Den Tod vor Augen

In kräftigem Orange ragt die Glasscheibe aus dem kleinen Steinsockel in die Höhe. Vom intensiven Farbton wie den ungeschützten Kanten, die links und oben gebrochen scheinen, geht eine Warnung aus: Achtung, was du hier siehst, ist mit Vorsicht zu genießen! Du kannst dich hier verletzen, das hier kann dir weh tun. Die geradezu aggressive Farbe möchte vielleicht auch bewirken, dass sich die zentrale Botschaft der Glasstele so in unser Gedächtnis einbrennt, dass wir sie nicht so schnell vergessen.

In der Mitte der Glasscheibe schaut uns eine mit schwarzen Strichen skizzierte menschliche Gestalt an. Sie macht einen ausgemergelten, bis auf die Knochen abgemagerten Eindruck. Doch der Mensch steht – oder schreitet er sogar? Mit schelmischem Grinsen schaut er uns über den Rücken an. Doch den Blick in seine Augen gibt er nicht preis. Es ist, als trüge er eine Sonnenbrille. Aber die nackte Schädelform lässt eher vermuten, dass es sich um die Schatten leerer Augenhöhlen handelt.

Der hier in das endlos Glühende hineinschreitet, ist ein Toter, ja es muss der personifizierte Tod selbst sein, wie er sich aufrecht in der Farbfläche manifestiert. Als modernes Memento mori erinnert es an unsere eigene Abhängigkeit, an unsere eigene Vergänglichkeit. Es erinnert uns daran, dass wir trotz unserer Genialität sterbliche Wesen sind. Unser ganzes Leben geht uns der Tod voran, wohl wissend, dass wir ihm folgen, ja folgen müssen, auch wenn wir ihn durch unsere Willenskraft über große Zeitspannen zu verdrängen wissen. Doch eines Tages wird er sich umdrehen, Halt gebieten und uns mit dem eigenen Tod konfrontieren.

Das Memento mori ist wie andere Gedächtnisorte in unserer Gesellschaft (Gräber, Statuen berühmter Menschen, etc.) aus einem Bildwerk, einem Sockel und einer Texttafel aufgebaut.

In der Mitte der knappen Granithalterung fällt eine halbrunde Vertiefung auf, die wie eine Rinne die Farbe der Glasstele zu sammeln und über die Texttafel mit der Inschrift „Ihr Bild vom Bild im Kopf“ zum Betrachter hin zu leiten scheint. Damit wird der Betrachter verstärkt zum Nachdenken gebracht. Wenn uns eines Tages die Lebensenergie verlässt und der körperliche Halt genommen wird, dann hat uns das „verdrängte Abbild“ unserer Zukunft eingeholt. Wir wissen nicht, wie der Tod genau sein wird. Aber wir wissen, dass er mit dem Verlust der ganzen Lebensfülle einhergeht, dass er in Sekundenschnelle kommen kann oder sich langsam und besitzergreifend nähert. Deshalb verdrängen wir die bildliche Vorstellung des Todes, diesen Verlust von allem, was wir haben.

Was uns bleiben kann, ist nicht Gewissheit, aber doch die starke Hoffnung, dass dieses Ende nicht absolut ist, sondern eine – zwar unvorstellbare – Umwandlung in eine andere Daseinsform. Wer es wagt, um die Stele herumzugehen und sie von der anderen Seite anzuschauen, wird den Tod in einem ganz anderen Licht entdecken. Das Licht mag zwar fahl erscheinen und an ein Leichentuch erinnern. Im Gegensatz zur Vorderseite, die das pralle, uns bekannte Leben zu versinnbildlichen vermag, lässt die jenseitige Opakbeschichtung mit ihrer weiß-rosa Farbe einen Blick über den Tod hinaus zu, hinein in das Geheimnis, das uns in unserer größten Armut nicht aufgibt oder verlässt.