Innewohnen

Das eine:
groß, transparent
gerüstartig durchlässig
ein Haus andeutend,
mehr Überbau als Umbau
mit Eckpunkten luftigen Freiraum umfassend
eine Trägerkonstruktion mit Flecken
Patina, Zeitspuren

und doch …
geerdete Basis
schützende Behausung
mannshohes Gegenüber
atmender Umraum
das Kostbare im Innern bergend
Zugang gewährend
Aufbau ermöglichend

Das andere:
kleiner, unzugänglich umwandet
golden leuchtend
unangepasst schräg stehend
beinahe aneckend
fremd in vertrautem Raum
getragen in der Tiefe des Seins
ein erratischer Block?

und doch …
einfach da und kostbar
wie ein Schrein
das Heilige bewahrend
zum Himmel weisend
geheimnisvolle Präsenz
verborgene Gegenwart
überzeitliche Vollendung

Haus im Haus
Einhausung im Zeitlichen
Innewohnen des Göttlichen
goldene Mitte im Irdischen
Er hat sich klein gemacht
um uns groß zu machen
Ihn im Innern tragend
meinem Haus zum Segen

Schätze im Himmel

Der kompakte, aufgerichtete Figurenblock gibt sich in seiner menschenartig abstrahierten Gestalt verschlossen und unnahbar. Mit geöffneter Front jedoch stellt er sein reiches und feingliedriges Innenleben zur Schau. Die Mitte bildet ein hoher, spitzer Turm, der an die immer höher werdenden Wolkenkratzer dieser Welt erinnert. In den seitlichen Nischen befinden sich vier stilisierte „Heiligen“-Figuren in Turm-Kleidern und mit aufgetürmtem Kopfschmuck. Ihre phantasievollen Gewänder greifen die Formensprache des Turmes auf als wäre er das große Idol ihres Daseins.

„Hack nimmt hier deutlich Bezug auf die mittelalterliche Tradition der Wandelaltäre, die an Festtagen geöffnet wurden und den Blick auf das Heilsgeschehen frei gaben, also durch einen Wechsel von Verbergen und Erscheinung das religiöse Staunen steigerten. Mit dem Unterschied, dass hier nun anstelle des christlichen Heilsgeschehens der Turm zu Babel als Menetekel menschlicher Vermessenheit, als Sinnbild der Selbstvergötterung erscheint. Der autonome Mensch wird selbst zum Schrein, in dessen Innerem verborgen er sein Babel trägt. Von Zeit zu Zeit stellt er es Ehrfurcht gebietend zur Schau. „ (Dr. Barbara Renftle in: getürmt, 2021, Stiftung bc – pro arte, S.41)

So stellt die geöffnete, stehende Altarfigur jedem Betrachter die Frage, was er im Verborgenen gesammelt oder aufgetürmt hat und welche Referenzpersonen ihm zur Seite stehen bzw. ihn auf dem Weg durch das Leben begleiten. Auf die Frage, was uns im Leben wichtig sein soll, gibt Jesus eine ganz klare Antwort: „Sammelt euch nicht Schätze hier auf der Erde …, sondern sammelt euch Schätze im Himmel, wo weder Motte noch Wurm sie zerstören und keine Diebe einbrechen und sie stehlen! Denn wo dein Schatz ist, da ist auch dein Herz. … Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon. … Seht euch die Vögel des Himmels an: Sie … sammeln keine Vorräte in Scheunen; euer himmlischer Vater ernährt sie. Seid ihr nicht viel mehr wert als sie? (Mt 6,19-21.24c.26)

Sinnbildlich weist der innere Turm auf Größenwahn, Hochmut und Überheblichkeit hin. Noch stehen er und seine Getreuen stark und sicher. Doch Jesus weist darauf hin, dass gesammelte Schätze (siehe auch Lk 12,15-21) und selbstgemachte Heiligtümer uns nicht retten können. Wir sollen immaterielle Schätze im Himmel (nicht in der Cloud …) sammeln, mit unseren Herzen auf Gottes Barmherzigkeit und Fürsorge vertrauen. Paradoxerweise bringt gerade das schlichte Äußere der Skulptur diese innere Haltung der Demut  zum Ausdruck: unauffälliges und unspektakuläres, aber hilfsbereites und haltgebendes Da-Sein für andere. Heilige Schätze zu sammeln bedeutet Haltungen und Werte leben, die von Achtung und Wohlwollen für alle Menschen, Lebewesen und die ganze Erde geprägt sind. Weil eine solche Haltung und solches Handeln von Umsicht, Fürsorge und Liebe beseelt Gutes bewirken wollen, sind sie heilig, überzeitlich und gehen in die Ewigkeit ein. Sie lösen jetzt schon ein interaktives Heilsgeschehen aus und werden deshalb zu einem Schatz im Himmel.

Skulpturen von Klaus Hack und Arbeiten weiterer Künstler*innen sind bis zum 26. November 2021 in der Themenausstellung “Getürmt. Turmmotive in der Gegenwartskunst” in der Galerie der Stiftung S BC – pro arte in Biberach im Original zu sehen. Dort kann auch der sehr informative Ausstellungskatalog bezogen  werden.

Ecce homo

 

Gastbeitrag von Marleen Hengelaar-Rookmaaker

Die zeitgenössische Kunst besteht nicht nur aus Installationen, sondern auch die figurative Kunst ist reichlich vorhanden. Paul van Dongens Werk – mit seiner handwerklichen Verarbeitung und den klassischen Neigungen mit einem Hauch von Barockdrama – fällt in eine seltene Untergruppe der figurativen Darstellung. Zwei seiner Zeichnungen sind nun in Amsterdam Teil eines künstlerischen Kreuzwegs (6. März – 22. April 2019). Nach den sechs vorangehenden Stationen verlagern sie die Aufmerksamkeit vom Leid der Welt auf unser eigenes Leid und unseren eigenen Anteil an den Problemen der Welt. Sie bilden eine Station oder einen Stopp, um buchstäblich für einen Moment stillzustehen und über unser eigenes Leben nachzudenken.

Nach langer Suche fanden die beiden Federzeichnungen auf der Fassade des Paradiso ein vorübergehendes Zuhause. Das Paradiso ist allen Niederländern bestens als die Kirche bekannt, die in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in den Rockkonzertsaal von Amsterdam umgewandelt wurde. Eine der Zeichnungen hängt im Kleinen Museum, das sich im ehemaligen Kabinett der Freien Kongregation befindet. Die zweite Zeichnung hängt in einem ähnlichen Schrank, der für die Poster und Anzeigen von Paradiso verwendet wird. Man könnte diesen Pop-Tempel als einen waghalsigen Ort für diese besonderen Werke bezeichnen, während unter der linken Arbeit der Titel Judgement (Urteil), und unter dem anderen Rising (Aufgang/Auferstehung) steht. Kein Wunder, dass diese Arbeiten bei Mitarbeitern und „Pilgern“ gleichermaßen zu vielen Diskussionen führen.

Zusammen bilden diese beiden Werke die siebte Station, an der Jesus nach der Tradition zum zweiten Mal fällt. “Fallen” ist denn auch das Thema der linken Zeichnung. Wir sehen ein Gewirr von fallenden nackten Männern, aber keine fallenden Frauen. Eigentlich spielt das Geschlecht hier keine Rolle. Die Arbeit betrifft das menschliche Wesen an sich. Jesus fiel unter der Last seines Kreuzes, diese Männer fallen unter der konfliktreichen Last ihres eigenen Egos. Wir sehen Männer, die stoßen, greifen und zur Seite schieben. Wir sehen eine Hand, die in ein Vakuum greift. Rechts sehen wir Figuren, die versuchen, sich nach oben zu kämpfen, aber von dem Mann an der Spitze nach unten gedrückt werden. Es ist die einsame Hölle jedes Mannes für sich und keiner für den anderen. Paul van Dongen bemerkt: „Diese Zeichnung ist Teil einer Serie, deren Hauptthema der Fall des Menschen ist. Ich wollte den Fall nicht buchstäblich wie in Genesis darstellen, sondern als Choreograf eine Komposition mit nackten männlichen Figuren erstellen, die zusammen den Fall ausdrücken, eine Existenz ohne festen Grund, verloren, ohne Erlösung. In einem verschnörkelten Wirbeln drehen sich die Männer, fallen und stürzen aufeinander.“

Wir sehen Männer in ihrer ganzen Nacktheit, ohne eine verdeckende Bekleidung. Nackt ist hier nicht nackt. Es geht nicht um beleidigende oder erotische Nacktheit. Nackt wird symbolisch für die nicht zu verbergende Wahrheit über die menschliche Natur verwendet. Das richtende Element ist weniger in einem anmaßenden Richter vertreten, der die Gefallenen in die Hölle lenkt, sondern vielmehr in Menschen, die sich ihre eigene Hölle schaffen durch das, was sie tun und unterlassen. Daher geht es bei der Zeichnung zunächst nicht um die böse Welt der Gottlosen, sondern um Sie und mich.

Aber, dank sei Gott, gibt es auch einen Weg nach oben, so wie Jesus nach seinem zweiten Fall aufgestanden ist. Das erkennen wir in der rechten Zeichnung. Links unten sehen wir einen Mann auf den Knien, einen bedrückenden Haufen von Dunkelheit. Mit den Figuren über und rechts von ihm setzt eine Aufwärtsbewegung ein, in der Mitte der Zeichnung ein Mann, der seine Arme hilfesuchend nach oben hält (oder ist es eine Geste der Anbetung?). An der Spitze schwebt ein Mann in der Haltung eines Gekreuzigten. Er erinnert in der völligen Hingabe und totalen Verwundbarkeit an Jesus selbst. Der Künstler: „Diese Zeichnung handelt von menschlichen Figuren, die, nachdem sie in die Tiefe gefallen sind, von einer einzelnen Person hochgezogen werden, die die Aufwärtsbewegung initiiert. Es geht darum, wieder aufzustehen und hochgezogen zu werden.“ In dieser Zeichnung greifen auch die Männer nacheinander, sie suchen jenseits der Einsamkeit nach Verbindung. Hier geht es nicht mehr um unseren eigenen Gewinn, sondern – wie die Figur ganz oben – um unsere Bereitschaft, unser Kreuz zum Wohle anderer auf uns zu nehmen.

Unser Kreuz auf uns zu nehmen klingt nicht sehr zeitgemäß. Für einige klingt das wie etwas aus vergangenen Zeiten. Jedoch ist es der Ausweg aus dem menschlichen Elend. Es bedeutet, dass wir veranlagt sind, andere zu lieben. Genau wie Jesus. Dank seiner Bereitschaft, sein Kreuz zu tragen, vergibt Gott all unsere Verfehlungen und eröffnet neue Perspektiven. Damit ist die Fastenzeit neben einer Zeit der Reue und Buße auch eine Zeit, in der mit Freude Gottes Gnade gefeiert wird.

Dieser Beitrag wurde auf der Website von artway.eu erstveröffentlicht und wird hier mit dem Einverständnis des Künstlers und der Autorin wiedergegeben.

unsichtbar

Kreuzlos hängt der Mensch an der Wand. Und doch sind sein Körper und seine Haltung durch und durch vom Kreuz gezeichnet. Seine ausgebreiteten Arme, die erhobenen Hände und die unnatürlich nach innen gedrehten Beine und Füße erzählen von der qualvollen Hängung am römischen Folterinstrument. Die Wundmale lassen den Schmerz spüren, das knappe Lendentuch an die Entblößung denken, der er ausgesetzt war, die feine Dornenkrone mag den Spott und die Verhöhnung vergegenwärtigen.

Mit geneigtem Kopf hängt Jesus an der weißen Wand. Er ist als Mensch von heute dargestellt. Sein Gesicht ist nicht idealisiert oder schmerzverzerrt. Ruhig und gefasst hält er den Schmerz aus, erduldet er als Knecht Gottes das ihm zugefügte Leid und trägt damit das Leid aller Menschen. Jetzt und zu jeder Zeit.

In diesem Gekreuzigten können sich alle wiederfinden, denen in irgendeiner Form Leid widerfährt. Denn da ist einer, der mitleidet unter den unzähligen unsichtbaren Kreuzen, die so viele belasten und in den Tod treiben. Kreuze, die sich durch Krankheiten und körperliche Gebrechen im Körper selbst manifestieren. Kreuze, die durch Ungerechtigkeit oder Gewalt jeglicher Form entstehen und das Leben zur Qual machen. Unsichtbar sind sie da, die Freiheit einschränkend, die Lebenskraft und -freude raubend.

Exponiert hängt Jesus da. Verlassen, allein und haltlos mutet er an. Und doch wird er von Dem, der unsichtbar alles und jedes Lebewesen in seinen Händen und seinem Herzen hält, gehalten. Das macht Mut, auf ihn zu schauen, der in der Einsamkeit der Gottverlassenheit dennoch voll und ganz seinem Vater vertraute, als er seinen Geist in dessen Hände legte. Er zeigte uns vorbildlich, dass Gott jeden von uns hält und stützt, auch wenn wir Gott nicht sehen oder spüren.

Wo ist deine Mitte?

Was für eine Menschenfigur. Sie hat drei Beine und vier Arme, und mitten in der Brust gähnt ein riesiges Loch. Dort, wo sonst des Menschen Herz schlägt, ist einfach nichts. Man blickt durch ihn hindurch. Dieser Mann ist herzlos, er hat kein Herz mehr. Er hat sein Herz verloren oder es ist ihm genommen worden. Jedenfalls ist er sein Herz los, er hat seine Mitte verloren, auch wenn er scheinbar quicklebendig ist.

Dieser Mensch bewegt sich wie ein Roboter oder eine Marionette. Nicht aus eigener Initiative, sondern so wie es von ihm verlangt wird, hebt er seinen Arm zum Gruß, streckt ihn seitlich tastend aus oder hält beide Arme mit den offenen Handfläche nach unten, als wolle er sich von einer unsichtbaren Wand abstoßen. Ebenso vielsagend sind die Positionen seiner Beine. Neben einem kleinen Schritt (großes Bild), bei dem beide Füße am Boden sind, macht er mit dem linken Fuß auch einen großen Schritt. Militärisch steif erinnert er an den Stechschritt, was zusammen mit dem erhobenen Arm und der bräunlich-roten Farbe an die Zeit der Nationalsozialisten erinnert, die Herzlosigkeit und unbedingten Gehorsam forderten.

Unabhängig davon vermag der Mann auch eine Parabel für den modernen Menschen sein, der in sich ganz unterschiedliche Rollen zu vereinen hat. Dies gepaart mit dem Anspruch, vieles gleichzeitig machen zu können oder zu müssen, in einer Schnelligkeit und Perfektion, bei der es manchmal vorteilhaft wäre, mehrere Arme und Beine zu haben.

Der „Mann ohne Mitte“ stellt ganz offensichtlich die Frage: „Wo ist Dein Herz? Wo ist Deine Mitte?“ Und … nicht nur: „Was bewegt ihn? Was bewohnt diesen Menschen? Was belebt ihn?“, sondern auch: „Was bewegt mich? Was macht mein Leben aus, was gibt mir Kraft und Leben?“

Bei dem runden Loch ist man versucht zu denken: Wo nichts ist, kann nichts sein (Ansicht von vorn). – Aber der Freiraum ist kreisrund und kann damit eine unsichtbare Gegenwart andeuten, die ohne Anfang und Ende ist. Des Mannes Mitte ist somit transparent auf das Transzendente. Mit dieser unsichtbaren Präsenz wirkt der Mann wie eine Monstranz. Es kommt nun ganz darauf an, welcher Kraft er diesen Freiraum überlässt. „An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“, sagt Jesus. (Mt 7,16) Es liegt an uns, was oder welche Kraft wir zulassen, in unserer Mitte zu wohnen, unsere Mitte zu bilden und damit unser Leben und Handeln entscheidend zu prägen.

Totentanz

Stramm steht es da, das weiße Skelett eines Menschen. Die Füße berühren sich wie in Habachtungstellung, die Arme liegen am Oberkörper an, der Kopf ist über die Schulter rechts nach hinten gedreht. Es steht auf einer silbergrauen Kreisfläche, oder besser gesagt es dreht sich leicht erhöht um seine eigene Achse (Video anschauen).

Die ruckartigen Bewegungen lassen alle Knochen zittern und das Skelett bescheiden tanzen. Runde um Runde, im Sekundentakt, Minute um Minute, Stunde um Stunde … ein einsamer Totentanz. Nicht nur dass der Kopf weggedreht ist, das Gesicht ist zudem mit einer Maske bedeckt. Die Identität dieses Toten bleibt damit verborgen, sein wahres Gesicht verhüllt.

Es stellt sich die Frage, ob hier einfach ein Menschenskelett oder der Tod selber dargestellt ist. Gegen den Gevatter Tod spricht, dass das Skelett keine Sense trägt. Aber aus der Kopfhaltung spricht Stolz. „Schaut nur, mir kann keiner etwas anhaben. Ich drehe mich unaufhörlich und werde jeden von euch zu seiner Zeit holen.“ Es sieht zwar aus, als schäme er sich, als würde er es nicht wagen, den Menschen auf Augenhöhe zu begegnen und ihnen in die Augen zu schauen. – Aber kommt der Tod nicht oft genug überraschend? Dazu würde auch die Totenmaske passen. Er kommt oft heimtückisch, unerwartet. – Aber der Tod mit einer Totenmaske?! Das macht ihn absurd! Und man ahnt: hinter dem Tod lauert der andere Tod!

Die Skulptur reiht sich in die vielen Vanitas-Darstellungen ein, die seit der Renaissance daran erinnern, dass unser Leben vergänglich und nichtig ist und wir keine Gewalt über das Leben haben. Schädel und Sanduhr waren in der Kunst dafür aussagekräftige Symbole. Die Zeit vergeht und entgleitet wie der Sand. Bei Hans Thomann stehen dafür das Skelett, seine Drehungen um sich selbst und im Sekundentakt unserer Uhren und Zeitmessung.

Doch die Frage bleibt, ob es sich bei diesem Totentanz nicht um mehr als den Tod oder ein Vanitas-Motiv handeln kann. In früheren Totentanzdarstellungen tanzte der Tod immer mit einem Menschen. Ein Zeichen, dass er ohne Rücksicht auf Rang, Alter oder Geschlecht alle Menschen oft mitten aus dem Leben zu sich holt. Hier tanzt der Tod allein. – Haben wir ihm mit unserer modernen Medizintechnik ein Schnippchen geschlagen?

Eine andere Sichtweise wäre, dass das tanzende Skelett möglicherweise gar nicht den Tod darstellt, sondern auf den Glauben vieler Religionen hinweist, dass die Verstorbenen nicht im Tod bleiben, sondern in einer für uns unsichtbaren Realität weiterleben. Denn wenn Tote tanzen, dann heißt das doch, dass sie leben, dass sie voller Lebensfreude sind. – Dreht das Skelett vielleicht deswegen den Kopf nach hinten, weil da eine größere Macht ist, die es hält? Eine Macht, die auch uns nach dem Tod, nach dem Zerfall bis auf die Knochen stehen, bestehen lässt, ja über die Zeit hinaus uns drehen, tanzen, freuen, leben lässt?

 

Im Sekundentakt zittern seine Glieder im Kreis
holt der Tod die Menschen aus dem irdischen Leben
entreißt er sie dem Kreislauf der Zeit
dem nie endenden menschlichen Taumel und Stressfaktor.

Doch was soll er mit all den Menschen nur machen
als sie – als Gottes Geschöpf – IHM weitergeben
damit ER allen Menschen
in seiner nie endenden Ruhe Frieden und ewiges Leben geben kann?

Video nochmals anschauen

Ausstrahlung

Eine menschliche Gestalt befindet sich im Zentrum eines Strahlenkranzes aus Feuerwerkskörpern. Fünfzig Holzstäbe gehen von der Brust bzw. von der Herzgegend aus in alle Richtungen, formal mit den kurzen Armierungseisen korrespondierend, aus denen die Figur zusammengeschweißt ist. Ansonsten steht die weiße Menschengestalt im Gegensatz zu den bunten Feuerwerkskörpern: Die Figur ist innen hohl, die Raketen sind mit Pulver gefüllt, sie besteht aus unbrennbarem Stahl, die vielen entfalten sich in genialen Lichteffekten, der Mensch bleibt am Boden, die Leuchtkörper verzaubern den Himmel, er hat eine große Langlebigkeit, sie verbrennen in wenigen Sekunden.

Was diese so gegensätzlichen Materialien wohl über den Menschen aussagen? Eine nähere Betrachtung der menschlichen Gestalt und vertiefte Gedanken zu den im Kreis angeordneten Feuerwerkskörpern werden Anhaltspunkte zum Verständnis dieses spannungsvollen Kunstwerks geben.

Der im Zentrum der Installation stehende Mensch ist mit den Stahlstücken plastisch skizziert. Er ist ähnlich flüchtig festgehalten wie in einem Skizzenbuch, und doch mit Eisenstäben beständig in den Raum geholt. Die verwendeten Rundstäbe werden normalerweise für die Armierung, die innere Verstärkung von Beton gebraucht. Am fertigen Bauwerk sind sie unsichtbar. Bei dieser Menschengestalt bilden sie jedoch die Außenhülle, die sich nach oben verdichtet. Und sie wirken wie ein transparenter Panzer, der Halt gibt, schützt, und doch für das Licht durchlässig ist. Da weder Hände noch Füße oder Gesichtszüge ausgearbeitet sind, kann diese Gestalt für jeden Menschen stehen.

Durch die unterschiedliche Beinlänge scheint dieser menschliche „Platzhalter“ in den Raum zu schreiten, mit den leicht nach hinten geneigten Armen den Raketenkranz wie ein Gepäckstück auf dem Rücken haltend. Assoziative Vergleiche mit einem Propeller oder einem großen bunten Flügel mögen aufsteigen und die Menschengestalt zu einem modernen Ikarus machen.

Doch die strahlende Darbietung eines Feuerwerks ist stets von kurzer Dauer, begleitet von lauten Knallern sowie starker Rauch- und Geruchsentwicklung. Neben der Erinnerung an einen an ein Wunder grenzenden Lichtzauber bleiben nur Leitstäbe und ausgebrannte Hülsen übrig. Die künstlichen Lichteffekte erregen wohl kurzfristig Aufsehen und Staunen, auf die Dauer kann sich allerdings niemand eine solch kostspielige und letztlich auch umweltbelastende und gesundheitsschädliche Inszenierung leisten. Sie ist in allen Belangen weder tragfähig noch tragbar.

Letztlich stellt die Installation die Frage, wie wir mit einfachen Mitteln, mit unseren eigenen Energien Glanzpunkte setzen können. Es geht darum, wie wir, ohne auf künstliche Effekte zurückzugreifen, mit unserem Handeln Akzente setzen können, die eine anhaltende Ausstrahlung haben.

Die fünfzig Leuchtkörper verweisen mit ihren Leitstäben bildsprachlich auf das Herz (Detail). Alles, was wir denken, reden und tun, hat seinen Ursprung im Herz. Wenn dieses Denken, Reden und Handeln gut ist, wird es eine positive Wirkung zeigen. Jesus sagt in der Bergpredigt zu seinen Zuhörern: „Ihr seid das Licht der Welt. … Euer Licht soll vor den Menschen leuchten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ (Mt 5,14.16) Für ihn ist die Ausstrahlung eine Folge der guten Werke und gleichzeitig eine zweifach erhellende Kraft: Nämlich, dass andere das Gute sehen und gleichzeitig Den erkennen, der im Ursprung das Gute bewirkt. Der tief im Innern der Herzen berührt und bewegt, ruhig und ohne Effekthascherei. Was Gott bewirkt, besitzt eine natürliche Leuchtkraft. Es muss nicht wie bei einem Pfau mit einem großen Rad stolz zur Schau getragen werden noch mit künstlichen Mitteln überhöht werden. Ein lateinisches Sprichwort fasst das in weltlichen Worten treffend zusammen: „Gute Taten leuchten auch im Dunkeln.“ Sie tun dies ohne Hilfsmittel – einfach, weil sie gut sind!

Glühen für Gott

Ein Menschenkopf zeigt sich von der Seite gemalt im Profil. Hals, Kinn, Nase, Stirn und Auge sind zu erkennen. Allerdings sind weder Mund noch Ohren oder Haare zu sehen. Auch die Farben entsprechen nicht der Realität. Alles an diesem Menschenkopf ist nur zeichenhaft gemalt, deutet aber auf einen tieferen Sinnzusammenhang. Diesbezüglich kann dieser Kopf für jeden Menschen stehen, für jede Frau, für jeden Mann. Und es geht offensichtlich nicht um äußere, sondern um innere Wirklichkeiten.

An der Stelle des Auges ist eine blaue, mandelförmige Erscheinung zu erkennen. Farblich korrespondiert sie mit dem Zeichen des Kreuzes im Nacken und den partiellen Umrisslinien auf der linken Seite des Kopfes. Zwei gelbe Linien kreuzen das Auge und verstärken die Dynamik des Bildes von rechts unten nach links oben, vom hellblauen Kreisfragment zur lichten Goldfläche über der Stirn. Denn durch die gelben Linien wird die Mandelform zur Sammellinse, bei der sich parallele Lichtstrahlen in einem Punkt hinter der Linse, dem Brennpunkt, sammeln. Vom Kreuz ausgehend, wird so unser Blick zur leuchtenden Goldfläche gelenkt. Anscheinend ist es das Kreuz im Nacken, das die Sehweise des Gläubigen verändert und die vor ihm liegende Herrlichkeit überhaupt sichtbar werden lässt.

Der leicht nach hinten geneigte Kopf und der sich durch die roten und rötlichen Farben ergebende Viertelkreis unterstützen und verstärken diese Blickrichtung. Dadurch wird das hellblaue Kreissegment kräftemäßig zu einem starken Element, das an den Himmel erinnert und in den helleren Punkten sogar Sternbilder erahnen lässt. Ob es als himmlische Kraft gedeutet werden darf, als Nackenstütze des Glaubens, die Halt gibt und gleichzeitig sanft die Blickrichtung weist?

Erfüllt von den Farben des Feuers und der Glut, wird der Menschenkopf zu einem Lichtbogen. Vom Feuer durchdrungen und beseelt, vom Licht erfüllt, Hell und Dunkel in sich tragend, scheint er voller Spannkraft für Gott zu glühen. Seine Stirn berührt dabei die goldene Fläche und das Licht. Beides sind Symbole für Gott und spirituellen Reichtum, den wir erstreben. „Gott nahe zu sein ist mein Glück“ (Ps 73,28), schreibt der Psalmist als Quintessenz seiner Überlegungen und Gebete. Dieser Mensch ist Gott ganz nahe. Er darf es sein mit seinen leuchtenden und mit seinen stumpfen Seiten, mit seinem vorausschauenden wie auch mit seinem reflektierend rückwärts gerichteten Blick (dunkle Silhouette in hellrotem Trapez).

Alles in allem überwiegt seine Begeisterung, sein Glühen für Gott. Beinahe meint man ein Lächeln dort zu sehen, wo gar keine Lippen sind. Gottes Geist schenkt Erkenntnis und Leben in Fülle.

Schreitender

Turmartig erhebt sich die grün-blaue Figur in der Bildmitte. Die einfachen Formen mögen spontane Assoziationen zu einem Pfosten oder einem stilisierten Baum auslösen. Doch die zwei Füße im Seitenprofil lassen die Gestalt eindeutig einem Menschen gleichen, auch wenn keine Arme oder eine klare Kopfform zu sehen sind. Aber verjüngt sich die Körpergestalt nicht in der Halsgegend und weitet sie sich nicht im Bereich des Kopfes, so dass eben doch eine Kopfform ausgemacht werden kann? Und könnte nicht die blaue Farbe einem Gesicht zugeordnet, die verwaschene runde Form daneben als Auge, die Unschärfe links unten im blauen Bereich als Mund gedeutet werden?

Auch die Farbgebung der solitären Gestalt verweist auf den Menschen. Grün mag hier symbolisch für die irdische Herkunft stehen, für das dynamische Wachstum, für das emporstrebende Leben. Dieser Mensch steht in seinem Saft, ist voller Leben. Die blaue Farbe hingegen deutet auf seine geistige Kraft hin, mit der er fähig ist, das sinnlich Wahrnehmbare durch seine Intelligenz zu durchdringen.

Aber durch die gestalterische Vereinfachung konzentriert sich alles in den beiden Füßen, scheint alle Energie in sie zu fließen bzw. von ihnen auszugehen. Der vordere Fuß befindet vollflächig auf dem Boden, der hintere ist leicht angewinkelt. Spannungsvoll zieht eine Bogenlinie von der Ferse bis zum Scheitel. Eine unsichtbare Kraft scheint sich ihm in den Rücken zu pressen und ihn voranzutreiben.

Beinbewegung wie Körperhaltung zeigen also an, dass dieser Mensch in Bewegung ist und von rechts nach links schreitet. Den Kopf hat er dabei leicht in den Nacken gelegt, die Haare sind wie von einem heftigen Gegenwind zerzaust nach hinten geweht. Dieser Mensch scheint ein Ziel vor Augen zu haben. Gleichzeitig kämpft er gegen die Kräfte von hinten und von vorne, um nicht schneller oder langsamer, sondern in seinem eigenen Tempo voranzukommen. So achtet er mit angespanntem Leib auf jeden Schritt, so scheint er als vorsichtig Schreitender jeden Schritt zu bedenken.

Nach der Betrachtung der solitären Figur sind nun noch die roten Bildelemente zu erforschen. Die dickere Diagonale gleicht mit seiner auslaufenden, spitzen Form einem Speer oder einem Lichtstrahl, welcher die Figur durchdringt. Ist er ein von der Liebe getroffener und gleichzeitig beflügelter? Denn die vier gleichfarbigen Linien, die rechtwinklig zur Diagonalen von der Körpermitte nach hinten abstehen, muten wie Federn oder wie Pfeile im Köcher an, haben aber auch ein flügelähnliches Aussehen.

Assoziativ dazu kann die rote Diagonale als Bogen gesehen werden, den der Schreitende locker in der Hand hält, bevor er ihn zum Schießen auf Augenhöhe hochnimmt. Bei dieser These wäre der Schreitende Jäger und Opfer zugleich, weil die Waffe an ihm selbst zeigt, was durch seinen Schuss demnächst geschehen wird. Auch die rote Farbe würde zu dieser Thematik passen, die stolze Haltung, das hoch aufgerichtete Haar, das wie eine Krone wirkt.

Eine ganz andere Deutung ergibt sich, wenn die rote Diagonale als Stange gesehen wird, die der Schreitende auf Beckenhöhe trägt. Könnte es nicht auch sein, dass er eine Balancestange trägt, um sein Gleichgewicht zu halten? Könnte die geringe Schrittlänge nicht auch darauf hindeuten, dass er sich gar nicht auf dem Boden, sondern auf einem Seil befindet, im „luftleeren“, haltlosen Raum, wie es der neutrale Hintergrund andeutet? Dass er deshalb die Balancestange braucht, um das Gleichgewicht zu halten und nicht herunter zu fallen? Auch hier könnten die vier Linien hinter ihm die Stabilität geben oder ihn beflügeln.

Der Schreitende lässt unterschiedliche Zugänge oder Deutungen zu. Wie diese auch aussehen mögen, regt er an, über unser Schreiten nachzudenken. Wie selbstverständlich bewegen wir uns doch in der Regel vorwärts. Doch welche Kräfte drängen uns, so dass wir schneller als gewollt laufen? Welche Kräfte oder Ereignisse bieten uns Widerstand und hindern uns am Vorwärtskommen? Sind wir Jäger oder Gejagte? Was hilft uns, Gleichgewicht und innere Ruhe zu behalten? Gerade in schwierigen Zeiten oder auf unwegsamen Passagen, bei denen ich mir – auf mich allein gestellt – wie auf einem Hochseil vorkomme, bei denen ich mich Schritt für Schritt vorwärts tasten muss und es oftmals „mehr ein Zögern denn ein Schreiten ist“? Das Aquarell regt auch zum Nachdenken an, welche Menschen, welche Fähigkeiten und Erlebnisse als „Balancierstange“ helfen, das Gleichgewicht zu halten und langsam, aber konzentriert vorwärts schreiten zu können.

1 freier Mensch

Das Bild ist ein Abbild von einer dreidimensionalen Arbeit. Dies wird insbesondere durch die mittige Unterschrift auf der rechten Seite und die breiten seitlichen Ränder (in der Wiedergabe im Internet schlecht sichtbar) deutlich. Als Betrachter blicken wir also durch das im Offsetdruck multiplizierte Abbild auf das Original, das aus einem Blatt Papier, einem Tannenzweig, etwas Farbe und einem gelben Holzrahmen besteht.

Als Papier wurde die Rückseite eines Kalenderblattes verwendet. Unten sind gut die Perforierung und die halbrunde Ausbuchtung für die Aufhängung zu sehen. Damit erhält die Arbeit einen ersten Bezug zur Zeit, auch wenn die konkrete Zeitangabe verborgen bleibt. Damit beweist der Künstler zum ersten Mal seine Freiheit im Umgang mit den verwendeten Materialien. Er verwendet ein abgelaufenes Kalenderblatt, das er mit einer zweifachen Drehung einer neuen Aufgabe zuführt und wie durch eine Zeitenwende hindurch einem unbestimmten, offenen Zeitrahmen zuführt.

Ein Tannenzweig dominiert die Mitte des Blattes. Der feingliedrige Zweig erscheint als Strichmännchen mit gespreizten Beinen, einer gekrümmten Wirbelsäule und erhobenen Armen. Der Kopf ist am wenigsten ausgebildet. Eine Kopfform ergibt sich aber durch die Verdichtung von vier Verästelungen über der zentralen Vertikalen. So kann ein froher und tanzender Mensch darin gesehen werden, ein Mensch, der sich frei bewegt. Im Zusammenhang mit dem grünen Tannenzweig können aber auch weihnachtliche Gedanken aufsteigen, so dass im Tannenzweig mehr ein liegendes Kleinkind wahrgenommen wird. Mit dem Tannenzweig schafft der Künstler einen zweiten Bezug zur Zeit. In ihm wird das Wachsen und Erstarken genauso wie die Vergänglichkeit sichtbar. Zum einen im noch kräftigen Grün, zum anderen in den heruntergefallenen Nadeln, sie sich im Rahmen hinter dem Glas ansammeln. Auch hier schuf er aus dem Tannenzweig etwas völlig anderes.

Über dem Zweig malte der Künstler in dunklem Rot zudem „1 freier“ und darunter „mensch“, zusammen also „1 freier mensch“. Dies kann als Deutung des Tannenzweiges gelesen werden, aber auch im Bezug zum Künstler, der den Materialien in kreativer Freiheit eine neue Sinngebung gab. Seine künstlerische Unabhängigkeit bringt er auch in der Schrift zum Ausdruck. So schreibt er die Eins als Ziffer, schreibt „Mensch“ klein, unterstreicht aber dieses Wort. Durch die Platzierung von „freier“ oben im Bild erhält dieses Wort zudem etwas Geistiges, Ungebundenes, während das unterstrichene Wort „mensch“ unten im Bild geerdeter wirkt. Die Zahl „1“ steht wiederum mit dem singulären Tannenzweig in Beziehung und erhöht im Gegensatz zur Beliebigkeit des Wortes „ein“ die Einzigartigkeit dieses „freien Menschen“.

Allerdings, wer könnte mit einem freien Menschen gemeint sein? Ist es wie bereits angesprochen der Künstler, der losgelöst von allen Konventionen frei gestaltet? Oder bezieht sich die Bezeichnung mehr auf Jesus? Er kann wegen dem Tannenzweig im Zusammenhang mit seiner Geburt gesehen werden, als Gottes Sohn, der den Menschen den Frieden brachte (vgl. Lk 2,14), im Bezug zur Schrift ebenso als einziger wirklich freier Mensch, der unbelastet von jeglicher Schuld handelte (vgl. Hebr 4,15). Diesbezüglich könnte auch der feine Rahmen mit seinem leuchtenden Gelb als unauffälliger Licht- oder Heiligenschein gedeutet werden.

Die Arbeit von Felix Dröse lässt noch einen weiteren Zugang zu. Die plakative Aufmachung kann auch als Spiegelbild und Vision von uns gesehen werden. „ Zur Freiheit hat uns Christus befreit“, schreibt Paulus an die Gläubigen in Galatien (Gal 5,1). Als auf Christus Getaufte sollen wir als freie Menschen handeln und neue Wege gehen. Martin Luther (zu dessen 500. Jahrestages des Thesenanschlages die Wanderausstellung „Zeitgenössische Kunst zur Bibel“ lanciert wurde und dieses Blatt zur Ausstellung eingereicht wurde) war einer von vielen Persönlichkeiten, die im Hören auf den Heiligen Geist und die innere Stimme es wagten, kontrovers zu denken und zu handeln, und dadurch zur Erneuerung von Kirche und Gesellschaft beizutragen. Heute stehen wir in ihrer Nachfolge.

Das Buch zur Ausstellung: “Zeitgenössische Kunst zur Bibel”, Johannes Beer (Hrsg.), Kerber Verlag Bielefeld 2012, ISBN 978-3-86678-720-9, 22,50 × 22,50 cm, Seiten: 204 Seiten, 122 farbige und 6 s/w Abbildungen, Hardcover gebunden, Euro 29,95

Vom Licht durchdrungen

Die große weite Schale hebt sich farblich kaum ab vom Hintergrund. Nur das Licht- und Schattenspiel lassen sie als eigenständige Form im Vordergrund wahrnehmen. Wie ein großer Blütenkelch weitet sich die Schale vom rechteckigen Sockel weg in den Raum hinein. Ihre Beschaffenheit ist hauchdünn und ebenso verletzlich wie bei ihren Vorbildern in der Natur. Sanft gewellt endet das dünne Material, ja es scheint sich geradezu in Luft aufzulösen.

Ganz aus kostbarem Silber gefertigt, präsentiert sich die Schale in schlichter Eleganz. Gerade ihre Einfachheit fasziniert. Das Fehlen von jeglichem Beiwerk oder Verzierungen tun gut. Sie glänzt in ihrer formellen und materiellen Reinheit. So vermag die Schale durch ihre Einfachheit, durch ihre vollendete Form zu überzeugen. Reine Schönheit!

Ähnlich wie bei einem Töpfer ein Tongefäß mit der Hand aus einem Klumpen Lehm hochgezogen und geformt wird, muss die Künstlerin diese Schale mit ihren Werkzeugen in äußerst behutsamer Arbeit aus einem Stück Silber in die Höhe getrieben haben. Der gewaltige Zeitaufwand, den eine so sensible Arbeit benötigt, damit das Material nicht bricht, lässt sich nur erahnen. Doch die Intensität, mit der die Künstlerin das Material erfühlt und wahrscheinlich auch in es hineingehorcht hat, ist aus der Perfektion der Schale herauszuspüren.

In diesem Bild wirkt die Schale groß. Da ein Vergleich zur Umgebung, ein Anhaltspunkt fehlt, ist sie unvergleichlich und somit wirkt sie ganz für sich allein. Das scheint auch ihre Aufgabe zu sein. Denn ihre außerordentliche Beschaffenheit und Schönheit verbieten ihr geradezu, alles, was mit Gewicht zu tun hat, in sich aufzunehmen. Allerdings vermag sie durch ihre runde Form und ihren sanften Glanz das Licht derart anzuziehen und in sich zu konzentrieren, dass das eigene Material geradezu verzaubert wird und der Eindruck entsteht, dass es sich in der Durchflutung durch das Licht entmaterialisiert.

Durch die verschiedenen Charakteristika vermag mancher Gläubige in der Schale vielleicht ein Symbol für uns Menschen zu sehen. Glauben wir doch, von einem unsichtbaren Schöpfer in unendlicher Zuwendung fein und wunderbar geschaffen worden zu sein (vgl. Ps 139,14). Als sein Volk sind wir ihm „teuer und wertvoll“ (Jes 43,4). Anderseits soll der Gläubige ganz auf Gott ausgerichtet leben, ganz offen für sein Wort und seine Weisheit sein, bereit, seinen Willen zu tun. So betet der Psalmist (40,9): „Deinen Willen zu tun, mein Gott, macht mir Freude, deine Weisung trag ich im Herzen.“ Und ein anderer spricht zu Gott: „Dein Wort ist meinem Fuß eine Leuchte, ein Licht für meine Pfade“ (Ps 119,105). So dürfen wir im Licht ein Symbol für Gottes Wort sehen. So wie die Schale durch ihre Beschaffenheit das Licht in sich auffängt und konzentriert, durchflutet und in ein geistiges Gefäß verwandelt wird, so sollen wir Gottes Wort, seine Weisheit, seinen Geist und seine Liebe in uns aufnehmen und sammeln, damit sie uns genauso durchdringen und zu Lichtträgern verwandeln. Lichtwesen sollen wir werden, von Seiner lichten Gegenwart beseelt, „Engel“, die ganz transparent auf Ihn hin sind.

Foto der Künstlerin mit ihrer Gold-Licht-Schale “Durchflutung IV/2”

Einladung zum Abend-Mahl

Zwölf Menschen unterschiedlichen Alters und Geschlechts umgeben einen mit einem weißen Laken bedeckten Tisch. Die einen sind bekleidet, die anderen nackt. Sie sitzen, stehen, kauern und liegen. Die Gemeinschaft wirkt ungewöhnlich und doch familiär. Fremd und doch vertraut befinden sie sich dem Betrachter gegenüber. Überraschen mag die Versammlung um den Tisch, die bedeutungsvolle Zahl von zwölf Personen, irritieren die Ähnlichkeit der Darstellung mit bekannten Bildern, die uns herausfordert, das Andere, Unterschiedliche in diesem Bild zu suchen. Denn ob Nacktheit oder Haltung, ob Beziehung oder Einsamkeit, die verschiedenen Lebensalter und -situationen sind uns alle bekannt. Wir haben sie am eigenen Leib, in unserer Familie oder im Bekanntenkreis kennen gelernt.

In ausgesprochener Schönheit hat der Künstler die Menschen vom Baby bis zur Greisin, vom Neugeborenen bis zum Verstorbenen dargestellt. Der Künstler hat sich mit seiner Frau (beide schwarz gekleidet), mit Tochter, Sohn und Mutter, mit Freunden und Bekannten in dieses Bild eingebracht. Sie erscheinen als feiernde Gemeinschaft. Allerdings ist keine Freude zu beobachten, kein großes Essen, keine wirkliche Beziehung zueinander. Die einzelnen Personen stehen sich durch ihre Position im Raum nahe, aber außer der Mutter, die ihre Hand auf die Schulter der Tochter gelegt hat, berührt sich niemand, spricht niemand.

Die Gemeinschaft scheint in dieser fast bedrückenden Ruhe zu warten. Das Brot ist geteilt, aber noch nicht verteilt. Wie als Einladung an den Betrachter wird als einzige aktive Handlung das Glas an der Vorderkante des Tisches mit Wein gefüllt. Erwartungsvoll wird der Betrachter von einigen im Bild angeschaut. Wie wird er auf diese Einladung reagieren? Wird er sich an den wirklichen Tisch vor dem Hauptbild setzen oder sich wie andere Personen im Bild aus welchem Grund auch immer vom Tisch abwenden?

Wer die Einladung annimmt, wird auf ganz unerwartete Weise erfahren, wie sehr er zu dieser menschlichen Schicksalsgemeinschaft gehört. Denn nach einer halben Minute sieht er sein Portrait (gefilmt von einer in der Installation versteckten Kamera und von einem in der Wand eingelassenen Beamer auf das Bild projiziert) inmitten der Tischrunde. Wie eine Erscheinung taucht er so an der freien Stelle in der Bildmitte auf (Ansicht 2). Es ist, als wolle der Maler dem Betrachter sagen: in diesem Bild ist ganz viel von Dir. Setz Dich und setze Dich mit uns auseinander, verweile bei uns, trink mit uns ein Glas Wein, brich mit uns das Brot. Erst mit Dir kann das Fest beginnen.

Doch was für ein Fest soll denn hier gefeiert werden? Es irritiert, dass nur die eine Hälfte der Tischgemeinschaft angezogen ist. Auffallend auch, dass sie ausschließlich schwarze oder weiße Kleider tragen und nur beim jungen Mädchen ein paar Farbklekse zu sehen sind, beinahe als Pendant zum Dunkelrot des Weines. Sind sie eine Trauergemeinschaft? Oder sollen Schwarz und Weiß dezent auf seelische Zustände der diese Farben tragenden Personen hinweisen? Die Fragen bleiben unbeantwortet. Sicher ist, dass sie im Gegensatz zu den unbekleideten Personen stehen. Diese haben nichts Exhibitionistisches an sich, sondern integrieren sich auffallend natürlich in diese Gemeinschaft. Sie lassen den Menschen in seiner ursprünglichen und elementaren Beschaffenheit wahrnehmen, so wie er geboren wird (Kleinkind), aufblüht (junge Frau) und letztlich auch stirbt (liegender Mann). Der Künstler hat schöne Menschen gemalt, die Schönheit und die Würde des Menschen hervorgehoben. Auch nackt hat er nichts zu verbergen. Er darf in diesem geschützten Raum seine Anfälligkeit und Vergänglichkeit genauso zeigen wie seine unbekümmerte Offenheit und sein geradezu paradiesisches Vertrauen (vgl. Gen 2,25). Er hat nichts zu befürchten und darf in seiner existenziellen Körperlichkeit ganz sich selbst sein. Ist das nicht so im Kreis der Familie?

Erstaunlich ist und für manche mag dies auch blasphemisch wirken, dass der Künstler dem Betrachter den Platz zuweist, den Jesus in traditionellen Abendmahldarstellungen einnimmt. – Doch zuerst mal ist der zentrale Platz einfach leer, allerdings auch nicht unbesetzt. Denn dahinter öffnet sich der Raum für einen weiten Blick über das Land und in den Himmel. Die Sonne scheint gerade untergegangen zu sein. Noch erleuchten ihre Strahlen den Himmel, doch sie selbst ist nicht mehr zu sehen. Auf diese Weise wird eine andere Dimension unseres Lebens im Bild sichtbar, ein zentraler Bezugspunkt, der mit einer immateriellen Kraft und einem Licht zu tun hat, die auf eine andere Weise als das von links durch ein Fenster in den Raum hineingeworfene Licht für unser Leben wichtig sind. Wir nennen die unerschaffene Kraft Gott, sein Licht, von dem wir heute noch die Strahlen sehen dürfen, Jesus. Er nimmt in dieser aktualisierten Darstellung des Letzten Abendmahls, allerdings in einer anderen Gestalt, weiterhin den zentralen Platz ein.

Wenn nun das Bild des Betrachters an dieser Stelle erscheint, dann um zu sagen, dass Jesus auch durch ihn sichtbar wird und wirkt. Zum einen, weil der Künstler ihn als Hungrigen und Dürstenden an seinen Tisch geladen hat und sich dadurch das Wort Jesus erfüllt: „Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan“ (Mt 25,40). Zum anderen, wenn der Betrachter bereit ist, an Gott zu glauben und bereit ist, sein Leben aus der lebendigen Beziehung zu Ihm zu gestalten. Denn jeder Christ hat in seiner Taufe „Christus angezogen“ (Gal 3,27) und soll sich in seiner Haltung und seinem Verhalten, in seinem Reden und Handeln möglichst wie Jesus verhalten, denn „der Christ ist ein anderer Christus“, wie es der Kirchenvater Cyprian auf den Punkt brachte.

Das Mittelbild der Installation weitet sich seitlich in je sechs kleineren Bildern in den Raum hinein (linke Ansicht 2). Mit Bildzitaten aus dem Abendmahlbild und Inschriften wie „bekennen, vergeben, vergehen, opfern, empfangen, Brot brechen, vergessen, suchen, täglich Brot, Anmut, spiegeln, schlafen“ wird der Dialog zwischen dem im Hauptbild Dargestellten und wesentlichen Handlungen und Erfahrungen im Leben jedes Menschen zusätzlich angeregt (linke Bilderreihe / rechte Bilderreihe / kurze Erläuterungen zu den “12 Begleitern”).

Was in dem Bild geschieht, geht jeden etwas an. Auch der dem Bild vorgelagerte Tisch mit weißem Tischtuch, gebrochenem Brot, dem Messer und der Blume, einem Glas und einem Teller sowie einer goldenen Kugel will dem Betrachter die Tatsache nahe bringen, dass jeder auf irgend eine Art und Weise am Tisch des Lebens sitzt und aufgefordert wird, im Geben und Empfangen daran teilzuhaben und zur Lebensfülle beizutragen. Der wie beim Letzten Abendmahl sparsam bestückte Tisch lässt spüren, dass es auch beim gedächtnishaften Abend-Mahl im Familienkreis weniger um das Essen als vielmehr um die Anwesenheit, die Gemeinschaft und die gegenseitige Zuneigung und Hingabe geht.


Digitale Materialien für eine weitere Auseinandersetzung mit dem Kunstwerk:
> Das Kunstwerk auf der Website des Künstlers.
> Predigt von Pfr. Bodo Windolf (Fronleichnam 2011).
> Video und Diskussionsforum 1.
> Diskussionsforum 2.

Rose und Mensch

Ein rosarotes Feld mit schönen Schattierungen dominiert das Bild. Erst auf den zweiten Blick mag in den Formen und Schattierungen eine Rosenblüte sichtbar werden. Im Vergleich zum Stern neben ihr und den feineren Strukturen unter ihr schwebt sie – es sind kein Stiel und keine Blätter zu sehen – geradezu übergroß im Bildraum.

Dieser ist dem Stern nach und der Pyramide unter ihm im Außenraum anzusiedeln, im Bereich zwischen Himmel und Erde. Der gelbe Boden suggeriert im Zusammenhang mit der Pyramide zudem eine Wüste, die Neigung auf der rechten Seite die Wölbung der Erde.

Da, mitten drin, umgeben von lilafarbenen Spurenelementen, in der roten Farbe intensiver, aber dennoch mit der Rose darüber korrespondierend, eine liegende menschliche Gestalt. Ihre Größe ist schwer auszumachen. Im Vergleich zur Rose über ihm erscheint der Mensch klein und irgendwie auch einsam. In seiner roten Farbe erweckt er den Eindruck voller Leben, voller Liebe zu sein. Die Farbspuren um seinen Kopf lassen aber auch seine Verletzlichkeit spüren, vielleicht auch schon die seelische und körperliche Gewalt, die er später einmal erleiden muss.

Wer den lila Farbspuren nachgeht, wird um das Menschenkind herum zwei feine, gerade Linien entdecken. Erstaunlich: dieser Bildbereich scheint aufgeklebt, eine Collage, ein Ausschnitt aus einem anderen Bild zu sein. Ob die Künstlerin dem Betrachter damit sagen will, dass dieses Menschenkind seinen Ursprung an einem anderen Ort hat? Der Gedanke scheint nicht abwegig, denn über eine lila Farbspur im Stern ist direkt über dem Kind in der linken oberen Ecke des Bildes ein ähnliches Bildelement angesiedelt, allerdings mit einer organischeren Begrenzung. Es ist, als wäre der Himmel hier aufgerissen und der Ausschnitt darunter ganz klar dem Himmel zugehörig. Dadurch kann dem Kind eine göttliche Abstammung zugeschrieben werden. Der da allein in der weiten Wüste daliegt, nur von mysteriösen lila Farbspuren umgeben, muss Gottes Sohn sein. Der Stern über der Pyramide kündigt an: Gott selbst schenkt der Welt seinen Sohn. „Unweit“ der Pyramiden wurde er im Nahen Osten geboren.

Doch wieso mag die Künstlerin die Rose so groß gemalt haben? Worauf will sie mit ihr wohl hinweisen? Ob sie an das Weihnachtslied „Es ist ein Ros entsprungen“ aus dem 16. Jahrhundert erinnern will, in dem Jesus als die Rose besungen wird, als das „Blümlein“, das aus dem Rosenstock Maria hervorging und als dessen Wurzel Jesse gesehen wird? Im Vergleich mit dem Bildmotiv „Wurzel Jesse“ (z.B. Wikipedia) wird deutlich, dass die Künstlerin durchaus Bildelemente verwendet haben mag. Die liegende Gestalt könnte auch Jesse darstellen, über dem (und durch die im Bild unsichtbare Maria) die wunderbare Rosenblüte Jesu aufgeht. Sie ist größer als der Stern, der ihn angekündigt hat. Sie wächst von der Erde her dem Himmel zu, Gott und die Menschen wunderbar und neu miteinander verbindend.

Wenn aber in der Rose eine symbolische Darstellung von Jesus betrachtet wird, erhält auch die liegende Gestalt eine neue Bedeutung. Neben dem Jesuskind oder seinem Stammvater Jesse kann in ihr auch ganz einfach der Mensch in seiner Erbärmlichkeit und Hilfsbedürftigkeit gesehen werden. Was wir im Bild in einer kosmischen Schau zusammensehen, sieht der liegende (und damit aufschauende) Mensch sich über ihm entfalten. Im Symbol der Rose sehen wir, wie sich Gott durch Jesus in Liebe dem Menschen zuwendet, ihm machtvollen und doch sanften Beistand schenkt.

Strecken zum Licht

Ein alltäglicher Moment begegnet uns auf diesem Bild. Ein Mann streckt sich mit erhobenen Armen ganz weit nach hinten. Gerade scheint er die maximale Dehnung erreicht zu haben und in dieser Stellung zu verharren. Aus den geschlossenen Augen und dem nach hinten geneigten Kopf darf geschlossen werden, dass der Mann dieses Strecken mit jeder Faser seines Körpers genießt.

In Bezug auf den Raum oder die Zeit lässt der Bildausschnitt keine Aussage zu, wo sich dieser Mensch oder in welcher Tages- oder Jahreszeit er sich befindet. Mit einem Unterhemd bekleidet ist er einfach da, in der Bewegung seinen Körper erlebend und im Wechsel von Spannung und Entspannung ihm nachspürend. Gleichzeitig scheint er sich einem für uns unsichtbaren Licht zu öffnen, das von links her helle Stellen auf seiner gewölbten Brust und seinem Gesicht hinterlässt.

Auf der anderen Seite lässt sich hinter ihm ein dunkler Schatten an der Wand ausmachen, ein Schatten, bei dem nach einer gewissen Zeit die Form eines Kreuzes sichtbar wird. In diesem Zusammenspiel von Vorder- und Hintergrund scheint sich der Mann an das Kreuz zu lehnen und aus der Dunkelheit dieses Kreuzes heraus das Licht in sich aufzunehmen. Ja, wie er mit ausgebreiteten Armen vor dem Schatten eines Kreuzes steht, weckt er Assoziationen an den Gekreuzigten, aber auch an den im Morgengrauen Auferstandenen und sich nach dem Licht Ausstreckenden.

So lässt das Bild eine ganze Reihe von Ansichten und Interpretationen zu. Viele auf den ersten Blick unbedeutende Details lassen eine Motivtiefe entdecken, die weit über einen Mann beim Frühturnen oder bei der Morgengymnastik hinausgeht. In seinem Strecken und Dehnen ist genauso die Spannung des sich vom Schlaf erhebenden Körpers zu spüren wie jene des neuen Tages, dem er sich entgegenstreckt und dessen Licht und Frische er tief in sich einzuatmen scheint. In beiden ist etwas von der Auferstehung spürbar, die wir im Glauben am Ende unserer Tage erwarten. Insofern ist dieses frühmorgendliche Strecken Gebet mit Leib und Seele, körperlicher Ausdruck einer Geisteshaltung, die sich ganz auf das Licht ausrichtet. Es ist ein Einüben auf das letzte große Aufstehen und Strecken, das Auferstehen zum ewigen Leben.

Lebensträger

Sparsame Linien und Grautöne bringen die Oberfläche dieses Blattes leise zum Sprechen. Eine tiefe Ruhe liegt in zwei der angedeuteten Formen: dem menschlichen Kopf links und dem rechts neben, über und hinter ihm sich entfaltenden Rechteck, das durch die hauchzarte Lilatönung Weite andeutet und sich durch die auslaufende Farbe nach unten offen gibt. Seiner Darstellung nach ist der Kopf nach hinten geneigt. So ist er dem rechteckigen Feld zugewandt und erscheint in einem engen Austausch mit diesem Gegenüber, das durch seine Proportionen auch an ein Fenster oder eine Türe denken lässt, beides Raumöffnungen, durch die ein Austausch stattfindet zwischen Außen und Innen …

Kopf und Rechteck überlagernd und verbindend hat die Künstlerin als drittes Element langgezogene Kreise in die Komposition eingezeichnet. Ihre diagonale Anordnung auf Mundhöhe bringt Dynamik in die Komposition hinein. Damit wird eine intensive und lebendige Beziehung zwischen menschlichem Innen- und Außenraum suggeriert, wie sie etwa dem Atem zukommt. Aber auch dem Wort, dem Gedanken, der Empfindung …

Mit feinen Mitteln wird hier Existenzielles angesprochen. Der Mensch lebt nicht aus sich heraus, sondern im Austausch mit dem ihn umgebenden Licht, der Luft, der Wärme, dem Wasser, den Nahrungsmitteln, den umgebenden Menschen, ja der gesamten Natur. Diesbezüglich sind wir wie alle Geschöpfe abhängige Wesen, deren Leben sich auf einer sehr schmalen Basis bewegt. Wenn die Künstlerin der Arbeit den Titel “Das Wasser nimmt die Form des Wassers an“ gibt, schwingt etwas von dieser existenziellen Abhängigkeit mit. Im Gegensatz zum Aschekreuz am Aschermittwoch, das die Menschen zeichenhaft an ihre allzu gern verdrängte Vergänglichkeit erinnert, wird hier der Mensch als Lebensträger dargestellt, der zu dem wird, was er aus seiner Umgebung in sich aufnimmt. Beispielhaft wird durch die Künstlerin das Wasser angesprochen, das auch im Körper des Menschen seine Form beibehält. Und ebenso verändert und formt der Einzelne seine Umwelt, seine Mitmenschen.

Keine leichte Aufgabe. Die Unterscheidung zwischen dem, was gut tut, und dem, was uns schadet, ist beim undurchschaubaren Angebot schwer. Hat der angedeutete Mensch vielleicht deshalb den Kopf nach hinten geneigt, weil er sich erwartungs- und hoffnungsvoll Hilfe und Beistand erhofft?

Bedeutungsschwerer Dialog

Sie sind unschwer zu erkennen, die beiden menschlichen Gestalten. Auch wenn von ihnen nur die Umrisse und Flächen von Brust und Kopf gezeigt werden. Hell zeichnet sich ihre Silhouette vor dem dunklen Hintergrund mit einem Flächen und Raum füllenden Gewirr an Linien ab.

Begegnung. Nebeneinander abgebildet scheinen sich die beiden Personen doch zugewandt. Denn während bei der rechten Gestalt ganz schwach in grün-schwarzer Farbe Gesichtszüge wahrzunehmen sind, erweckt die linke Gestalt den Eindruck, von hinten bzw. von der Seite dargestellt zu sein und sich zur rechten Person hin zu drehen. Da ihre Körper nur mit wenig Farbe betont sind, erschiene ihre Begegnung farblos und leer, wenn sie nicht durch die vielen weißen Linien wie mit Kabeln verbunden wären.

Kommunikation wird sichtbar. Austausch in der ihrer Körpern eigenen Farbe und Sprache. Wie eine Aura umgeben diese unzähligen „Sprachrohre“ ihre Gestalten, vernetzen die beiden und füllen den dunklen Freiraum mit der den Körpern eigenen Art der Äußerung. Der Dialog verbindet und bildet ein sich stets verdichtendes Netz, das Halt und Sicherheit schenkt und den einen oder anderen im Fallen aufzufangen vermag.

Die Bedeutung des persönlichen Gesprächs wird in diesem Bild auf sehr schöne Weise sichtbar. Viele Worte können Verstrickungen sein, manchmal sind es der Worte zu viele, so dass man zu ersticken droht. Doch die liebevolle Zuwendung und Aufmerksamkeit ist allenthalben etwas Wunderbares und Stärkendes, das uns nicht ins dunkle Loch gleiten lässt, weil ein anderer da ist, der im dialogischen Ausloten die Veränderungen spürt und dadurch reagieren und aufzufangen vermag. Noch stehen beide Personen, noch sind sie im Lot. Aber einst wird ihnen das Gesprochene und miteinander Erlebte inneren Halt geben müssen, werden sie von den wertvollen Stunden der Vergangenheit zehren und ihren geistigen Lebensunterhalt damit bestreiten. – Vorsorge in den erfüllten Augenblicken begegnenden Seins, damit es in einsamen Stunden nicht so farblos und leer ist.

umsichtige Präsenz

Hart und scheinbar zusammenhanglos begegnen uns die drei hochformatigen Teile dieses Triptychons. Mit einer expressiven Farbgestaltung zieht vor allem die mittlere Paneele den Blick auf sich. Warme Braun- und Rottöne deuten den Leib einer menschlichen Gestalt an, von der nur der Kopf deutlich erkennbar ist. Strahlenförmig scheinen sie von einer dunkleren Mitte nach oben und nach unten zu gehen. Dabei bilden sie so etwas wie einen Schild und erwecken den Eindruck, als schaue der Kopf aus dem einzigen freien Winkel über diese „Farbwand“ hinaus in eine undefinierte Weite.

Die beiden Seitenteile sind als gegenstandslose, graublau-weißsilbrig schimmernde Flächen gestaltet. In der pastos aufgetragenen Farbe sind Kerbspuren feststellbar, oben mehr diagonal auslaufend, in der unteren Hälfte in Form von Augen.

Eine Verbindung zwischen Mittel- und Seitentafel ist auf den ersten Blick kaum wahrnehmbar. Doch über das Ganze gesehen lässt sich durch die Schattierungen eine leichte, diagonal nach rechts aufstrebende Struktur erkennen. Dadurch werden der nach links schauenden Gestalt gewissermaßen Flügel verliehen. Ob sie einen Engel darstellt? Einen Cherub wie in Ezechiel 1,4-21 oder aufgrund der roten Gestalt gar einen Seraphen, jenes himmlische Wesen, das von seiner brennenden oder entzündenden Eigenschaft geprägt ist und oft mit vielen Augen am Leib dargestellt wird?

Wie dem auch sei, geht etwas Behütendes und Beschützendes von dieser Gestalt aus. Zwischen kühlen Farben der beiden Seitentafeln vermittelt sie erdige Wärme und angenehme Gegenwart. Als farbiger Lichtblick taucht sie wie eine sinnlich wahrnehmbare Erscheinung aus einer anderen Welt vor unseren Augen auf, unnahbar entrückt und doch Zuversicht ausstrahlend. Aus der Mitte lebend, verändert und integriert sie die Umwelt, lässt sie zu Flügeln werden, die ihr die Schönheit eines Pfaus verleihen, der gerade sein Rad schlägt.

Von diesen Augen hat man nichts zu befürchten. Sie verweisen nicht auf die allgegenwärtigen Kameralinsen von „Big Brother“, sondern lassen viel mehr umsichtige Wachsamkeit des Dargestellten spüren, seine „gemittete“ Präsenz. Ob Bote des Himmels oder Sinnbild für uns – wer er auch sein mag – er ist ganz da, erfüllt von einer warmen, guten Kraft, die wohl tut und von der man sich gerne anstecken lässt. Mit seinen inneren und äußeren, sichtbaren und unsichtbaren Augen nimmt er seine Umgebung wahr und kann so umsichtig handeln, Gefahren ausweichen, zum richtigen Zeitpunkt das Richtige tun.

Identitätssuche

Ein seltsames Bild, eine geheimnisvolle Erscheinung: Ein kopfloser Mann steht uns mit verschränkten Armen gegenüber. Sein Unterleib ist nackt, sein Oberkörper mit einem eng anliegenden T-Shirt bedeckt. Das dornengekrönte Haupt von Jesus ziert die Brust dieses unbekannten Mannes. An der Stelle seines Kopfes befinden sich drei Ballons, die an seinem Glied befestigt sind und es in die Höhe ziehen.

Hilflosigkeit macht sich beim Betrachten dieser Arbeit breit. Was will der Künstler mit diesen ungereimten Darstellungen aussagen? Will er verwirren? Wieso hängt er die Ballone am männlichen Glied auf? Will er anstößig sein – oder gar dessen Potenzprobleme in den Vordergrund rücken? Und ist der bloßgestellte Intimbereich im Zusammenhang mit dem Gekreuzigten nicht völlig unangebracht, verletzt er damit nicht religiöses Empfinden? „Erklärende Begriffe wie absurd, merkwürdig, eigenartig, erotisch oder pervers tauchen genauso schnell auf wie sie auch wieder verschwinden …“(Dorothea Strauß).

Stephan Melzl sagt von seinen Bildern, dass sie am ehesten Aphorismen gleichen. Er bringt seine Gedanken also pointiert, von der üblichen Auffassung abweichend, ins Bild. Folglich müssen wir genau schauen und nachdenken, was die Bildsprache ausdrücken kann.

Seine Arbeit zeigt drei Bildebenen. Die untere stellt das Naturhaft-Menschliche dar, unverhüllt als Zeichen seiner fundamentalen Bedeutung. Die mittlere Ebene, das Herzstück der Gestalt, zeigt den Oberkörper mit dem T-Shirt in klaren Konturen und Farben. Und oben finden sich anstelle des Kopfes drei schwebende Luftballons, die mit Schnüren mit dem unteren Bereich verbunden sind.

Blickfang ist der mittlere Bereich. Das Jesusgesicht auf dem T-Shirt ist gleichsam eingebettet in die gekreuzten Unterarme. Das mit der Dornenkrone angedeutete Kreuzthema wird dadurch verstärkt. Das Gesicht ist zudem von einem auf der Spitze stehenden gelben Quadrat hinterfangen, das an einen Heiligenschein erinnert. Sein Licht scheint die obere Hälfte des Gesichts erhellend und verklärend zu durchdringen.

Als Kontrast zum menschlichen Gesicht darüber das kopfähnliche Gebilde der Luftballons, dreifach überhöht. Es ist, als wollten sie die Realität des Lebens verlassen und den Kopf mit seiner ratio ersetzen. „Mit uns sind Sie im Himmel zuhause“ verspricht eine Werbefirma für Luftballons. Schwereloses Glück und luftige Kinderträume werden mit Luftballons verbunden, permanent von der alles vernichtenden Zerstörung durch einen Nadelstich bedroht. Und wenn das Gas keinen Auftrieb mehr gibt, sinken und schrumpfen die Ballons … So könnten sie für kurzlebige, aber auftriebstarke Phantasien stehen, welche nicht nur heranwachsende Menschen so richtig kopflos werden lassen. Andererseits wird die Dreizahl, hier zudem noch schwebend, gerne mit dem Göttlichen oder gar der Dreifaltigkeit verbunden. Deshalb können die drei Luftballons mit ihrer dünnen Plastikhaut auch das ganz Andere, das Geistige, das Gewohnte Übersteigende, umhüllend und verhüllend darstellen.

Die Fragen bleiben: Um was geht es hier wirklich? Wer wird hier Schicht um Schicht dargestellt? Die Farben des T-Shirts und die Haltung des Mannes verweisen zum einen auf die Phantasiefigur Superman. Er möchte anscheinend groß dastehen, über sich hinauswachsen, doch noch sind seine Arme tatenlos verschränkt, abwartend, suchend. Zum andern nehmen auch Jesus und das, wofür er steht, im Leben dieses Mannes einen zentralen Platz ein. Hinzu kommen die luftigen, aber verborgenen Wünsche in seinem Kopf, die seinem Leben geheimnisvoll Auftrieb geben.

Dieser Mann scheint noch nicht zu wissen, was er will. Der verwirrende Eindruck, den das Bild bei uns Betrachtern hinterlässt, ist die Situation des Dargestellten. Als Suchender ist er ob der vielen Vorbilder und Möglichkeiten verwirrt und tut er sich mit der eigenen Identitätsfindung schwer. So sehr die Gedanken an seine Träume ihm Glücksmomente zu bescheren scheinen wie bei sexueller Erregung, ist er auf der Suche nach seinen Potenzialen, nach seinen schöpferischen und identitätsbildenden Kräften.

Dieser Eindruck wird durch die Hintergrundgestaltung verdichtet. Eine mandelförmige Lichterscheinung umgibt geheimnisvoll die Gestalt des jungen Mannes. So eine Gloriole oder Aura findet sich vor allem bei Christusdarstellungen, bei denen es u. a. darum geht, seine Herkunft und die Würdigung seines Lebenswerkes zum Ausdruck zu bringen. Mit der umfassenden Lichterscheinung auf dem Bild kann also eine göttliche Schaffenskraft angedeutet sein, die der junge Mann hinter sich spürt. So wie sein Unterkörper in ein magisches Licht getaucht ist, scheint diese Energie ihn zu erfüllen und seine Schöpferkraft zum Finden der ganz eigenen Fähigkeiten seiner Persönlichkeit zu wecken.

Glaubensfrage

Der erste Blick auf das Bild mag verwirren. Das Auge sucht nach Halt und irrt doch vielmehr in der Vielfalt von Strichen und unbekannten Formen wie in einem Labyrinth umher.

Im Großen und Ganzen erscheint das Bild hell und freundlich. Der weiße, leicht ins Gelbliche changierende Hintergrund deutet einen undefinierten Raum an und lässt den einzelnen Formen und Gestalten viel Platz und Bewegungsfreiheit. Mal stärker, mal schwächer durchziehen die roten und blauen Linien die Bildfläche, keine Tiefe oder Perspektive gebend, die einzelnen Elemente wie Adern verbindend und zu einem Ganzen zusammenfügend, ihm aber auch ein fragiles Erscheinungsbild verleihend.

Unter den beiden kräftig blauen Farbeinbrüchen am oberen Bildrand erscheint – auch durch die sich gegen den „ transzendenten Himmel“ abzeichnende Silhouette – das Liniengewirr wie eine großer Organismus. Sein „Herzstück“ ist ein klar umschriebenes Gebilde, das mit seinen dicken Begrenzungen Festigkeit und Unumstößlichkeit vermittelt. Man kann diese Form als Gebäude sehen und mit Berücksichtigung des angedeuteten Turmes auch als Kirche. Das himmlische Blau scheint wie ein Segen einen Teil des Daches zu bilden. Anstelle aber beide Gebäudeteile zu bedecken, ragt es seitlich weit über das Kirchengebäude hinaus, um einem kleinen Haus und weiter unten auch menschlichen Gestalten Schutz zu geben. Das stimmt nachdenklich … Andererseits kann die Bildmitte auch als aufgeschlagenes Buch gesehen werden. Seine Größe und Position geben ihm eine zentrale Bedeutung, die vielen kleinen weißen Rechtecke, die wie verkleinerte Seiten oder „Flugblätter“ durch das Bild flattern und an manchen Stellen haften, vermitteln den Eindruck, dass sein Inhalt für alle wichtig ist,

Rund um diesen Mittelpunkt herum ist ein vielfältiges Leben zu beobachten. Vor allem im unteren Bildabschnitt sind mehrere menschliche Gestalten und ihre mögliche Beziehung zur Mitte angedeutet. Links außen begegnen wir zwei eher “stacheligen” Gestalten, von denen sich eine abkehrt, die andere dem zentralen Objekt zuwendet. Daneben sitzt ebenerdig eine junge Frau in einen Text versunken vor einem stelenartigen Gebilde, das ebenso einen Menschen mit erhobenen Armen darstellen könnte. Von hinten scheint sie das Böse mit ausgestrecktem Bein treten zu wollen. Das Böse, weil anstelle eines Oberkörpers ein Dreizack den Eindruck der Bosheit verstärkt. Ganz rechts steht einer mit ausgestrecktem Arm da. Er scheint gebunden oder gefesselt zu sein. So könnte er einen Verletzten oder Kranken darstellen, der wieder aufstehen kann und nun dankbar auf seine Kraftquelle hinweist, sie vielleicht sogar zu berühren versucht.

Ob die verschiedenen Gestalten stellvertretend für uns stehen, die wir jeder anders mit einer unumstößlichen Wahrheit in unserer Mitte umgehen? Wird in diesem Bild nicht unsere Lebenssituation dargestellt? Unsere Existenz in einer vielfach verwirrenden Welt, in der wir uns zurechtfinden müssen und nach Ordnung suchen?

Jeder, der bewusst lebt, sucht sich einen Platz, der seinem Wesen und seinen Möglichkeiten entspricht. Er muss sich fragen, wie er sein Umfeld wahrnimmt und wie er wahrgenommen wird, ob er auch verwirrte Dinge lösen und ihnen einordnend einen Sinn abgewinnen kann. Er muss im Wahrgenommenen seine Wahrheit herausspüren oder -hören, das, was ihm wichtig, was ihm Lebensmitte und Kraftquelle ist. Letztlich geht es um das oder den, woran zu glauben sich lohnt auf der Suche nach Orientierung, Ordnung und Halt in dieser verwirrenden Welt. Die im zentralen Gebäude angedeutete Gemeinschaft, die im aufgeschlagenen Buch signalisierte Frohbotschaft stellen zwei Angebote dar, in denen Antworten auf Glaubensfragen gefunden werden können.

Erwartung

Fast unendlich viele Tonschalen stehen vor uns auf dem Boden. Schalen, die meist als Einzelstücke in der Küche und auf dem Esszimmertisch verwendet oder in einer Vitrine präsentiert werden, wurden nicht einzeln, sondern in einer auf einen Blick unfassbaren Anzahl auf den Boden gestellt. Eine, und noch eine, und noch eine und noch eine … 1111!

Jede Schale hat eine individuelle Gestalt, eine etwas andere Form als diejenige neben ihr. Einzelanfertigungen! Die Hände der Töpferin sind noch an ihnen zu spüren, wie sie aus der Mitte des Tonklumpens heraus den Boden weiten, die Seiten hochziehen und den Rand fertigen – ein Gefäß entstehen lassen. Die Glasur verlieh dann jeder Schale eine eigene Farbe sowie eine matte oder eine glänzende Oberfläche, das Brennen im Ofen Beständigkeit, Widerstandskraft und Undurchlässigkeit.

So stehen sie in schlichter Schönheit nebeneinander. Keine Schale ist mehr, keine ist weniger. Jede besitzt ihre ganz eigene „Größe“. Diese setzt sich nach außen aus dem Abstand, aus dem respektvollen Zwischenraum zu den anderen Schalen, nach innen aus der Offenheit nach oben und der ihr innewohnenden Leere zusammen.

Sie harren alle ihrer Bestimmung, etwas in sich aufzunehmen, zu halten, zu vermitteln oder zu bewahren. Sie alle sind bereit zu empfangen. Sie stehen offen und leer hier, damit sie gefüllt werden, damit ihre Erwartung erfüllt wird. Dadurch kann man den Schalen bis auf den Grund sehen, ihre innerste Mitte betrachten, aus der heraus sie entstanden sind.

Symbolisch können diese Schalen für uns Menschen stehen. Wunderbar sind wir als einander ähnliche und doch individuelle Geschöpfe geschaffen worden und besitzen eine schwer definierbare und dadurch geheimnisvolle Offenheit für alles, was uns erfüllen könnte. Wir haben die Fähigkeit, unendlich viele Erfahrungen und viel Wissen in uns aufzunehmen und in unseren Wohnungen und Ländern unendlich viele materielle „Kostbarkeiten“ zu sammeln. Wir ziehen manchmal so viel an uns, dass vor lauter Materialien und Aktivitäten kaum mehr Raum und Zeit für etwas Neues übrig bleibt.

Insofern stellen die Schalen so etwas wie ein Urbild von uns dar, ein Ideal, das wir in uns spüren und allein doch nicht erreichen können. Sie bringen indirekt eine Sehnsucht zum Ausdruck, dass jemand zu uns kommt, der uns von der selbstverursachten Überfülle zu entlasten und zu befreien vermag, damit bei uns wie bei diesen Schalen unsere Mitte wieder sichtbar wird: Die Handspuren unseres Schöpfers, den Fingerabdruck Gottes, der uns eine einzigartige Schönheit und Würde ins Leben gegeben hat.

Dass diese Schönheit und Würde äußerst anfällig sind, führen uns die auf den Boden des Alltags gestellten Tongefäße vor Augen. Es braucht nicht viel, vielleicht nur einen gedankenlosen Fußtritt, um sie zu zerschlagen. So lehren uns die Schalen auch Achtsamkeit und Sorgfalt, damit wir mit den Mitmenschen um uns herum noch achtsamer und sorgfältiger umgehen als mit einzigartigen Kunstwerken!

Die 1111 Schalen waren im Herbst 2016 / Januar 2007 in der Rotunde der Pinakothek der Moderne in München ausgestellt. Dazu war im Verlag Hatje Cantz ein bildstarker schöner Katalog erschienen: Young-Jae Lee, 1111 Schalen. ISBN 3-7757-1852-4