fein strukturierte Fläche. Die Schatten an seinen Rändern wirken bedrohlich dunkel und unheilvoll. Die rote Intensivierung auf der anderen Seite lässt wiederum an schmerzhaft entzündete Wundränder denken. Die Schattierungen suggerieren einen Absatz, eine Tiefe oder auch ein Dahinter – auf jeden Fall eine andere, durchaus auch geheimnisvolle Ebene, weil sie sich nicht gleich erschließt. Die ungleichen „Bruchkanten“ oder die Ränder des „Risses“, die nicht „zusammenpassen“, tragen das ihre dazu bei.

Beidseits dieses lilafarbenen Elements breiten sich Flächen mit intensiver roter Schraffur aus. In den unteren zwei Dritteln ist die Struktur durch die Zweifarbigkeit ruhiger als oben gestaltet, besitzt aber wegen der Verdichtung im unteren Bereich dennoch aufstrebenden Charakter. Dazu trägt auch der helle Saum ganz unten und der größere Weißanteil am oberen Rand bei. Die Fläche oberhalb des lila Streifens ist durch einen dichten gelblich-roten Bereich intensiver als unten gestaltet. Dadurch wirkt er im Vergleich zu seinem Pendant unten wärmer und stärker.

Was sich uns beim Betrachten eines digitales Abbildes entzieht, ist die Tatsache, dass die roten Striche, welche das ganze Bild wie eine Textur überziehen, im Original nicht additiv, also durch Hinzufügen von Farbe, sondern durch Abkratzen von Farbe entstanden sind. Mit einem Messer hat die Künstlerin die oberflächliche Farbschicht aus Ölpastell weggeschabt, damit die rote Grundierung aus Acryl, welche auch den Rand der Arbeit bildet, wieder zum Vorschein kommt.

Reinhild Gerum hat mit dieser Technik in den letzten 15 Jahren über 170 Blätter gestaltet. Sie hat damit wenige Tage nach dem Attentat auf die Twin Towers in New York angefangen. Sie schreibt dazu: „Der Vorgang dieses Abkratzens ist zerstörerisch, andererseits gelingt es nur auf diese Weise, das Rot, welches Kraft und Energie pur spüren lässt, zum Vorschein zu bringen. Rot als Farbe der Auflehnung gegen die Schreckstarre, die damals rundum wahrzunehmen war. Es ging in dieser Situation der Verwirrung und Verunsicherung um die Bestimmung der persönlichen Lage, die täglich mit der Auswahl der Farben auszuloten war.“ (Reinhild Gerum, Zeichnung und Installation, 2012, S. 54)

Der Bedrohung und Verunsicherung stellt die Künstlerin die Standortbestimmungen gegenüber. Immer und immer wieder. Erinnernd, fragend, ins Heute vergegenwärtigend: Wo stehe ich? Wo befinde ich mich aktuell? Wo will ich hin? Die Serie der Standortbestimmungen bildet die Notwendigkeit ab, immer wieder innezuhalten, sich selbst auszuloten und seine Mitte zu finden. Sie motiviert, sich mit der Gegenwart und ihren vielfältigen Anforderungen auseinanderzusetzen, um sich selbst und das Ziel nicht aus den Augen zu verlieren. Gerade wenn Erschütterung und Verwirrung, Zerstörung und Angst drohen uns handlungsunfähig zu machen. Die Bilder ermutigen, sich mit Brüchen und Wunden in unserem Leben auseinanderzusetzen und erstarkt aus ihnen herauszugehen.

Glaubenszeugnis

Das Bildgeschehen gruppiert sich um eine breite rötliche Senkrechte, auf der im oberen Drittel der Gekreuzigte schwebt. Er ist vom Kreuzbalken abgenommen und wird optisch nur von diesem starken Band gehalten, das für die Liebe Gottes steht, die bis in die menschlichen Abgründe geht und dort mit den Menschen leidet (violette Verfärbung am unteren Ende). Dadurch und in Verbindung mit dem Holz des Corpus Christi ist das Leiden durchaus gegenwärtig. Viel stärker jedoch wirken durch die Abwesenheit des Kreuzes, die Freistellung der Hände und die erhöhte Position der Skulptur die Auferstehung und die Himmelfahrt Jesu auf den Betrachter.

Im gelben Licht wird seine Himmelfahrt von Engeln begleitet. Sie schweben auf der intensiv-roten Linie, die von ganz unten in die Höhe führt und durch ihr Pendant diagonal gegenüber (links neben Jesus) auch mit Gott Vater in Verbindung gebracht werden darf, der seinen Sohn von den Toten auferweckt und zu sich geholt hat. Die Gestalt der gelben Fläche lässt zudem an einen Baum, durch Jesus an einen goldenen Lebensbaum denken oder auch an einen Kelch, in dem sein Blut aufgefangen und zu seinem Gedächtnis und zur Vergebung der Sünden zum Trinken gegeben wird.

Von Jesus, der seinen Kopf den Engeln zuneigt, geht die Bildbewegung über die Engel auf der Zwischenhöhe auf die andere Seite hinunter zu den Menschen. Das waagrechte Element dieser Figurengruppe bildet das Gegengewicht zum Geschehen auf der anderen Seite. In Blau gemalt bedeutet, in der Farbe des Glaubens dargestellt zu sein, des Wassers, in dem sie getauft wurden, dem Himmel, in den Jesus sie aufzunehmen versprochen hat. Sie sind als Pilgernde unterwegs, als Menschen auf dem Weg zu Gott, bereit in seinen Strahl der Liebe einzutreten, von seiner Barmherzigkeit umarmt und wie Christus erhoben zu werden. Spiegelbild der im Kirchenraum versammelten Gemeinde.

Dieses Bildgeschehen richtet auf und ermutigt. Es gibt die Bewegung der Auferstehung und Himmelfahrt Jesu wieder, in der er ganz der den Menschen Zugewandte bleibt und ihre Sehnsüchte aufnimmt. Es ist kein endgültiges Entschwinden oder sich Verabschieden, sondern die Wandlung seiner Gegenwart durch die Kraft des Heiligen Geistes. Dieser ist im Bild nicht explizit zu sehen, aber in der von Jesus ausgehenden Abwärtsbewegung, welche in die vertikale Menschengruppe einmündet, spürbar am wirken.

Im Weiteren macht die Bildkomposition deutlich, dass Gott in seiner unverbrüchlichen Liebe hinter seinem Sohn steht … und auch hinter allen Menschen, die an ihn glauben (Gesamtansicht).

Zahlreiche weitere Arbeiten in Kirchen finden sich im Buch Zeitgemäße Wand- und Deckenfassungen für Sakralbauten, Kunstverlag Josef Fink, Lindenberg, 2015, 304 Stein, > 350 Abb., 19,80 Euro.

Der rote Faden ist gelegt …

Die alten Mythen enthalten zentrale Aussagen über die Menschheit. Das Bild des Minotaurus von Christian Lippuner ist auf einer so tiefen Ebene anrührend, dass man es nur anschauen braucht – es ist alles drin. Obwohl nur ein „Portrait“, keine Ganzkörper-Darstellung – auf irgendeine geniale Art und Weise vermittelt es die ganze Tragik dieses Halb-Tier- und Halb-Mensch-Wesens. Dieser Stierkopf hat etwas Menschliches und unendlich Trauriges.

Ins Leben gerufen durch ein Schicksalsverhängnis, die Rache der Götter, durch einen Ehebruch seiner Mutter; dazu verdammt, eine menschenfressende Bestie zu sein, allein in einer Höhle zu leben … was für ein schlimmes Schicksal. Er hat nichts dazu getan. Gäbe es ein liebendes Wesen, das sich ihm nähert, müsste er es auffressen, zerstören.

Dann kommt einer, dringt zu ihm vor, mit einem Fadenknäuel und einem Schwert bewaffnet, aber nur, um ihn zu töten … Er ist blass, der Lippuner – Minotaurus, und sieht nicht aus wie kampfbereit. Eines seiner Hörner ist abgedreht. Sein Kampfesmut ist schon gesunken, er weiß, dass seine Tage gezählt sind. Vielleicht froh, bald von sich selbst befreit zu werden, aus dieser Verschlingung ins Verhängnis, in der er gefangen ist … Verschlingung ist hier sein Wesen.

Das waren spontan meine Gedanken, als ich ihn sah … verwundert! Aber auf den zweiten Blick verstehend … eine Metapher für die Menschheit?

Die Gier nach Liebe, nach dem Lebendigen, die im Mythos vom Minotaurus spricht, macht ihn zum Opfer seiner selbst. Am Ende steht er, mächtig aber verlassen, in der dunklen Höhle am Ende des Labyrinths. Und wird selbst getötet. Gibt das nicht die beste Metapher ab? Der Mensch ist so mächtig, dass er alle „Feinde“ beseitigen kann. Aber welchen Sinn hat das? Die Gewalt richtet sich am Ende gegen sich selbst, erschafft genau das, was sie am meisten fürchtet: die Einsamkeit, den Tod. Was für ein trauriges, verzweifeltes Wesen ist dieser Minotaurus! Ein Zwitterwesen, so in die Welt geworfen, kennt sich selbst nicht, muss auf immer seine Triebe ausleben …

Der Befreier kommt von außen, der Mensch! Er will dieses destruktive Triebwesen (in sich?) abtöten. Er findet aus dem Labyrinth heraus mit dem roten Faden der Liebe. Die Liebe ist das, was uns aus dieser elenden, gewalttätigen Existenz den Ausweg gibt. Aber das (gegenseitige und selbstige) Töten muss ein Ende haben. Das ist der Unterschied zwischen dem Helden im Altertum und dem Heute: Denn inzwischen ist der Christus in die Welt gekommen …Christus lehrt die bedingungslose Liebe und das Vergeben. Auge um Auge, Zahn um Zahn – das ist vorüber.

Ja, über das Töten und Abtöten (auch unserer eigenen Schattenseiten) müssen wir hinauskommen. Denn im Grunde sind all diese Kräfte, auch die scheinbar bösen, ein Zugang zum Lebendigen, wenn man sie nur richtig nutzt: Zerstörung des „Feindes“ ist der Versuch, sich das Lebendige einzuverleiben, das kann heute auf die geistige Ebene verlagert werden. Wut ist gut, sie enthält viel kreatives Potential. Hass will im Grunde Liebe, er entsteht aus Ohnmacht. Konkurrenzstreben offenbart das Streben nach Vollkommenheit … usw. Das alles sind doch Energien, und wir wissen heute genug über die menschliche Seele, um uns diese Energien nutzbar machen zu können. Christus hat uns übrigens aufgezeigt, wie wir da hinkommen können.

Der Minotaurus ist schon überwunden. Der rote Faden ist gelegt. Wie in vielen alten Märchen, in denen Verwandlung stattfindet (z.B. „Die Schöne und das Biest“) muss nur eine/r kommen, die/der die Abscheu und Furcht überwindet. Dann kann der verwünschte Tier-Mensch entzaubert werden.

Aufforderung zu retten

Aus der Ferne ist das Kunstwerk ein Rettungsring, wie man ihn überall an den Ufern von Gewässern an Pfosten oder Hauswänden hängen sieht. Weit leuchtet seine signalrote Farbe, vierfach unterbrochen von breiten weißen Streifen, normalerweise in der Diagonale. Ringsum ein Seil, um sich besser daran festhalten zu können.

Aus der Nähe betrachtet entpuppt sich der vermeintliche Rettungsring als eine eingefärbte Stacheldrahtrolle, ironischerweise mit Verbandmull zusammengebunden. Wer ihn anfasst, verletzt sich, wer sich an seinen Seilen festhalten will, geht mit ihm unter. Denn dieser Ring ist bleischwer, er hat weder Schwimm- noch Tragvermögen, sondern zieht mit seinem Gewicht in die Tiefe.

So erinnert das Kunstwerk an die unzähligen Flüchtlinge aus Afrika und dem Nahen Osten, deren Boot kenterte und seinen Passagieren in den Wellen und Stürmen des Mittelmeers den Tod brachte. Es erinnert an all jene Flüchtlinge, die aus Seenot gerettet worden sind, nun aber, wie alle Flüchtlinge, die das rettende Ufer erreicht haben, die Stacheln der Behörden und viel Unmut und Unverständnis der Bevölkerung spüren.

Dieser Rettungsring symbolisiert eine trügerische Sicherheit. Der Ring wird nicht verwendet, um Menschen in Seenot zu retten, sondern um sich vor ihnen zu schützen, sie abzuwehren. Manchen Europäern kommt das Mittelmeer als großer Wassergraben der „Festung Europa“ sehr gelegen, sonst wären es noch mehr Überlaufer, noch mehr Flüchtlinge, die kommen würden, noch mehr Asylgesuche.

Eine leichte Drehung um 45 Grad brachte die weißen Bereiche eines Rettungsringes zudem in eine waagrechte und senkrechte Ausrichtung, so dass in ihnen ein Kreuz gesehen werden kann. Auch Assoziationen zum Heiligenschein von Jesus werden dadurch geweckt, da dieser sich mit der Kreuzform von den Heiligenscheinen anderer Heiliger abhebt, um an seinen Kreuzestod zu erinnern. Doch dieser Kreis umgibt keinen Kopf. Er ist leer in der Mitte. Dieser Rettungsring hat keine Verdienste, hat niemandem Heil gebracht, er ist scheinheilig.

Die Arbeit appelliert eindrücklich an unsere Hilfsbereitschaft und Menschenfreundlichkeit. Wir sollen die Grenzen nicht zu eng ziehen in unserer Angst und Sorge um unser eigenes Wohl. Der „Rettungsring“ von Nikodemus Löffl zeigt, wie wenig es braucht, um eine Idee, ein Verhalten ins Gegenteil kippen zu lassen. Ins Negative, aber auch ins Positive. Denn dieser „Negativ-Rettungsring“ ermutigt, wo und wem auch immer, der in Not ist, richtige, tragfähige Rettungsringe zuzuwerfen: „Rettungsringe“ in Form von Haltungen und Verhalten von uns, die sie aus der Verlorenheit der See in die Gemeinschaft zurückholen, die ihnen wieder festen Boden unter den Füßen schenken. Hilfeleistungen, die sie von Hunger und Durst, Kälte und Nässe erlösen.

Letztlich geht es um unsere Herzlichkeit, die ihnen über die temporäre Zuwendung und Anteilnahme hinaus Geborgenheit und eine neue Heimat schenkt. – Einen rettenden Ring herzlicher Wärme. Ganz in der Nachfolge Jesu, der uns durch sein Verhalten deutlich gezeigt hat, wie Gott jeden von uns grenzenlos liebt und in dieser Liebe umgibt und trägt.

Gesehen und geliebt

Das abstrakte Bild lädt ein, über die hellblauen Flächigen in den Randbereichen betreten zu werden. Denn in der Mitte befindet sich eine weiß-gelbe Lichtung, außen herum bandförmige Elemente, die diesen Bereich mal geordnet wie ein Zaun mal in chaotischem Durcheinander umgeben. Es ist nicht klar, ob diese Elemente eine schützende Funktion haben oder von der Lichtung selbst verursacht wurden. Nur von unten her scheint ein Zugang zu diesem zentralen Bereich möglich zu sein, der wie eine Öffnung auf eine andere, dahinter, darunter oder darüber liegende Wirklichkeit verweist.

Die verschiedenen Elemente bilden kraftvolle Kontraste zueinander. Auch die fünf dunkelblauen Flächen, die sich im Kreis um die weiß-gelbe Lichtung gruppieren, gehören dazu. Sie stehen lebendig miteinander im Dialog und bilden sowohl Bereiche spannungsvoller, ja fast explosiver Dynamik als auch Zonen der Ruhe und Entspannung.

Je länger man schaut, vermag man jedoch auch ein großes, formatfüllendes Auge zu entdecken, das nach rechts schaut. Das weiße Zentrum gibt dann die Linse wieder, die Bänder außen herum die Wimpern. Inmitten der hellblauen Farbe, die an einen klaren Himmel erinnert, entwickelt sich das Auge dann zu einem Himmelsauge, einer Öffnung im Himmel, aus der groß und aufmerksam in unsere geschaffene Welt hineingeschaut wird.

Diese Beobachtung eröffnet ganz neue Assoziationen. Dieses Gesehen-Werden bedeutet, dass ich nie allein bin. Da ist jemand, der mich sieht, im positiven Sinn ein Auge auf mich hat und über mich wacht. Wenn jemand so etwas macht, dann muss ich ihm oder ihr viel bedeuten, er oder sie mich sehr schätzen, gern haben oder lieben. Vom Himmel her gesehen zu werden bedeutet dann, dass Gott mich sieht. Er hat sein Auge auf mich geworfen, weil er mich liebt, weil ich ihm viel bedeute und in seinen Augen wertvoll bin. So wie er nach der Taufe Jesu zu allen gesagt hat: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe.“ (Mt 3,17) Der Evangelist Lukas verwendet anstelle des Wortes „geliebter Sohn“ „auserwählter Sohn“ (Lk 9,35). Denn wer geliebt wird, ist auch auserwählt.

Die moderne Interpretation des Auges Gottes erinnert uns an die Gegenwart Gottes. In seiner Liebe zu mir ist er in meinen Beziehungskreis getreten, hat er sich mir genähert, sich meiner angenommen und mich mit Gnade beschenkt („begnadigt“). Er lässt „sein Angesicht über mir leuchten“ (vgl. Num 6,24-26), um mich zu beschützen und darauf zu achten, dass mir kein Unheil geschieht. Dass Gott mich auserwählt und ein Auge für mich hat, bedeutet auch, dass er für das richtige Verständnis und Urteilsvermögen für mich hat. Ich kann mich ihm anvertrauen, mich ihm ganz überlassen und ihn machen lassen. Denn er hat ein gutes Auge (und Herz) für mich.

Umgekehrt schenken sein gütiger Blick und seine Wahl mir Geborgenheit und Gewissheit, im Tode ihn zu schauen, ja in die Augen schauen zu dürfen und ihm für seine unendliche Liebe danken zu können. Die helle Lichtung im Hellblau des Bildes ist diesbezüglich ein Lichtblick, der hoffen lässt und Sehnsucht weckt.

Vernagelte Schrift

Hinter einem „Gitter“ von geknickten Nägeln zeichnet sich eine graue Handschrift auf der hellen Leinwand ab. Von Hand geschriebene Sätze, denen die Zahlen 43 und 44 vorangestellt sind und weitere Zahlen und Buchstabenabkürzungen folgen, sind mit langen Nägeln zugenagelt worden.

Der Umstand, dass kein Nagel in die Schrift geschlagen, sondern stets daneben angesetzt wurde, zeugt von einem Respekt vor der Autorität dieses Wortes. Erst in einem zweiten Schritt wurden die Nägel kreuz und quer über den Text gebeugt, so dass alle zusammen eine harte Gegenschrift aus Metall bilden, die sich wie ein Maschenzaun über das geschriebene Wort legt. Meistens bilden zwei Nägel zusammen ein X, als wollten sie die lebendige Schrift durchstreichen, unkenntlich machen, damit ihr Inhalt nicht wie ein Virus in die Köpfe und Herzen der Betrachter hinüberspringt.

Was steht denn geschrieben, dass die Worte auf so wenig Gegenliebe stoßen und versucht wird, sie zu beschmutzen – so könnten die schwarzen fleckenartigen Erscheinungen gelesen werden – oder sie sich wie durch ein Gitter vom Leibe zu halten?

43 „Ihr habt gehört, daß gesagt ist, „Du sollst deinen Nächsten lieben“ (3. Mose 19,18) und deinen Feind hassen.
44 Ich aber sage euch: „Liebt eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“ 2. Mose 23,4.5 ; Lk 6,27.28 . a Röm 12,14.20 b Lk 23.34; Mt 5,43; Apg 7,60

Dieser Satz stammt aus der Bergpredigt (Mt 5-7), wie er von Matthäus im 5. Kapitel seines Evangeliums überliefert wird. Jesus richtet die Worte an seine Jünger und alle, die sich um ihn versammelt hatten, um zu hören, weil er nicht wie einer ihrer Schriftgelehrten lehrte, sondern mit einer ungewöhnlichen Autorität. Aufbauend auf die herkömmliche Unterweisung lehrte er sie die neue Gerechtigkeit der Kinder Gottes, also eine neue, zum Teil bis dahin als unehrenhaft geltende Form des Zusammenlebens. In seinen Sätzen ist eine Sprengkraft, die für viele unbequem, herausfordernd, vielleicht sogar so überfordernd ist, dass sie sich wünschen, die Worte Jesu nie gehört zu haben.

Die guten Menschen lieben – ja! Aber diejenigen, die einem Böses wollen, das geht zu weit. Doch Jesus setzt noch eins oben drauf: Bittet auch für diese Menschen, die euch verfolgen! – Haben nicht gerade sie unser Gebet nötig, damit sie Einsicht und Kraft erhalten, von ihrem Tun zu lassen, umzukehren und gute Menschen zu werden?

Der Künstler hat die zwei Sätze mit Anführungs- und Schlusszeichen als direkte Rede hervorgehoben. Mit dem Du richtet sich Jesus zeitlos auch an uns als Betrachter: „DU sollst deinen Nächsten lieben“, „Liebt [ihr] eure Feinde und bittet für die, die euch verfolgen“.

Der über diese Worte gebeugte Nagelteppich lässt die Gewalt der Hammer-Schläge und den Druck der Mächtigen spüren, mit dem sie Menschen bedrängen, belasten und in die Knie zwingen. Der von Jesus angesprochene Feind und die bedrängende Verfolgung kommen im Symbol der gekrümmten Nägeln auf einmal beängstigend nah und machen die Überwindung erfahrbar, die es braucht, den zu lieben und für den zu beten, der mir das Leben schwer macht.

Unfassbar

In diesem non-figurativen Glasfenster scheint alles in Bewegung zu sein, sich alles um das dunkelrote Zentrum in zweidrittel Höhe zu drehen. Während sich die eine Kreisbewegung von unten rechts her zum Kreis hin fokussiert, geht die Bewegung im obersten Drittel eher von diesem dunkelroten Blickfang aus nach links oben. Spiralförmig verschleudert dieses rote Kraftzentrum seine Energie, scheint sie in den unzähligen goldgelben Teilen in die unendliche Weite des Universums hinauszuschleudern. Verschwenderische Fülle wird spürbar.

Neben der eindrücklichen Drehbewegung prägen ein helles Rot und goldenes Gelb dieses Glasfenster. Das helle Rot mag an helles Blut erinnern, das vom Herzen aus durch die Arterien sauerstoffreich den menschlichen Körper mit Lebenskraft versorgt. Christologisch gesehen kann es auch als das Blut Christi gesehen werden. Weil er uns Menschen unendlich liebte, konnte er sein Leben für unseres hingeben, konnte er uns mit dem Preis seines göttlichen Lebens von freiheitsberaubenden Gebundenheiten freikaufen. In jeder Eucharistiefeier wird dieses Ereignis neu Gegenwart, soll die Liebe Gottes spürbar und wirksam wie aufstrahlendes Licht in der Dunkelheit unser Leben existentiell verändern. Dies kommt auch in der das helle Rot begleitenden goldgelben Farbe zum Ausdruck, die mit ihrer Symbolik „für das allumfassende Göttliche, für Geborgenheit und Wärme“ (Nestler) steht. Wie ein segensreicher Blätterregen schweben die goldfarbenen Elemente in das Kirchenschiff hinein und über die Gläubigen. Sie mit göttlichem Licht segnend, von innen her stärkend, erfüllend und miteinander durch seine Präsenz verbindend (Ansicht von unten mit gleichen Farben).

Dieses Licht- und Farbenspiel wird von weißen Lichtfeldern durchsetzt, die im untersten Bereich auch strahlenförmig wahrnehmbar sind. Wie Wolkenfetzen überlagern sie die göttliche Schau und verdecken sie teilweise. So wird wohl viel vom ewigen Licht und dem, was es beinhaltet, sichtbar, aber die ganze Fülle kann noch nicht gesehen oder sinnlich erfahren werden. Ein Wehmutstropfen bleibt. Noch leben wir hier auf Erden in materieller Umgebung und vergänglichem Körper. Was bleibt, ist die Sehnsucht und Hoffnung nach der immateriellen, seelischen Heimat bei dem Dem, der das Leben selbst ist.

Dieser mehrschichtigen Botschaft wird auch durch den außerordentlichen Aufbau des Glasfensters Gestalt verliehen. In vier Schichten und unterschiedlichen Techniken sind die Farben und Formen kunstreich auf das Glas gebracht worden. Um ihre Schönheit und Farben in ihrer Fülle zu erfassen, muss sich der Betrachter selbst in Bewegung setzen. Erst durch die verschiedenen Blickwinkel werden sich die gesehenen Fragmente vor dem geistigen Auge zu einem immer wirklichkeitsnäheren Bild zusammenfügen. Auch ist das Glas nicht in das bestehende Maßwerk eingesetzt (Außenansicht), sondern als eigenständige Fläche etwa 30 cm vor das Fenster in den Kirchenraum gehängt. Dadurch verliert das in der Fachsprache sogenannte „Lichtmaß“ als Ausschnitt der Architektur an Bedeutung. Während oben das auf dem Glas wiederholte Maßwerk noch dominierend ist, löst sich im und durch das Fenster die filigrane gotische Architektur nach unten immer mehr auf und ist letztlich nur noch als Schatten wahrnehmbar. So „weitet sich das durch die Architektur begrenzte Licht zu einem neuen grenzenlosen Raum“ (Nestler), setzt sich das sinnlich wahrnehmbare Licht als unfassbares göttliches Licht in den Gläubigen fort.

 

Bernd Nestler hat mit diesem Fenster Anfang 2011 unter 285 Mitbewerbern einen international ausgeschriebenen Wettbewerb gewonnen, bei dem es darum ging, zum 450-jährigen Bistumsjubiläum ein Fenster zu schaffen, das die Möglichkeiten der heutigen Glasmalerei nutzt, um der Glaskunst im 21. Jahrhundert neue Impulse zu geben. Herzliche Gratulation!